Weizen macht dick und dumm, süchtig und krank. Das behaupten zwei amerikanische Wissenschaftler, deren Bücher Millionen-Auflagen in den USA und Europa erreichen.
Autorin: Ingrid Zehnder, 4.16
«Weizen ist der Teufel», sagt der Kardiologe Dr. William Davis. «Weizen ist das grösste Übel der Welt», diagnostiziert der Neurologe und Ernährungsmediziner Dr. David Perlmutter.
Davis behauptet in seinem Buch «Weizenwampe», dass Weizen dick mache, Alterungsprozesse fördere und Krankheiten wie Asthma, Diabetes, Arthrose, Multiple Sklerose oder Schizophrenie verursache. Zudem mache das Getreide süchtig, es halte «uns ähnlich in den Klauen wie das Heroin den verzweifelten Junkie».
In ein ähnliches Horn bläst Dr. Perlmutter in seinem Buch «Dumm wie Brot – wie Weizen schleichend Ihr Gehirn zerstört». Hier wird die These aufgestellt, Weizen, «das Killerkorn», führe zu einer ganzen Liste von Krankheitsbildern: von Libidoverlust, Adipositas, ADHS über Diabetes bis zum Tourette-Syndrom sowie zu Demenz, Alzheimer und Epilepsie. Nur der völlige Verzicht auf glutenhaltige Getreideprodukte – ob aus Weizen, Dinkel, Roggen oder Gerste, ob als Brot, Pasta, Pizza, Frühstücksflocken, Müesli oder Babybrei, selbst als Vollkornprodukte – schütze vor Übergewicht, Krankheiten und Gehirnschäden.
Und wie das immer so ist, wenn ein Thema Auflage verspricht, sind die Nachahmer nicht weit – beispielweise der Gesundheitsberater Jules Venesson mit dem Buch «Wie der Weizen uns vergiftet» oder Dr. Ulrich Strunz mit dem Titel «Warum macht die Nudel dumm?» Die Frage ist, kann man diesen Behauptungen, die angeblich wissenschaftlich belegt sind, trauen?
Ist eines unserer Grundnahrungsmittel tatsächlich unser aller Feind Nr. 1?
Weizen enthält Kohlenhydrate und kommt in zahllosen Lebensmitteln vor. Dr. Perlmutter behauptet: «Kohlenhydrate … beeinträchtigen auch ohne weitere Faktoren die Hirngesundheit.» Seine These vom hirnschädigenden Weizen beruht auf einer Mischung aus bekannten Fakten, falschen Schlussfolgerungen und Allgemeinplätzen.
Das Gehirn braucht Energie. Die bezieht es vorzugsweise aus komplexen Kohlenhydraten (z.B. Vollkorngetreide), die im Körper, als Glukogen gespeichert, längerfristig zur Verfügung stehen. So bleibt der Blutzuckerspiegel konstant und verhindert Leistungsabfall und Konzentrationsschwäche.
Dass zu viele Kohlenhydrate dick machen, ist eine Binsenweisheit. Ob zuviel Brot, Nudeln oder Kuchen – bei mangelnder Bewegung droht Übergewicht. Tatsächlich ist starkes Übergewicht und insbesondere übermässiges Bauchfett ein Risikofaktor für Diabetes. Schon länger ist in der Medizin bekannt, dass ältere Menschen mit Typ 2-Diabetes bzw. hohen Blutzuckerwerten ein deutlich höheres Risiko für eine Demenz, besonders Alzheimer, haben als Nicht-Diabetiker. Dr. Perlmutter verkauft diese Tatsache so reisserisch wie verallgemeinernd. Seine Folgerung, auch bei gesunden Menschen jeden Alters führe der Verzehr von Kohlenhydraten, die der Körper in Zucker umwandelt, zum geistigen Verfall, lässt sich nicht belegen. Selbst der Autor der als «Beweis» zitierten Studie, Dr. Paul Crane von der University of Washington in Seattle, stellt richtig: «Die Daten belegen nicht, dass man sein Demenzrisiko mindert, wenn man seinen Blutzuckerspiegel durch eine veränderte Ernährung senkt.»
«Die Zeit» spricht von einem «haarsträubenden Durcheinander», die «Süddeutsche Zeitung» von «Irrungen und Wirrungen» in Perlmutters Beweisführung, der Berliner «Tagesspiegel» von «umstrittenen Studien», und der österreichische «Standard» meint, man solle sich «vor dem Buch besser in Acht nehmen».
