Dass über 60-Jährige im Fitness-Studio schwitzen, an Marathons oder Leichtathletik-Wettbewerben teilnehmen, ist keine Seltenheit mehr. Woher kommt die neue Lust am Leistungssport? Und ist das überhaupt noch gesund?
Autor: Tino Richter, 05.14
Im Januar 2014 stellte der 102-jährige Franzose Robert Merchand mit fast 27 Kilometern einen neuen Stundenweltrekord im Bahnradfahren in seiner Altersklasse auf. Im gleichen Alter befindet sich der älteste Ex-Marathonläufer der Welt, Fauja Singh. Er benötigte als erster Hundertjähriger knapp achteinhalb Stunden für die Strecke, und das, obwohl er erst mit 89 Jahren seinen ersten Marathon gelaufen war.
Merchand und Singh sind Ausnahmeerscheinungen, doch sie zeigen, dass sportliche Leistung nicht primär eine Frage des Alters ist. Die steigende Zahl der über 50-Jährigen, die bei Wüstenrennen, Triathlons und Leichtathletik-Veranstaltungen an den Start gehen, beweist es. Die Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften mit jährlich rund 3000 Teilnehmern führen beispielsweise ab 2014 eine Altersklasse für über 90-Jährige ein, der Weltradsportverband hat nach Merchands erstem Sieg 2012 die Wertungen um die Kategorie «+100» ergänzt.
Weltweit boomen Sportveranstaltungen, an denen sich Senioren in verschiedenen Disziplinen messen. Entweder nach Alterskategorien getrennt oder, wie meist bei den über 80-Jährigen, aus Mangel an Konkurrenten auch vereint. Wissenschaftler sind sich jedenfalls einig: Die Generation der über 60-Jährigen ist so fit wie nie.
Sportliche Betätigung hilft bekanntermassen nicht nur der schlanken Linie, sondern dient auch zur Vorbeugung von Herzerkrankungen, Brust- und Darmkrebs sowie Diabetes. Forscher der London School of Economics sowie der Stanford University haben klinische Daten von 300 000 Menschen auf den Zusammenhang von Sport und Sterblichkeit hin untersucht. Das Ergebnis: Sport kann im Frühstadium von Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen genauso gut schützen wie gängige Medikamente.
Sport sorgt für eine Verringerung erhöhter Blutfett- und Blutzuckerwerte, führt zu einer Senkung der Fettspeicher in Bauch und Leber und lässt den Ruhepuls sinken. Menschen, die regelmässig Sport treiben, fördern damit die Bildung von Hirnsubstanz im Hippocampus und im motorischen Areal. Die regelmässige Bewegung fördert die Durchblutung des Gehirns und damit auch den verbesserten Transport chemischer Botenstoffe. Wer Sport treibt, wird also auch etwas schlauer!
In der Schweiz treiben 30 bis 40 Prozent der 65- bis 74-Jährigen mehrmals die Woche Sport, in Deutschland sind es 21 Prozent der 65- bis 85-Jährigen. Ein Teil davon sucht nach der Pensionierung nochmal die grosse Herausforderung. So wie der Deutsche Manfred Klittich (76), der sich bis zu seiner Pensionierung nicht viel aus Sport machte. Doch nach der Demenz-Erkrankung seiner Mutter bekam er Angst und begann sein Leben komplett umzustellen. Letztes Jahr bestritt Klittich seinen zwölften «Ironman» auf Hawaii (das sind fast vier Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42 Kilometer Laufen) und gehört mittlerweile zu den erfolgreichsten Triathleten seiner Altersklasse.
Oft ist es die Angst vor schweren Krankheiten und dem Tod, welche ältere Sportler wie Klittich buchstäblich die Flucht nach vorn antreten lassen. Sportwissenschaftler Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule in Köln spricht von einer zweiten Pubertät, in welcher sich der Hormonhaushalt verändere und bei manchen Pensionären zu einer regelrechten Aufgekratztheit führe. Sie fragen sich dann: Was kommt als Nächstes in meinem Leben? Motorrad, Weltreise oder eben ein Marathon?
Auch Charles Eugster (94) fing spät an, auf Medaillenjagd im Rudern zu gehen. Zwar hatte er als Jugendlicher viel Sport getrieben, doch mit 40 Jahren schienen Familie und Beruf keinen Freiraum für sportliche Aktivitäten mehr zu lassen. Mit 85 kam der in Zürich lebende Engländer in eine Krise: übergewichtig; Haltungsschäden und schlaffe Haut kratzten an seiner Eitelkeit, die, wie er gern zugibt, ihm wohl sein Leben gerettet hat. So entschied er sich, etwas dagegen zu unternehmen und engagierte eine Personaltrainerin. Dank ihr und intensivem Kraft- und Bewegungstraining bekam er nicht nur seine Rücken- und Schulterschmerzen in den Griff, sondern fühlt sich seitdem fitter und gesünder denn je.
