Um eine Wunde zu verschliessen, eine Gelenkprothese zu befestigen, Hauttransplantate oder Zahnimplantate zu fixieren, wird mit Klebstoffen gearbeitet. Viele sind synthetisch, manche gesundheitsschädlich. Auf der Suche nach biologischen Klebstoffen wird im Tierreich geforscht.
Autorin: Ingrid Zehnder
Bislang werden für die Wundheilung oder die Haftung medizinischer und dentaler Implantate im Gewebe meist synthetische Produkte verwendet, die vielfach aus gesundheitsschädlichen und nicht abbaubaren Substanzen bestehen. Die Frage ist: Welche besonderen Kräfte der Tiere sind noch nicht entschlüsselt und welche lassen sich womöglich medizinisch nutzen?
Schnecken, Salamander, Hundertfüssler, Glühwürmchen, Muscheln oder Tintenfische produzieren klebrige Substanzen, um sich festzuhalten, zu tarnen, zu verteidigen, sich zu ernähren oder den Nachwuchs zu verankern. In der Tierwelt gibt es eine unglaubliche Vielfalt an biologischen Haftsystemen. Manche könnten Vorbilder für die Entwicklung von medizinischen Bioklebern sein. Die Natur nachzuahmen, ist eine komplexe und oft nicht einfache Aufgabe. Doch die weltweite Forschung bleibt am Ball.
In Neuseeland und auch Australien leben in Höhlen und Grotten Larven einer Mücke mit Namen Arachnocampa luminosa (auch einfach Glowworm/Glühwürmchen genannt). Die Larven spinnen an der Höhlendecke eine Art Hängematte, an der zahlreiche Seidenfäden herabhängen, die mit klebrigen Schleimtröpfchen benetzt sind. Um Beute im Dunkeln anzulocken, leuchten die Larven nicht wie die heimischen Glühwürmchen-Käfer gelb, sondern blau. Je grösser der Hunger, desto stärker das Leuchten. Hat sich eine Mücke, eine Fliege oder ein Falter in den klebrigen Angelschnüren verfangen, wird innnerhalb von Millisekunden die Beute an den Fangleinen hochgezogen und gefressen.
Der Naturleim der Glühwürmchen besteht nur aus Harnstoff (Urea) und einem Eiweissstoff. Er könnte möglichweise günstig hergestellt werden und interessant für die Holzindustrie sein, die nach dem Verbot von Formaldehyd nach biologischen Alternativen sucht.
Salamander sind bekannt für vielfältige Abwehrmechanismen von Fressfeinden. Manche schützen sich mithilfe von Farbwechseln, andere bilden, wie der heimische Feuersalamander, giftige Hautdrüsensekrete. Einige nordamerikanische Arten und eine in Japan vorkommende Schwanzlurchart wehren sich gegen Angriffe, indem sie über die Haut einen sekundenschnell aushärtenden, klebrigen Schleim absondern, der dem Feind (z.B. einer angreifenden Schlange) den Kopf bzw. das Maul verklebt.
Wissenschaftler aus Österreich, Deutschland und den USA untersuchten die Zusammensetzung verschiedener Salamander-Sekrete. Das Ergebnis war, dass (u.a.) die biokompatiblen Klebesekrete des Salamanders Ambystoma opacum (Bild) das Potenzial für die Entwicklung eines klinischen Wunden-Bioklebers haben.
Miesmuscheln leben vorwiegend in den Gezeitenzonen und widerstehen der turbulenten Brandung, ohne von der Strömung mitgerissen zu werden. Das gelingt, weil sie an Felsen, Kaimauern, Holzpfählen und untereinander mithilfe eines Klebstoffs perfekten Halt finden.
Die Grundlage der wasserfesten Klebefäden, welche die Miesmuschel aus ihren Fussdrüsen absondert, bilden spezielle Proteine. Der wichtigste Bestandteil ist die Aminosäure Dopa. Sie sorgt dafür, dass sich die Tiere sowohl mit harten als auch weichen, mit organischen und anorganischen Materialien flexibel verbinden.
