Muskeln haben wichtige Funktionen im Körper, sie senden Botenstoffe aus und spielen eine bedeutende Rolle im Stoffwechsel. Für Sportmediziner steht fest: Muskeln kann und soll man bis ins hohe Alter trainieren.
Text: Andrea Pauli, 07-08.18
Herrmann Peter, 75, schaffte bei der Schweizermeisterschaft im Bankdrücken im März stolze 102,5 Kilogramm. Wolfgang Sadowski aus Berlin ist 81 Jahre alt, hat ein künstliches Hüftgelenk – und hält einen Weltrekord im Gewichtheben. 72 Kilogramm stemmte er in seiner Gewichtsklasse bei den Europameisterschaften der Senioren. Der britisch-schweizerische Doppelbürger Charles Eugster († 2017), ursprünglich Zahnarzt aus Uitikon, sammelte Leistungssporttitel bis zum Alter von 97 Jahren – begonnen hatte er mit der Fitness als 85-Jähriger!
Ausnahmen? Vielleicht eher: Herausragende Beispiele von grossem Ehrgeiz und dem Willen, dem Alter ein Schnippchen zu schlagen. Was einen das lehren kann? Dass es nie zu spät ist, den Muskeln etwas zu tun zu geben. Die Muskulatur ist eines der grössten Organe unseres Körpers, verantwortlich für Bewegung, Koordination und Stabilität und an wichtigen Prozessen im Organismus beteiligt. Die Skelettmuskeln senden bei körperlicher Aktivität eine Vielzahl von Botenstoffen aus, die einen erheblichen Einfluss auf unsere Gesundheit haben.
Jeder Mensch besitzt über 650 Muskeln, bei der Frau machen sie etwa 30, beim Mann rund 40 Prozent der Gesamtkörpermasse aus. So wird in glatte und quergestreifte Muskulatur unterschieden, Letztere bestehend aus Skelett- und Herzmuskulatur. Die glatte Muskulatur wird vom vegetativen Nervensystem und damit unbewusst gesteuert; sie ist in allen Hohlorganen zu finden. Die quergestreifte Muskulatur wird übers zentrale Nervensystem gesteuert, wobei der Herzmuskel selbstständig arbeitet, die Skelettmuskulatur hingegen willentlich beeinflusst werden kann.
Muskeln sind kontraktile Organe, d.h., sie haben die Fähigkeit, sich zusammenzuziehen und wieder zu entspannen. Dieses Miteinander ermöglicht die bewusst gesteuerten Bewegungen ebenso wie die unbewusst im Körperinneren ablaufenden Funktionen. Basis für derlei Kontraktionen sind die kleinsten funktionellen Bauteile der Muskeln, die Sarkomere, welche aus den Eiweissen Aktin und Myosin bestehen. Auslöser für die Kontraktion eines Muskels sind Nervenimpulse.
Jeden Muskel umgibt eine feine Haut aus Bindegewebe, die Faszie. Die Muskelhaut geht an den Knochenenden in die Sehnen über und ist damit am Knochen befestigt. Das Innere eines Muskels besteht aus Tausenden einzelner Leitungsbahnen, den Muskelfasern. Zu Bündeln zusammengefasst, sind sie von einer Bindegewebshülle mit Blutgefässen und Nerven umgeben. Eine Muskelfaser besteht, je nach Muskel, aus bis zu Tausenden kleinerer Funktionseinheiten, den Muskelfibrillen. Diese wiederum setzen sich aus Hunderten hintereinander geschalteter Baueinheiten zusammen, den oben erwähnten Sarkomeren.
Für Orthopäde Andreas Stippler, Leiter des David-Gesundheitszentrums und Ärztekompetenzzentrums am Universitätsstandort Krems an der Donau, sind die Muskeln nach wie vor ein «unterschätztes Organ. Bei Muskelbewegungen werden Hunderte hormonähnliche Botenstoffe – die Myokine – ausgeschüttet, die nicht nur lokal im Muskel wirken, sondern im ganzen Körper». Stippler vergleicht die Muskeln mit einer Hausapotheke: Sie regen das Immunsystem an, fördern die Neubildung von Blutgefässen, das Wachstum von Nervenzellen und deren Verbindungen (Synapsen) im Gehirn.