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Meistens sind es Männer, die sich im Alter nochmals solchen Herausforderungen stellen, wenn beruflich alles erreicht ist, die Kinder aus dem Haus sind, der Körper aber noch fit ist. Der Anteil an Frauen nimmt jedoch zu.
Ruth Helfenstein (83) ist bis zu ihrem 58. Lebensjahr nie gelaufen, und hatte auch sonst mit Sport nicht viel zu tun. Aus Liebe zu einem Mann fand sie zur Leichtathletik und nimmt seitdem erfolgreich an internationalen Wettkämpfen in Nordamerika, Südafrika, China oder Europa teil. Auch sie ist ehrgeizig und möchte bei ihren Wettkämpfen aufs Podest, doch was den Leistungssport für sie unvergleichlich macht, sind die vielen gewonnenen Freundschaften.
Da die Senioren heutzutage länger leistungsfähig sind, ist es nur logisch, dass auch der Leistungsgedanke und die Freude am Wettkampf länger vorhanden sind. Für den Sportsoziologen Markus Lamprecht gehört neben der demographischen Entwicklung auch die Individualisierung der Gesellschaft mit Selbstverwirklichung und persönlicher Entfaltung in der Freizeit zu den Gründen, warum jemand in diesem Lebensabschnitt noch die Laufschuhe schnürt. Teil eines Ereignisses zu sein, an seine Grenzen zu gehen, Freunde und Gleichgesinnte zu treffen und eventuell auch manch Jüngerem davonlaufen zu können, das alles wirkt sich positiv auf das Lebensgefühl der älteren Generation aus. Denn wer sich diese Wünsche erfüllt, tut auch seiner psychischen Gesundheit etwas Gutes.
Noch vor 20 Jahren vertraten Ärzte die Meinung, dass Senioren sich schonen und ihre Kräfte sparen sollten. Mittlerweile weiss man, dass Muskeln in jedem Alter wachsen können. Denn der menschliche Körper ist auch noch spät im Leben zu erstaunlichen Leistungen fähig.
Das bestätigen auch Forscher der Sporthochschule Köln. In einer Studie aus dem Jahre 2010 verglichen sie Zeiten von knapp einer Million Jungen und Alten bei Halb- und Marathonläufen. Jeder vierte Senior zwischen 65 und 69 war schneller unterwegs als der durchschnittliche 20- bis 54-Jährige Marathonläufer. Leistungseinbussen traten erst ab dem 54. Lebensjahr auf, waren aber vergleichsweise gering. Rund ein Viertel der 50- bis 69-Jährigen hatte jedoch erst spät, d.h. in den vorangegangenen fünf Jahren, mit dem Training begonnen.
Leistungseinbussen im Alter, schlussfolgern die Forscher, sind daher nicht primär auf biologische Alterungsprozesse zurückzuführen, sondern auf eine inaktive Lebensweise.
Erschreckend ist dagegen, dass Kinder schon jetzt nicht mehr so fit sind wie ihre Eltern im gleichen Alter. Das zeigt zumindest eine Analyse von 50 Studien aus 28 Ländern: Demnach hat seit dem Jahr 1975 die Herz-Kreislauf-Fitness der Kinder um etwa 15 Prozent abgenommen.
Ob man seine Fitness moderat oder auf Leistungsebene trainieren möchte, ist eine Frage der genetischen Voraussetzungen, der individuellen Gesundheit und nicht zuletzt des Typs.
Laut Sportmediziner Brian Martin vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin an der Universität Zürich spricht jedenfalls nichts dagegen, auch mit über 70 noch auf Rekordjagd zu gehen. Wer mit Sport nicht viel anfangen kann, sollte sich aber von hundertjährigen Marathonläufern nicht einschüchtern lassen. Es gibt viele Wege, dem Körper die nötige Bewegung zu verschaffen.
Wer sich überlegt, Leistungssport im Alter zu betreiben, sollte sich auf jeden Fall vorher medizinisch untersuchen lassen, z.B. mit einem Belastungs-EKG. Erst wenn Risiken oder angeborene Herzfehler ausgeschlossen wurden, kann das Training stufenweise beginnen.
