Der ständige Kampf mit dem Gewicht scheint eine aussichtslose Sache, wenn man sich allein auf den Zeiger der Waage und die zu enge Kleidung konzentriert. Diäten bringen nicht das, was wir uns wünschen, Gelüste lauern uns auf, und wir fühlen uns als Versager, wenn nach einer Abnahme wieder die Zunahme folgt.
Über Übergewicht und seine seelischen Ursachen sprach Christine Weiner in Mannheim mit Dr. Doris Wolf, Psychotherapeutin in freier Praxis. Ihre Erfahrungen in der Arbeit mit Übergewichtigen sammelte sie in den USA und in Deutschland in zahlreichen «Gewichtsgruppen» und in einzeltherapeutischer Arbeit.
Interview: Christine Weiner
A.Vogel Gesundheits-Nachrichten (GN): Nur eine von 200 Personen erreicht bei einer Diät, was sie möchte: Dauerhaft abnehmen. Wieso machen wir das überhaupt mit? Warum wirken Diäten nicht?
Dr. Wolf: Weil Diäten an sich eine völlig unsinnige Konstruktion sind, da kein Mensch auf Dauer Diät halten will! Ausgangspunkt einer jeden Diät ist die Vorstellung, sie einen Monat oder zwei durchzuhalten, immer in der Hoffnung, das erwünschte Gewicht zu erreichen und danach nicht mehr zuzunehmen. Diäten können im Grunde aber nur dann halten, was wir von ihnen erhoffen, wenn sie dauerhaft eingesetzt werden. Zudem ist die allgemeine Diätmentalität eine völlig falsche, denn sie lautet: ‹Ich muss jetzt per Dekret entscheiden, was ich essen darf und was nicht. Es gibt gute und schlechte Lebensmittel und nur wenn ich die guten Lebensmittel zu mir nehme, egal, ob sie mir schmecken oder nicht, nehme ich ab›.
GN: Sie behaupten, die Ursache für das Übergewicht seien nicht die Nahrungsmittel?
Dr. Wolf: Nein, das sind sie auch nicht. Es sind die Einstellungen die hinter den Lebensmitteln stehen. Die Phantasien, die man mit den einzelnen Lebensmitteln in Verbindung bringt, und die dann zu einem völlig falschen Essverhalten führen. Nicht die Nahrungsmittel selbst, sondern das Verhalten, das aus unseren Einstellungen resultiert, führt zwangsläufig zu Übergewicht.
GN: So gesehen, kann man selbst von Karotten dick werden?
Dr. Wolf: Genau! Und zwar dann, wenn man sie nicht aus Hunger isst, sondern weil man mit ihnen seelische Probleme kurieren möchte. Isst man aus Langeweile, innerer Unruhe oder weil man Ärger oder Liebeskummer hat, dann isst man zu einem Moment, in dem man eigentlich gar kein Essen braucht, sondern viel mehr eine Lösungsstrategie.
GN: Wenn man eine Diät plant, wird nicht selten zuvor noch einmal richtig Speck angefuttert. Wieso das?
Dr. Wolf: Dahinter steckt der Gedanke: ‹Ab morgen darf ich nicht, also esse ich heute noch mal richtig tüchtig, denn es ist ja die letzte Chance›. Ursache für dieses an sich kontraproduktive Verhalten ist die Tatsache, dass eine Diät so etwas wie ein Verbot ist. Wenn man sich aber irgendetwas verbietet, kommt dies einer Strafe gleich. Der Mensch möchte sich aber weder selbst bestrafen noch bestraft werden. Also trachtet er danach, sich vorab noch einmal so etwas wie eine Belohnung zu gönnen. Die findet in diesem Fall dann in der Form von Essen statt.
GN: Es heisst, dass besonders die konfliktreichen Situationen uns zum Essen verführen.
Dr. Wolf: Nicht die Situationen selbst verführen! Sondern: Wenn wir in der Vergangenheit gelernt haben, Probleme oder andere konfliktgeladene Situationen mittels Essen zu lösen, ist unser Essverhalten problematisch.