«Die Muskulatur ist das grösste Stoffwechselorgan des Menschen und damit auch der grösste Energiefresser», sagt Prof. Ingo Froböse, Leiter des «Zentrums für Gesundheit durch Sport und Bewegung» an der Deutschen Sporthochschule Köln. Das könne gerade Menschen mit Stoffwechselerkrankungen zugute kommen: «Je mehr Muskulatur man besitzt, umso mehr Energie wird verbraucht.» Auch mit Blick auf Osteoporose sind starke Muckis wünschenswert: «Bei Patienten mit Osteoporose übt die Muskulatur einen direkten Reiz auf die Knochen aus. Die Knochenstruktur wird durch den Muskelzug erhalten und im besten Falle sogar neu aufgebaut», so Froböse.
Rund 400 verschiedene Substanzen produziert der Muskel – allesamt Teil eines hochkomplexen Mechanismus, der tief in die Stoffwechselprozesse des Körpers eingreift. Weltweit versuchen Forscher, diesen Vorgängen auf die Spur zu kommen.
Spätestens ab dem 50. Lebensjahr verliert der Mensch jährlich bis zu zwei Prozent seiner Muskelmasse. Bei völliger körperlicher Untätigkeit kann der Kraftverlust bis zum 70. Lebensjahr gut 40 Prozent betragen. Bei Frauen beginnt der Muskelabbau früher als bei Männern. Mit Blick auf die beschriebenen biochemischen Prozesse, an denen die Muskultur beteiligt ist, kann man sich die Folgen leicht ausrechnen – und zu einem wenig erbaulichen Ergebnis kommen. Muss man aber nicht, denn: Kein anderes Organ ist beim Älterwerden funktionell so bedeutsam und dabei therapeutisch so gut zugänglich wie die Muskulatur.
«Die geriatrische Forschung hat vielfach nachgewiesen, dass selbst über 90-Jährige erfolgreich auf adäquate Bewegungsprogramme reagieren», erklärt Dr. Martin Runge, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin in Esslingen. «Kein anderes Organ lässt sich durch richtige Bewegung und Ernährung so gut behandeln, erhalten und sogar wieder aufbauen wie der Muskel.»
Auch Prof. Albert Gollhofer, Leiter des Instituts für Sport und Sportwissenschaft an der Universität Freiburg, macht Mut: «Es ist ein Irrglaube in der breiten Bevölkerung, dass die Kraft mit 60 Jahren verfällt. Mit Training kann man sie sehr gut erhalten. Das muskuläre System von Älteren ist gut trainierbar.»
Mit zunehmendem Alter ist vor allem bedeutsam, welche Muskeln trainiert werden. Der Muskel besteht aus zwei Muskelfasertypen. Mit den Typ-1-Fasern halten wir unseren Körper aufrecht, das sind sehr statische Muskeln. Die Typ-2-Fasern sind für die Bewegung, insbesondere solche, die schnelle Kraftentwicklung erfordern, verantwortlich. Je nachdem, wie ein Training gestaltet ist, wird mehr der eine oder andere Muskelfasertyp trainiert. Je älter die Person, desto wichtiger ist es, die Muskelschnellkraft zu berücksichtigen, denn sie ist es, die vor Stürzen schützen kann. «Das richtige Muskeltraining muss also nicht nur die Zunahme der Muskelmasse im Visier haben, sondern auch die richtige Koordination der neu gewonnenen Muskelkraft, die für die Funktionalität im Alltag wichtig ist», sagt Prof. Reto W. Kressig, Chefarzt des Universitären Zentrums für Altersmedizin am Felix-Platter-Spital Basel.
Sportmedizinern zufolge geht die Tendenz zu höheren Intensitäten. Was früher als Krafttraining galt, z.B. 30 Wiederholungen bei niedrigem Gewicht, ist aus heutiger Sicht als Ausdauertraining am Kraftgerät zu betrachten. Mittlerweile neigt man zu Gewichten, bei denen der Muskel bereits nach zehn bis 15 Wiederholungen erschöpft ist.
Auch als älterer Mensch darf und soll man sich im muskulären Krafttraining etwas zumuten. «Ich empfehle, seinen Muskeln umso höhere, schwerere Belastungen zu bieten, je älter man wird. Muskeln im Alter zu schonen, hat überhaupt keinen Sinn», sagt Prof. Froböse. Das gelte auch und gerade mit Blick auf die Sarkopenie (griech.: Verlust des Fleisches), eine altersspezifische Besonderheit. Vollständig geklärt sind die dieser Entwicklung zugrunde liegenden Prozesse noch nicht. «Was man weiss, ist, dass Sarkopenie nicht an der Muskelmasse direkt, sondern auf dem Weg der Reizübertragung geschieht.» Leider nehmen längst nicht alle Mediziner Sarkopenie als Krankheit ernst. Ihnen scheint es normal, dass Menschen mit zunehmendem Alter immer gebrechlicher werden. Doch es stehen mittlerweile exakte Verfahren zur Verfügung, mittels derer sich die Muskulatur eines Patienten analysieren lässt.
