Bewegung und Training sind die Medizin des Jahrhunderts – das ist wissenschaftlich belegt. Aber woran liegt das? Und wie gelingt es uns, Bewegung als Therapieform ernst zu nehmen?
Text: Christine Bielecki, 10/2022
Muskeln sind nicht nur dazu da, alle Bewegungsabläufe des Körpers möglich zu machen. Sie haben auch eine besondere Wirkung auf den Organismus. Welche, hat eine dänische Forscherin erst 2001 entdeckt. Bente Klarlund Pedersen hatte den Einfluss von Sport auf das Immunsystem untersucht. Sie stellte fest, dass bei den Probanden, die trainierten, ein Anstieg von Interleukin 6 (IL-6) gemessen werden konnte.1 Diese Substanz hilft, Entzündungsreaktionen im Körper zu regulieren. Produziert wird sie von den Mus-kelzellen. Deswegen gab Pedersen diesen Zellen den Namen Myokine.
Myokine sind enzymähnliche Botenstoffe, die vom Körper ausgeschüttet werden. Sie kommen tatsächlich aus der Muskulatur, werden aus der aktiven Muskelzelle ausgeschüttet und üben so verschiedene Effekte auf verschiedene Organsysteme aus. Bekannt sind über 100, die Forscher gehen aber von mehr als 1000, zum Teil noch unentdeckten Arten und Formen aus. Die bekanntesten Myokine schützen vor Diabetes und Herzinfarkt und fördern Aufbau und Qualität des Immunsystems.
Heute ist sich die Wissenschaft sicher: Auch das Risiko, an Krebs zu erkranken, ist geringer bei denjenigen, die körperlich aktiv sind. „Durch körperliche Aktivität können wir regulierend und anpassend über die Myokine eingreifen“, sagt Professor Dr. Ingo Froböse, Universitätsprofessor für Prävention und Rehabilitation an der Deutschen Sporthochschule in Köln und Leiter des Zentrums für Gesundheit. Es gibt Studien, die belegen, dass das Risiko für Darmkrebs um etwa 40 Prozent sinkt. Auch die Gefahr, nach der Menopause an Brustkrebs zu erkranken, verringert sich. Ähnliches soll für Prostata-, Lungen und Eierstockkrebs gelten. So weit denkt beim körperlichen Training natürlich kaum jemand – doch es kann nicht schaden, diese beachtlichen Fakten im Hinterkopf zu behalten.
Froböse bezeichnet Bewegung auch als „Tausendsassa“. Dass sie so wichtig für Gesundheit und Wohlbefinden ist, verwundert nicht, betrachtet man den menschlichen Körper genauer. Neandertaler etwa hatten sehnige Körper, vermutlich 20 Prozent mehr Kraft und enorm stabile Knochen, vergleichbar mit denen von Olympia-Athleten heute. Sie jagten wilde Tiere und legten beim Sammeln von Pflanzen nach Schätzungen gut und gerne täglich zwischen 15 bis 30 Kilometer zurück.2 „Bewegung ist ein fester Bestandteil unseres Organismus, ein Teil der Urmenschen-Software, die bis heute in uns arbeitet. Unsere Biochemie funktioniert noch genauso wie beim Neandertaler“, schreibt Froböse in dem Buch „Fit im Alter. Den Körper fit halten, geistig frisch bleiben, das Leben genießen.“
Auch die Autoren Gert und Marlén von Kunhardt gehen in dem Buch „„Leichte Bewegung. Gewinn für Herz und Hirn“ auf die Konstruktion des menschlichen Körpers und seine Anlage zur Bewegung ein: „Der Mensch ist für Bewegung bestimmt, und zwar nicht nur, weil er damit stehen, gehen und sich mit seinen Muskeln stützen, schützen und bewegen kann, sondern weil sein ganzes Stoffwechselsystem und seine geistige Beweglichkeit davon abhängen“.