GN: Warum tröstet Essen eigentlich so gut?
Dr. Wolf: Das fängt schon in der Kindheit an. Viele Eltern wollen ihre Kinder ruhig stellen oder trösten oder für gute Schulnoten belohnen – sie tun das meistens mit Süssigkeiten, oder süssen Lebensmitteln. Viele Menschen lernen also von klein auf, sich mit Süssigkeiten zu motivieren oder zu verwöhnen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Mensch schon von Geburt an eine gewisse Vorliebe für Süssigkeiten hat. Der Organismus erlebt Süssigkeiten als etwas Belohnendes.
GN: Wir könnten uns doch, erwachsen geworden, von diesen angelernten Belohnungsmöglichkeiten verabschieden. Von anderen angelernten Verhaltensweisen lösen wir uns ja auch.
Dr. Wolf: Das könnte man, und das kann man auch. Das Problem liegt darin, daß wir in unserem Körper diese Gewohnheiten gespeichert haben. Wenn ich nun also streng mit mir umgehe und sage ‹Ab heute bekommst du keine Schokolade mehr, wenn du ärgerlich bist!› wird in der nächsten ärgerlichen Situation der Körper genau nach diesem Süssen, der Schokolade, verlangen. Nun habe ich das Problem, dass ich mir zwar per Kopf ‹Halt, stopp, das will ich ja nicht essen!› gesagt habe, mein Körper jedoch antwortet: ‹Ich brauche das aber, sonst halte ich es nicht aus!› Man muss nun lernen, mit diesem körperlichen Verlangen umzugehen. Das ist die eigentliche Schwierigkeit. Hinzu kommt, dass man sich in diesem Moment zusehends mehr mit einem Lebensmittel, hier Schokolade, beschäftigt. Ich habe das immer wieder bei meinen Klienten erlebt. Sie sagen: ‹Ich will keine Schokolade mehr›, und registrieren, kaum sind sie wieder auf der Strasse, überall Schokoladenwerbung oder ihnen fallen an jeder Ecke Kinder auf, die Schokolade naschen. Sie sind quasi sensibilisiert auf diese Reize. Je mehr ein Mensch sich aber in seinen Gedanken und Phantasien mit diesen Bildern beschäftigt, desto häufiger stellt sich auch das Verlangen bei ihm ein und desto schwieriger wird es, dagegen anzuhalten.
GN: Und um so mehr kann ich mich meinen Gedanken rund um das Essen widmen und brauche meine Probleme nicht anzugehen. Also eine Art Verdrängung?
Dr. Wolf: Die Probleme werden von diesen Gedanken überlagert. Aber dies ist keine bewusste Strategie, sondern eine unbewusste.
GN: Wenn Sie Klienten therapieren, muss es doch einerseits darum gehen zu lernen, auf Konflikte aufmerksam zu werden, und andererseits auch darum, den Mut zu finden, Lösungen zu suchen und diese auch anzuwenden. Und das gleichzeitig mit dem «Entzug». Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Dr. Wolf: Es handelt sich in der Tat um zwei Ebenen. Die eine setzt bei dem konkreten Essverhalten und dem neuen Umgang mit dem körperlichen Verlangen an. Die andere ist zu untersuchen, wie man generell mit Konflikten umgehe. Wie und ob man überhaupt Gefühle spürt. Es gibt Menschen, die spüren weder Ärger noch Einsamkeit, sondern nur noch das Verlangen, etwas zu essen. Wenn es sich so verhält, muss das Gespür wieder neu erlernt und geklärt werden, was man wirklich braucht, um sich gut zu fühlen.
GN: Wie lernt man Hunger von Appetit zu unterscheiden?
