Was unsere Vorfahren rings um den Globus bereits nutzten, gewinnt in Zeiten knapper Ressourcen und belasteter Umwelt wieder an Bedeutung: Pflanzenfasern aus Nessel, Lein und Co.
Autorin: Andrea Pauli, 11.18
Schuhe aus Ananas, Unterwäsche aus Milch? Das gibt es! Mittlerweile beschäftigt sich die Textilindustrie verstärkt mit der Nutzung dieser natürlichen Ressourcen. Weltweit gibt es zahlreiche verschiedene Pflanzenfasern – und doch dominieren Baumwolle und Kunstfasern den Markt. Höchste Zeit umzudenken, fordern Wissenschaftler. Dr. Carmen Hijosa etwa war lange Zeit als beratende Expertin für die Lederindustrie tätig – und schockiert, als sie auf den Philippinen mit den verheerenden Umweltauswirkungen der dortigen Produktion konfrontiert wurde. Sie startete eine Initiative, um nachhaltige Alternativen zu finden – und kam auf die Ananas. Das Ergebnis jahrelanger Forschungsarbeit: Piñatex®, gewonnen aus den langen Fasern der Ananasblätter. Diese waren bisher ein lästiges Überbleibsel des Fruchtanbaus. Das aus den Fasern gewonnene lederähnliche Textilprodukt ist weich, flexibel und sehr langlebig – und wird zu Schuhen, Taschen, Uhrbändern und anderem verarbeitet.
Fasern aus Bananenstauden wurden in Asien seit dem 13. Jahrhundert gewonnen; der Siegeszug der Baumwolle verdrängte jedoch den Rohstoff. Doch man besinnt sich neu: Heute stecken Bananenfasern in Teebeuteln, Saris und japanischen Yen-Noten. In Gemischen mit Lotusfasern oder Seide vertreiben asiatische «Öko-Luxus»-Labels emsig erlesene Meterware aus Bananenfasern.
Die Abfallprodukte der Bananenproduktion sind auch Forschungsgegenstand von Tina Moor an der Hochschule Luzern. Im Fokus stehen die Fasern biologisch angebauter Bananenstauden. Die Wissenschaftlerin machte zahlreiche Versuche auf diversen Web- und Strickmaschinen. Ihr Fazit: In puncto Mode sind Bananenfasern wohl nicht so geeignet wie anfänglich gedacht: «Ich würde Abstand nehmen von der Verwendung für Bekleidung, die Faser ist für die Modebranche zu hart. Ich sehe Verwendungsmöglichkeiten derzeit eher in anderen Bereichen.“ Beispiel: Ein mit Jutegewebe unterlegter Linolboden könnte stattdessen mit Bananenfasern gearbeitet sein. Etwas «Luxuriöses» liesse sich wohl aus dem (essbaren) Kern im Pseudostamm der Banane machen: «Man kann den Kern stückweise als Spindel verwenden und direkt daraus den Faden spinnen», so Moor. Das hat sie selbst ausprobiert. Mühselig, doch die sehr feinen Kurzfasern sind ein durchaus vielversprechendes Material.
Die Fruchtfaser der äusseren Schale der Kokosnuss ist ausgesprochen widerstandsfähig, hat ein hohes Wärmevermögen und behält über lange Zeit ihre Elastizität. Ursprünglich wurden die Fasern in der Seefahrt zur Herstellung von Seilen und Tauen verwendet; beliebt sind sie seit Langem aber auch in Matratzen, Teppichen, Matten und Polstern, da sie resistent gegenüber Verrottung und Schimmel sind. Aufgrund ihrer atmungsaktiven und feuchtigkeitsregulierenden Wirkung werden Kokosfasern gerne bei der Verarbeitung von Schuhen, besonders der Laufsohle, eingesetzt. Auch die Hersteller von Outdoor-Mode und -Zubehör schätzen zusehends Kokosfasern.