Zu wenig Bewegung ist die Hauptursache für die meisten Zivilisationskrankheiten. Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen aber auch Alzheimer, Demenz, Osteoporose – all diese Krankheiten werden befeuert durch Bewegungsmangel. Insbesondere im Bereich der neurodegenerativen Erkrankungen wie der Alzheimer- und der Parkinsonerkrankung, wurde in den letzten Jahren sehr viel Forschung betrieben. Die Ergebnisse sind eindrucksvoll: Einerseits reduziert Bewegung das Risiko, eine Demenzerkrankung im höheren Alter zu entwickeln, andererseits verbessert regelmässige Bewegung die kognitive Leistung allgemein sowie bei bereits erkrankten Personen die kognitive Leistung unmittelbar nach der Bewegung, die Schlafqualität und die Lebensqualität.3
Wurde von Ärzten vor 20 Jahren von Bewegung bei diversen Wehwehchen abgeraten, gilt sie nach heutigem Wissensstand als Medizin des Jahrtausends. Die amerikanische Initiative „Exercise is Medicine“ (Sport ist Medizin) des American College of Sports Medicine hat sich vor über zehn Jahren zum Ziel gesetzt, ein grundsätzliches Umdenken in der Medizin zu erreichen. Statt Knieprothesen oder Tabletten zu verordnen, sollten Ärzte mehr auf Bewegung setzen. Unter der Federführung des Kardiologen und Sportmediziners Prof. Jürgen Steinacker von der Sektion Sport und Rehabilitationsmedizin am Ulmer Universitätsklinikum wurde die Initiative auch in Europa etabliert. Sie fördert und untersucht den vorbeugenden und heilungsfördernden Nutzen sportlicher Betätigung und setzt auf öffentlichkeitswirksame Kampagnen wie beispielsweise „Rudern gegen Krebs“, eine in Deutschland bundesweite Regatta, die seit 2005 durchgeführt wird.4
Dennoch werde Bewegung als Therapeutikum leider immer noch unterschätzt, so der Kölner Prof. Froböse. „Und es reicht nicht aus, den Leuten zu sagen: ‚Macht mal Sport.' Der Ärzteschaft fehlt hier zum Teil die Kompetenz. Schliesslich muss man den Patienten erklären, welchen Sport, welcher Umfang, und so weiter. Das Problem liegt in der Bildung", ist Froböse sich sicher. „Ernährung und Bewegung sind entscheidend für unsere Gesundheit. Und diese Sensibilität müssten wir wecken."
Genau da müsse schon früh angesetzt werden. Die Weltgesundheitsorganisation WHO gibt zum Thema Bewegungsmangel regelmässig aktuelle Studien heraus. In Deutschland bewegen sich 42 Prozent der Menschen nicht genug. In der Schweiz sind es fast 30 Prozent.5 Der Bewegungsmangel verursacht in der Schweiz jedes Jahr mindestens 2900 vorzeitige Todesfälle, 2,1 Millionen Erkrankungen und direkte Behandlungskosten von 2,4 Milliarden Franken.6 Eine Forschungsgruppe um den Österreicher Hans-Christian Miko der Med-Uni Wien veröffentlichte 2020 eine umfangreiche Studie mit dem Ergebnis, dass regelmässige Bewegung sowohl zum Erhalt als auch zur Verbesserung des Gesundheitszustandes beitrage und für die menschliche Entwicklung über die gesamte Lebensspanne des Menschen wichtig sei. Starke Evidenz hinsichtlich der positiven Auswirkung körperlicher Aktivität auf die Gesundheit liege auch im Bereich der Gesamtsterblichkeit vor.7
Der Ökotrophologe Prof. Michael Hamm bestätigt offenbar sogar die These, dass es besser sei, sich schlecht zu ernähren, aber dabei gut zu bewegen, als umgekehrt.8 Klaus-Michael Braumann, emeritierter Professor für Sportmedizin an der Hamburger Universität, Fakultät für Psychologie und Bewegungswissenschaft, ist mit Hamm einer Meinung. „Als Sport- und Bewegungsmediziner sage ich: „Du kannst essen was du willst, wenn du dich genug bewegst. Das mag zwar sehr pointiert klingen; grundsätzlich muss das, was der Organismus umsetzt, nachgeliefert werden und wenn es vom Körper umgesetzt wird, dann ist es fast egal, was nachgeliefert wird“, sagt er.
Die Schweizerin Arlette Godges lebt seit 30 Jahren in Santa Barbara, Kalifornien. In den USA absolvierte sie die dort sehr umfangreiche Ausbildung zur Physiotherapeutin. Spezialisiert hat sie sich auf Geriatrie (Altersmedizin). Dabei ist ihr wichtig, dass Geriatrie sich nicht nur mit sogenannten „hochbetagten“ Patienten beschäftigt. Die Veränderungen in unserem Körper fangen viel früher an. Ungefähr ab 50 Jahren verändert sich unser Hormonhaushalt, sagt Godges. Darum entwickelte sie das Projekt „Age-up well“, das sich insbesondere an Menschen ab 50 richtet, und ihnen erklärt, wie sie – ganz unabhängig von ihrem Fitnessstatus – mit diesen Veränderungen umgehen können.
„Für ein möglichst langes und gesundes Leben gehen Bewegung und gesunde Ernährung natürlich Hand in Hand“, sagt sie. Allerdings gibt sie den Professoren recht, wenn sie sagen: Wer sich nicht bewegt, verkümmert. Das liegt daran, dass wir alle ab einem bestimmten Alter vom Abbau von Muskelmasse betroffen sind. Sarkopenie, der altersbedingte Verlust der Muskulatur, kann nur durch Muskeltraining aufgehalten werden.