Sport, egal ob Hobby- oder Leistungssport, sollte jedoch nicht in Stress ausarten, sondern grundsätzlich Spass machen. Mit dieser Einstellung können Sportler auch bis ins hohe Alter an Wettkämpfen teilnehmen. Dann verhalten sich die Älteren dank ihrer jahrzehntelangen Erfahrung sogar vernünftiger als die Jungen. Wolfgang von Känel (73), Sieger der Triathlon-Europameisterschaft in Zürich, ist so einer. Obwohl er gute 15 Stunden pro Woche trainiert, möchte er seine Grenzen nicht überschreiten, denn dann mache man Fehler. Für ihn bedeutet draussen trainieren zu können ganz einfach mehr Lebensqualität.
Technisch anspruchsvolle Sportarten oder solche mit hohem Verletzungsrisiko, wie z.B. Stabhochsprung oder Fussball, sind für den Alterssport prinzipiell weniger geeignet. Wenn diese Disziplinen jedoch von jung auf gelernt und trainiert wurden, ist auch gegen sie nichts einzuwenden.
Da das Zusammenspiel von Nerven und den schnellen Muskelfasern im Alter nicht mehr so gut funktioniert, empfehlen Ärzte Ausdauersportarten wie Laufen, Walken, Fahrradfahren und Schwimmen. Marathon-Strecken führen meistens über Asphaltstrassen, was nicht gut für die Gelenke ist und sehr gutes Schuhwerk voraussetzt. Eine Alternative bilden Waldwege oder sogenannte Finnenbahnen, d.h. mit Sägespänen ausgefüllte Wege.
Die gesundheitlichen Voraussetzungen für Leistungssport im Alter sind die eine Seite der Medaille. Eine andere ist das eigene Ego. Selbstüberschätzung und Verbissenheit enden nicht selten im Spital. Bei Wettkämpfen treten Todesfälle am häufigsten bei den 40- bis 60-Jährigen auf. In fast allen Fällen lautet die Diagnose «plötzlicher Herztod».
Ab einem Alter von etwa 30 Jahren beginnen die Wände der Herzmuskeln zu verkalken, erklärt Christian Schmied, Herzspezialist und Sportkardiologe am Unispital Zürich. Bei intensivem Sport treten Reibungskräfte innerhalb der Kalkschichten (Plaques) auf, so dass diese aufreissen, Gefässe verstopfen und im schlimmsten Fall zum Herzstillstand führen können. Bei anderen Sportlern sind verengte Herzkranzgefässe schuld. Dann bekommt der Herzmuskel zu wenig Sauerstoff, es tritt ein Herzinfarkt ein, der für vier Fünftel aller Todesfälle bei sportlichen Anlässen verantwortlich ist.
Obwohl die Zahl der Senioren-Sportunfälle in der Schweiz zugenommen hat – was sich mit der gesteigerten Aktivität erklären lässt – sind ältere Sportler nicht anfälliger für Sportverletzungen als andere, wenn sie vorher entsprechend instruiert wurden.
Zu diesem Ergebnis kamen kanadische Forscher in einer Studie. Auch hier traten die meisten Verletzungen durch eine Überbeanspruchung der Muskulatur auf. Oft wird unterschätzt, dass der Körper im Alter länger benötigt, um sich zu regenerieren. Wer zu verbissen kämpft, gefährdet zudem nicht nur sein Herz, sondern auch sein Immunsystem, das bei extremen Belastungen anfälliger für Infektionskrankheiten ist.
Oft sind es deshalb die Neueinsteiger, die sich verletzen. Diese sollten maximal zwei bis dreimal pro Woche trainieren und das Pensum schrittweise steigern. Wichtig ist dabei: Bei der Erhöhung muss man sich gut fühlen; sobald Schmerzen auftreten, ist die Anstrengung zu hoch.
Aber auch Wiedereinsteiger sind gefährdet, da diese sich eher an ihrer früheren Leistungsfähigkeit orientieren, die einige Jahre zurückliegen kann. Ab dem 60. Lebensjahr verliert der Körper mit jedem Jahrzehnt bis zu zehn Prozent an Muskelmasse, welche für die Stabilisierung des Skeletts unerlässlich ist. Deshalb sollte das Training immer eine Kombination aus Kraft- und Ausdauertraining sein, besonders bei Gelenkschäden und Arthrose. Um Stürzen vorzubeugen, sollten auch Koordination und die Balancefähigkeit trainiert werden.
Wer all das beherzigt und ohne Druck, sondern mit Spass bei der Sache ist, der kann auch im hohen Alter noch Leistungssportler sein.
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