Prinzipiell ist der Muschelklebstoff ideal für medizinische Zwecke: wassertauglich, elastisch, anpassungsfähig, gut verträglich und selbstheilend. Mit den Haftfäden der Miesmuschel ist es bereits gelungen, einen Bioklebstoff nachzubauen und herzustellen. «Der Haftmechanismus ist aber aufgrund der geringen Haftstärke nicht für alle medizinischen Bereiche geeignet, so dass weiterhin Bedarf an neuen Klebstoffen besteht», erklärt die Naturwissenschaftlerin Dr. Sylvia Nürnberger von der MedUni Wien.
Mit der Erforschung der Bioklebstoffe befasst sich seit einigen Jahren das Europäische Netzwerk für Bioadhäsion (ENBA) mit 150 Forscherinnen und Wissenschaftlern aus 30 Ländern. Koordiniert wird es vom Ludwig Boltzmann Institut für experimentelle und klinische Traumatologie in Wien, welches sich mit der «Wundheilung, Nerven- und Knochenheilung, Folgen von Organschädigungen sowie Rückenmarkläsionen und Möglichkeiten zur Regeneration» befasst.
Den Vorsitz des EU-Netzwerks hat der Diplom-Psychologe und Biologe Dr. Janek von Byern inne. Er ist zudem wissenschaftlicher Mitarbeiter des o.a. Ludwig Boltzmann Instituts und der Universität Wien. Von Byern hat seit vielen Jahren Klebstoff produzierende Organismen in aller Welt gesammelt und die klebenden Komponenten, ihre mechanischen Eigenschaften und ihre Biokompatibilität untersucht. Auf jährlichen Konferenzen in Lissabon, Istanbul, Israel und 2021 in Portugal tauschten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt ihre Forschungsergebnisse aus. Ziel der Forschung ist, die einzigartige Natur von Bioklebstoffen – denn keiner gleicht dem anderen – zu verstehen, zu analysieren und künftig «künstliche» Blaupausen zu schaffen, um sie z.B. in der Chirurgie, Wundheilung und Geweberegeneration einsetzen zu können. Denn: «Biologische Klebstoffe (...) haben ein enormes Potenzial gegenüber bestehenden synthetischen Produkten aus der Kosmetik und Medizin, die vorwiegend gesundheitsschädliche Inhaltsstoffe aufweisen», so Dr. Janek von Byern.
Schon 2017 veröffentlichte David Mooney, Professor für Bioingenieurwesen an der Harvard School of Engeneering, eine Arbeit über einen Bioklebstoff, der den Schleim der Braunen Wegschnecke zum Vorbild nahm. Normalerweise gleiten die Schnecken auf nicht haftendem Schleim dahin. Fühlen sie sich bedroht, produzieren sie einen Schleim, der klebrig, aber doch elastisch ist und auf nassem Untergrund hält. Im Labor nachgebaut, besteht der Biokleber aus zwei Schichten; die erste Schicht klebt fest am Gewebe, die zweite besteht aus einem flexiblen Hydrogel. Laut Mooney haftet der vom ihm entwickelte Klebstoff besonders stark, wird dabei aber nicht hart, sondern bleibt dehnbar und passt sich elastisch den Bewegungen des Körpers an. Er klebt trotz Blut und anderer Körperflüssigkeiten. Prof. Mooney und sein Forschungsteam sehen die Anwendung insbesondere bei Defekten der Spina bifida («offener Rücken»).