Muskelfasern werden stärker, wenn sie gefordert werden, auch im Alter noch. Allerdings wachsen Muskeln nur, wenn der Widerstand gross genug ist und eine «Reizschwelle» überschritten wird. Das geschieht durch Ziehen, Drücken oder Heben. Mittels hohen Kraftaufwandes dabei werden die Fasern aufgebrochen. Die winzigen Risse in den Fasern ziehen zuvor brachliegende Satellitenzellen an. Diese verschmelzen mit den Muskelzellen und verdicken diese. Die Volumenzunahme wird durch das Hormon Testosteron verstärkt.
Wer im Alter mit Muskeltraining beginnt, sollte sich vorher unbedingt untersuchen lassen. Sportmediziner messen den Zustand der Muskeln: Die Bioimpedanzanalyse z.B. bestimmt das Körperwasser und den Fettanteil und kann so die Funktionsfähigkeit der Muskeln errechnen (wichtig ist ein standardisiertes Vorgehen bei der Messung). In einem guten Fitnessstudio sollte vor Beginn des Krafttrainings ein kompetenter Check-up stehen und geklärt werden, ob es körperliche Einschränkungen gibt.
Auch in den eigenen vier Wänden lassen sich die Muskeln ohne grossen Aufwand gezielt trainieren: zum Beispiel am Tisch sitzend mit Hanteln, Wasserflaschen oder elastischen Gymnastikbändern (Thera-band). Die Bänder kann man auch an der Türklinke oder am Heizkörper befestigen. Bei Kniebeugen im Stehen sollte man sich vorsichtshalber an Stuhllehne oder Tischkante festhalten. Wer sich zwischendurch immer mal wieder auf die Zehenspitzen stellt und auf und ab bewegt, trainiert die Waden- und Beinmuskulatur.
Muskeln werden übrigens nicht während des Trainings stärker, sondern erst in den Regenerationsphasen. Das Training liefert nur den Anreiz, die eigentliche Leistungssteigerung erfolgt danach. Dabei entstehen allerdings keine neuen Muskelfasern, denn deren Anzahl ist von Geburt an immer gleich.
Stärkster: Der Kaumuskel kann einen Beissdruck von über 100 kg ausüben.
Fleissigster I: Der Muskel über dem Auge ermöglicht es uns, über 100 000 Mal am Tag zu zwinkern.
Fleissigster II: Das Herz pumpt rund 70-mal pro Minute bis zu 100 Milliliter Blut durch den Körper.
Längster: Der Schneidermuskel, der diagonal über dem Oberschenkel verläuft, misst rund 50 cm.
... messen offenbar die Tageszeit: Internationale Forscher, die vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt werden, haben entdeckt, dass auch in den Muskelzellen eine «zirkadiane Uhr» ihr Werk verrichtet.
Die Wissenschaftler fanden heraus, dass die Zusammensetzung der unterschiedlichen Arten von Fetten (Lipide) in unseren Muskelzellen im Laufe des Tages variiert und je nach Tageszeit ein Lipid dominanter ist als das andere. Studienleiter Prof. Howard Riezman ist der Ansicht, dass die biologische Uhr im Muskel über ihre Wirkung auf die Lipide regulierend auf die Insulinsensitivität der Muskelzellen wirken könnte. Eine geringe Insulinsensitivität des Muskels führt zu einer sogenannten Insulinresistenz, einer bekannten Ursache von Diabetes Typ 2.
Sie wachsen stärker und schneller, wenn sie ehedem schon mal gut trainiert waren. Verantwortlich sind DNA-Anlagerungen in den Muskelzellen, welche die Genaktivität anhaltend verändern, fanden britische Forscher um Robert Seaborne von der Keele University heraus. Die Wissenschaftler schlussfolgern:
Jede unserer Muskelzellen speichert vergangene Erfahrungen direkt am Erbgut ab. Das Wissen um dieses «Gedächtnis» könnte bei Reha-Behandlungen nach Krankheit oder Verletzungen helfen.
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