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Menschen, die an Zöliakie erkrankt sind, müssen Gluten lebenslang gänzlich meiden. Von der ernsten Krankeit ist knapp ein Prozent der Bevölkerung betroffen. Neuere Untersuchungen zeigen, dass einige Menschen, die bereits an chronischen Entzündungen erkrankt sind, empfindlich auf Gluten reagieren ohne an Zöliakie zu leiden.
Gluten steckt nicht nur in Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Dinkel und Grünkern. In der Nahrungsmittelindustrie wird es gerne als Bindemittel und Geschmacksträger verwendet und kann in so verschiedenen Lebensmitteln wie Wurst, Ketchup, Saucen, Pudding, Fruchtjoghurt, Bonbons oder Malzbier stecken.
Angeheizt von pseudowissenschaftlichen Ernährungsratgebern, unterstützt durch einige Sportler- und Prominenten-Bücher, irritiert durch zweifelhafte Bluttests und befeuert durch Lebensmittel-Marketings versorgen sich jedoch immer mehr Menschen, die gar keine Probleme mit der Glutenverträglichkeit haben, mit glutenfreien Produkten, weil sie glauben, der Verzicht sei gut für ihre Gesundheit. Das Gegenteil ist richtig: Nicht nur bringt der Verzicht keine Vorteile, sondern oft ein Mehr an
chemischen Bestandteilen als Glutenersatz.
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Geht es nach den Anti-Weizen-Propagandisten, ist eine strikt glutenfreie, kohlenhydratarme, aber dafür fettreiche Ernährung geeignet, ohne Störungen der Hirnfunktionen davonzukommen. Auch grössere Mengen Kohlenhydrate aus Gemüse und süssem Obst seien kritisch zu sehen.
In einem Interview mit seinem amerikanischen Verlag sagte Dr. Perlmutter: «Für die Gesundheit insgesamt und einen möglichst guten Schutz vor Herz-, Hirn- und Krebserkrankungen sollte man sich sehr kohlenhydratarm ernähren und zugleich reichlich gesundes Fett zu sich nehmen … Ich konzentriere mich auf oberirdisch gewachsenes Gemüse in allen Farben, Fisch aus Wildfang, Nüsse, Samen, Kerne, Eier von frei laufenden Hühnern, gelegentlich ein Stück Fleisch von einem Tier aus Weidehaltung und reichlich Pflanzenfett aus Oliven, Avocados und Kokos. Kaffee ist natürlich auch erlaubt.» Wie auf diese Weise die Ernährung von Emma und Otto Normalverbraucher samt Nachwuchs funktionieren kann, ist nicht nur mir einigermassen schleierhaft.
(Vielleicht bin ich aber zu dumm dazu, denn ich esse Brot und Nudeln. Bin aber weder dick noch zuckerkrank.)
Lange Zeit galt die von den Anti-Weizen-Gurus empfohlene fettreiche Nahrung («Fett ist Hirnnahrung») nicht nur als Dickmacher, sondern auch durch das enthaltene Cholesterin als gesundheitsgefährdend. Demgegenüber behaupten die amerikanischen Autoren, wer Cholesterin senke, riskiere «Hirnerweichung». Dabei ist der Zusammenhang zwischen Cholesterinwerten und Arteriosklerose beziehungsweise Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko hinlänglich erwiesen.
Fleisch und Wurst, Zucker und Salz, Fett und Milch, Cholesterin, Laktose, Glutamat und Gentechnik stehen schon auf der schwarzen Ernährungsliste. Nun also auch der Weizen. Marktstrategen haben schon weitere Felder im Blick, z.B. Eiweissdiäten, und zwar nicht nur für Leber- und Nierenkranke.
Wer sich ohne Weizen und Gluten besser fühlt, der soll darauf verzichten, egal, ob er eine Allergie oder Unverträglichkeit hat. Gesunde sollten sich fragen, ob sie nur einer Modeerscheinung auf den Leim gehen. Wer nicht dick werden oder abnehmen und seinem Körper etwas Gutes tun möchte, der reduziert Kohlenhydrate im Allgemeinen und lässt Fertigprodukte und Fast Food weg – das ist keine neue wissenschaftliche Erkenntnis.
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