Die Gemeine Napfschnecke (Patella vulgata) lebt im Wasser algenreicher Meeresküsten, wo sie sozusagen «felsenfest» auf dem steinigen Untergrund sitzt. Bisher nahm man an, dass sie sich mit ihrem grossen Saugfuss festhält. Einem Forscherteam um Victor Kang (University of Cambrigde) und Birgit Lengerer (Universität Innsbruck) ist es gelungen, der eigentlichen Ursache auf den Grund zu kommen. Tatsächlich sondert die Schnecke am Fuss klebrigen Schleim aus, der so stark haftet, dass sich die Schnecke mitsamt ihrem Stein fortbewegen und man eine Schnecke mitsamt ihrem grossen Stein hochheben kann. Die molekulare Analyse des Schleims ergab eine Vielzahl von Inhaltsstoffen; katalogisiert wurden 171 Proteinsequenzen und spezielle Kohlenhydrate. Doch ein besonderes Geheimnis konnte (noch) nicht gelüftet werden. Die Napfschnecke ist nämlich auch imstande, sich vom Stein zu lösen, und geht vorwiegend nachts im Umkreis von etwa anderthalb Metern auf Nahrungssuche. Weshalb sich das Meerestier von seinem Untergrund abkoppeln kann, wird bisher nur vermutet: Bestimmte Enzyme und Zuckerverbindungen könnten den harten Schleim erweichen und so dem Tier ermöglichen, sich bei Bedarf frei fortzubewegen.
Derart äusserst starke, schnell haftende, biologische Kleber, die sich wieder lösen lassen, sind natürlich besonders interessant. Sie könnten künftig sowohl in der Medizin als auch im Haushalt und in der Industrie zur Anwendung kommen.
Um Klebestoffe zu finden, die auch in einem feuchten Milieu funktionieren, fokussiert sich die weltweite Forschung auf weitere Meerestiere wie Muscheln und Seepocken.
Auch der Schleim der Weinbergschnecke (Helix pomatia) ist ein weltweites Forschungsobjekt. Man kennt die zarte Schleimspur, auf der die Schnecke über raue und unebene Oberflächen gleitet. Sie kriecht an Wänden hoch oder hängt kopfüber unter einem Blatt; dazu braucht sie ein stärker bindendes Sekret. Auch in Stress- und Abwehrsituationen produziert sie Schleim, der wie ein starker Klebstoff wirkt. Und dieser weckt das Interesse der Wissenschaft. Auf einer Farm im Süden Wiens züchtet Andreas Gugumuck Weinbergschnecken. Er beliefert Restaurants – und die Forschungsgruppe um Janek von Byern. Um an den klebrigen «Abwehrschleim» zu kommen, wird die Schnecke «gekitzelt», woraufhin sie aus ihren Drüsen grössere Mengen schaumigen Schleims absondert, der untersucht werden kann. Die Forschenden sehen in dem antibakteriell wirkenden Schleim ein biologisches Vorbild, das in der Medizin für innere und äussere Wundheilung sorgen könnte. In vitro wachsen die Zellen auf dem Schleim laut von Byern «wie verrückt», was ein gutes Zeichen «für eine schöne Wundheilung ist». Noch ist die chemische Zusammensetzung des Schleims im Detail nicht ganz geklärt. Erwiesen ist, dass er – auf Papier, Stoffen und Metall aufgetragen – in Sekundenschnelle klebt.
Zecken verankern sich fest in der Haut, um so für mehrere Tage Blut saugen zu können. Der Verankerungsmechanismus wirkt deshalb so gut, weil er auf einer zementartigen Substanz beruht und mit enormen Klebeeigenschaften die Mundwerkzeuge der Zecken an ihrer Position sichert. Verschiedene Forschungsteams der TU Wien und der MedUni Wien haben die Zusammensetzung des Klebezements der Zeckenart Dermacentor analysiert, auf verschiedenen Oberflächen untersucht und im Vergleich mit Muscheln und Seepocken festgestellt, dass Zecken-Zement tatsächlich über eine sehr starke Klebekraft verfügt. Das Forschungsprojekt soll dazu beitragen, neue Alternativen und Anwendungen zu bestehenden Klebstoffprodukten für Haut, Knorpel, Bänder oder Sehnen zu finden.
Dies sind nur wenige Beispiele für die unglaublichen Fähigkeiten der Natur. Von den zahlreichen tierischen Klebstoffen, die bisher untersucht wurden, gleicht keiner dem anderen. Die Erforschung der Anwendbarkeit derartiger Kleber in Medizin, Kosmetik und Industrie ist vielversprechend – und steht doch erst am Anfang.
Zuletzt aktualisiert: 06-10-2022