Dr. Wolf: Das ist nicht ganz einfach, aber es gibt da eine Regel: Eine Portion, etwa so gross wie eine geballte Faust, ist genau die Menge, die der Körper braucht, um satt zu werden. Oder wenn ich das esse, das ich am allerwenigsten mag, dann habe ich ebenfalls Hunger. Je wählerischer man wird, desto stärker tendiert das Gefühl hin zur Lust. Lust ist etwas ganz anderes als Hunger, aber viele übergewichtige Menschen können das nicht unterscheiden. Manche essen sogar vorsorglich, wenn sie vermuten, dass in den nächsten Stunden keine Zeit oder Möglichkeit zur Nahrungsaufnahme besteht. Auf diese Weise kann man sich schnell den ganzen Tag mit Essen und seinem Körper beschäftigen. Je mehr man das aber macht, desto häufiger und stärker wird das Verlangen nach Essen.
GN: Menschen, die Diäten machen, fühlen sich häufig als zu kurz gekommen?
Dr. Wolf: Weil man sich bei Diäten sehr viel verbieten muss. Wir haben alles im Überfluss, und plötzlich darf man aufgrund einer Diät das eine oder andere nicht mehr zu sich nehmen! Dieses Verbieten ist etwas, was den Menschen rebellisch macht. Hinzu kommt, dass viele Übergewichtige oft das Gefühl haben, leer zu sein, nichts vom Leben zu haben, nicht genügend Freunde oder sie können sich selbst nicht akzeptieren. Oft findet man die Einstellung: Wenn ich schon sonst im Leben nichts abbekomme, dann will ich wenigstens das einzige behalten, was mir gut tut – Essen.
GN: Wo setzen Sie in der Therapiearbeit an?
Dr. Wolf: In zwei Bereichen. Erst einmal beim konkreten Essverhalten. Dann müssen Übergewichtige aber auch lernen – so paradox es auch klingen mag – sich selbst anzunehmen und zwar so, wie sie im Augenblick sind. Sie lernen zu sagen: ‹Ich bin so. Ich habe die und die Qualitäten und ein Teil von mir ist, das meine körperliche Hülle XY Kilo schwer ist. Das bin ich und dazu stehe ich. Mit all meinen Fähigkeiten und Stärken›. Es darf nicht heissen: ‹Ich hasse mich, so wie ich aussehe, finde ich mich schrecklich, ich verurteile mich›. Dieses Sich-hassen-und-ablehnen ist nämlich automatisch schon wieder ein Auslöser, etwas zu essen, um sich zu trösten.
GN: Es gibt fünf verschiedene Phasen des Umlernens, welche davon ist denn die kritischste?
Dr. Wolf: Die erste Phase ist ja eine rein logische: ‹Ich schade mir mit diesem Essverhalten, und ich entscheide mich, mein ganzes Essverhalten und mein Leben umzustellen›. Das ist eine Einsicht, die im Kopf stattfindet und die relativ schnell vonstatten gehen kann. Das bedeutet aber auch, dass ich im Alltag konkret festlegen muss, wo, wann und wie ich etwas ändern möchte. Die zweite Phase heisst: umsetzen und üben. An diesem Punkt kommen wir zur dritten Phase. Ich habe die Einsicht im Kopf, aber mein Körper sagt nicht: ‹Toll, gross-artige Sache, ab heute habe ich kein Verlangen und keine Lust mehr!› sondern mein Körper gibt mir weiterhin die Signale: ‹Ich brauche das, sonst sterbe ich vor Verlangen.› Das bedeutet, dass ich in dem Moment, wo ich sonst immer gelernt habe, auf meinen Körper zu hören, jetzt meinen Körper mit seinen Signalen missachten muss. Und genau das ist die grosse Schwierigkeit, denn ich glaube ja, dass ich meinem Körper etwas wegnehme, ihm schade. Ausserdem sind da auch noch die Rituale! Nehmen Sie einmal an, Sie hätten sich jeden Nachmittag für eine kleine Pause in Ruhe hingesetzt, einen Tee getrunken und dazu ein Stück Kuchen gegessen. Nun möchte Sie den Tee gerne beibehalten, aber keinen Kuchen mehr dazu essen. Wenn das geschieht, meldet der Körper: ‹Ohne Kuchen schmeckt der Tee nicht. Da fehlt was. Und überhaupt, das Schönste vom ganzen Tag war gerade diese Pause, mit Tee und Gebäck!› Um aus dieser Schleife herauszukommen, muss man die Meldung umdeuten. Man muß sich klar machen, dass es sich nur um eine Gewohnheit handelt. Dem Verlangen muss etwas anderes entgegengesetzt werden. Was will ich für ein Gefühl haben, wenn ich jetzt bei meinem Tee sitze? Ich will stolz auf mich sein, mich daran erfreuen, dass mein Körper auf dem Weg zu mehr Gesundheit und Kraft ist. Das ist die Schwierigkeit: Im Kopf ist alles klar und bewusst, aber das Gefühl spielt noch nicht mit. Das kommt aber mit der Zeit.