Godges gibt zu bedenken, dass wir in unserem Leben durch verschiedene Phasen gehen. Und deswegen verändere sich die Ernährung im Laufe eines Lebens. Kinder benötigen beispielsweise mehr Fette, denn das Nervensystem muss sich noch entwickeln. Wenn wir älter werden, brauchen wir hingegen mehr Proteine. Durch die Veränderung unserer Hormone, bei Frauen insbesondere schon ab der Menopause mit durchschnittlich 52 Jahren, bei Männern etwa ab 60 Jahren, werden wir anfälliger für Osteoporose, Arteriosklerose, Blasenschwäche aber auch Schlaflosigkeit.
Deshalb ist auch in den Wechseljahren Bewegung wichtig und die „richtige Medizin“. Krafttraining, Pilates oder Thai Chi – das sind Arlette Godges zufolge insbesondere für ältere Menschen die idealen Bewegungsarten, um die Muskeln zu erhalten.
Corona habe einmal mehr gezeigt, dass eine gesunde, körperlich fitte Bevölkerung als Gewinner aus einer Pandemie hervorgehe, sagt Klaus-Michael Braumann. „Menschen mit einer guten körperlichen Fitness hatten einen deutlich weniger dramatischen Verlauf einer Erkrankung als inaktive und dann noch Übergewichtige. Wenn Sie heute auf einem kardiologischen Kongress sind, geht es in einem grossen Teil der Beiträge um Bewegung. In der Wissenschaft sind wir uns alle einig über die Effekte von Bewegung. Die Frage ist, wie kriegen wir die Menschen dahin, dass sie etwas für ihre Bewegung tun?“
Schrittzähler hätten sich bewährt, wer sie nutze, profitierte auch davon, ist sich Braumann sicher. „Aber das Hauptproblem sind die circa 60 Prozent der Bevölkerung, die man trotz bestehender Probleme nicht motivieren kann. Ganz viele von ihnen sind aber nicht bewegungsfaul, sondern sie wissen einfach nicht, was sie machen sollen.“ Braumann wünscht sich, dass mehr Menschen an die Hand genommen werden könnten. Etwa wie in der Physiotherapie, bei der die Patienten in sechs bis neun Einheiten Übungen erlernen, die sie dann in Eigenregie zu Hause durchführen können.
„Ein Muskel hat in der Tat ein Gedächtnis“, sagt Prof. Ingo Froböse. „Das heisst, je häufiger und je länger ich bereits trainiert habe, um so schneller sind die Muskeln auch wieder aufzubauen. Es ist aber auch niemals zu spät, um mit Training zu beginnen. Der Körper hat im hohen Alter noch viele Anpassungsmöglichkeiten. Das macht die Zellteilung möglich.“
Eine Studie des Wissenschaftlers Prof. Brendon Stubbs während der Corona-Pandemie kam sogar zu dem Ergebnis, dass es einen Zusammenhang zwischen Bewegung und geistiger Gesundheit gibt. Bei dieser Studie wurden die Gehirnbahnen der Probanden gemessen, von denen bekannt ist, dass sie die emotionalen und kognitiven Elemente des mentalen Wohlbefindens beeinflussen. Dabei stellte sich heraus, dass Freizeitsport-ler nach einer kurzen körperlichen Betätigung einen allgemeinen emotionalen Aufschwung erlebten, einschliesslich einer bis zu 29-prozentigen Verbesserung ihrer Fähigkeit, mit Stress umzugehen und einer bis zu 18-prozentigen Steigerung ihres Entspannungsniveaus. 15 Minuten Training würden schon ausreichen, um die gute Laune anzukurbeln.9
1 Klarlund Pedersen B.: Muscle-derived interleukin-6: possible biological effects. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/21799452/
2 Maguire S: Der Neanderthaler. Ein richtiger Kraftprotz. https://www.wz.de/nrw/kreis-mettmann/mettmann/der-neanderthaler-ein-richtiger-kraftprotz_aid-25750411
3 Powell K E.The Scientific Foundation for the Physical Activity Guidelines for Americans 2 nd Edi-tion 20181–11. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30558473/ Zugriff am 23.08.2022
4 Weber-Tuckermann A. Im Interview mit Steinacker J.: „Bewegung ist die beste Medizin“. https://www.uni-ulm.de
5 Mattli R, Hess S, Maurer M, Eichler K, Pletscher M, Wiesner S.: Kosten der körperlichen Inaktivität der Schweiz
6 Smala A, Beeler I, Szucs, TD: Die Kosten der körperlichen Inaktivität in der Schweiz
7 Miko C u.a.: Auswirkungen von Bewegung auf die Gesundheit. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7521632/#R2020-05-1166-0013
8 Kunhardt G, Kunhardt A.: Leichte Bewegung. Gewinn für Herz und Hirn. Springer. Berlin 2020