Im Schweizer Emmental besinnt man sich seit einigen Jahren wieder auf Pflanzen, die bis ins 19. Jahrhundert für die Produktion von Textilien in Europa allgemein verbreitet waren: Lein (Flachs), Hanf und Nessel. Eine Reihe von Akteuren hat sich vorgenommen, den einheimischen Fasern zu neuer Bedeutung zu verhelfen, besonders die IG Niutex (Interessengemeinschaft zur Naturfaser-Nutzung in der Schweiz, mit ganzheitlichem Ansatz, begleitet durch die Forschung) und SwissFlax (Bindeglied zwischen den Schweizer Flachsbauern und der Textilindustrie).
Fünf Landwirte bauen auf mittlerweile insgesamt acht Hektar Flachs an. Auch wenn die industrielle Weiterverarbeitung bislang (Stand 2019) noch nicht in der Schweiz möglich ist (dazu müssten die Erntemengen deutlich gesteigert werden), sind alle Beteiligten hochmotiviert. Dominik Füglistaller, Präsident der IG Niutex, sieht auch im Hanf grosses Potenzial für die textile Nutzung.
Die textile Nutzung von Fasern aus der grossen Brennnessel (Urtica diocia) reicht mehr als 2000 Jahre zurück. Die Fasern der Nessel sind atmungsaktiv, reissfest, weich auf der Haut und seidig im Glanz. An der Veredelung der wilden Nessel zu speziellen Fasernesseln versuchten sich Generationen von Züchtern. In mühseliger Heimarbeit gefertigtes Brennnessel-Tuch galt um 1900 als das «Leinen der armen Leute». In den beiden Weltkriegen erlebte die Nessel aufgrund mangelnden Zugangs zu Baumwolle einen neuerlichen Aufschwung. Heute beschäftigen sich innovative Modeschöpferinnen mit dem «brennenden» Rohstoff.
Der mittelständische Maschenstoffhersteller Mattes & Ammann in Messstetten-Tieringen baut einen Hektar Brennnesseln namens «Marlene» an und tüftelt seit Jahren an der Verwendung von Nesselfasern zur Textilherstellung. Er verzichtet auf die klassische Feldröste, die grundsätzlich in der Brennnesselverarbeitung eingesetzt wird und wetterabhängig ist. Man habe ein Verfahren entwickelt, mithilfe dessen die geernteten Nesseln unmittelbar dem industriellen Prozess zugeführt werde. Das Konzept von Mattes & Amman setzt dabei auf die volle Verwendung der robusten Pflanze: Langfasern zur Textilherstellung, Kurzfasern für Vlies, Holzteile (Schäben) zum Heizen, Blätter und Pollen für Nahrungs- und Pharmaprodukte.
Als Faserpflanzen bezeichnet man in der Landwirtschaft all jene Pflanzen, die zwecks Gewinnung von Fasern aus ihren Bestandteilen angebaut werden. Je nach verwendeten Pflanzenbestandteilen unterscheidet man Samenfasern (z.B. Baumwolle, Kapok, Pappelflaum), Bastfasern (z.B. Lein, Jute, Nessel, Hanf, Ramie, Sunn-Hanf), Blattfasern (z.B. Sisal, Henequen, Ananas) und Fruchtfasern (Kokos).
Die findige deutsche Mikrobiologin Anke Domaske hat eine Methode entwickelt, mithilfe derer man Fasern schaffen kann. Das Eiweiss Kasein gewinnt sie aus alter, saurer Milch oder Käsereiabfällen. Für die Produktion wird Kasein-Pulver zusammen mit anderen natürlichen Zutaten erhitzt und durch eine Düse zu Fäden gezogen. In diversen Modekollektionen ist die Faser bereits verarbeitet, ebenso in einem italienischen Toilettenpapier, in Milchkosmetik, in Babybeissringen und Hundeknochen, in Filz und Matten. Nun kommt noch «milchige» Bettwäsche auf den Markt, und ein Outdoor-Produzent wird Schuhe und einen Rucksack mit Milchfaseranteil anbieten. Eine Zulassung für Wundauflagen hat Anke Domaske ebenfalls beantragt, denn die Faser ist von Natur aus antibakteriell.