GN: Wieviel Zeit benötigt das Gefühl, bis es nachgezogen hat?
Dr. Wolf: Man rechnet im Schnitt mit vier Wochen. Aber die Menschen, die umlernen, glauben oft nicht daran, dass es so schnell geht.
GN: Wie schaltet man die Widerstände im eigenen Kopf am besten aus?
Dr. Wolf: Zunächst muss man erst einmal feststellen, um was für Widerstände es sich handelt. Das Gewichtsproblem ist oft nicht das einzige Problem. Häufig wird das Schlanksein, die veränderte Körperform, unbewußt auch mit «Gefahr» verbunden. Eine schlanke Figur könnte mehr Anforderungen bedeuten, denn es sind weniger Entschuldigungen möglich. Oder man muss sich mit seiner Sexualität neu auseinandersetzen. Um was genau es sich handelt,wird im Einzelfall erarbeitet. Zum Beispiel durch Phantasieübungen wie: ‹Stellen Sie sich vor, wie ein Tag mit Ihrem Wunsch- oder Idealgewicht, mit Ihrem Traumkörper aussieht. Was passiert da so alles.› Manchmal treten dann schon die ersten Einwände auf, die bewusst gemacht werden müssen, denn erst wenn sie richtig bewusst sind, kann man Strategien dagegen entwickeln. Der schlanke Körper muss mit positiven Gefühlen verknüpft sein. Bei den herkömmlichen Diäten bleiben solche Prozesse aussen vor, werden vergessen. Das ist auch ein Grund, warum sie nicht funktionieren.
GN: Kann man das mit einem Buch alleine schaffen?
Dr. Wolf: Das hängt von ab, wie weit man schon mit sich selbst gearbeitet hat und wieviel Durchhaltevermögen vorhanden ist. Ich denke, es ist einfacher in einer Gruppe oder mit einer therapeutischen Begleitung. Vergessen wir nicht: Wenn Gewicht und Essen nicht mehr die zentrale Rolle im Leben spielen, dann handelt sich um ein komplexes Gebiet, aus dessen Verarbeitung viele Veränderungen resultieren.
GN: Ihr Buch ist also eher Unterstützung, oder Begleitung?
Dr. Wolf: Es ist ein Einstieg, eine Motivation, etwa in die Richtung: ‹Ich kann etwas machen und verändern›. Schön ist es, sich dann noch Unterstützung zu holen.
GN: Wie gehe ich mit einem Rückfall um?
Dr. Wolf: Ich bereite meine Klienten immer auf den Rückfall vor. Wir Menschen sind nicht so konsequent. Mal ist das Ziel mehr vor Augen, mal weniger. Es kann also passieren, daß man in das alte Muster zurückfällt. Bereitet man sich darauf vor und gibt sich auch die Erlaubnis dazu, hat man auch die Chance, wieder neu einzusteigen. Was ich vor dem Rückfall an Veränderungen angefangen habe, das ist ja nicht verloren, daran kann man anknüpfen.
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