Frauen erleiden seltener einen Herzinfarkt als Männer, doch sie sterben öfter daran. Woran liegt das? Vieles in der Frauenmedizin muss und kann sich ändern.
Max (72) fasst sich an die Brust. Ein stechendender Schmerz nimmt ihm den Atem. «Ich habe einen furchtbaren Druck auf dem Brustbein», klagt er, «der linke Arm tut mir auch weh. Was ist nur los mit mir?» Seine Frau versucht ihn zunächst zu beschwichtigen, da er sehr unruhig ist. Aber seine Beschwerden beunruhigen sie. Sie wählt umgehend den Notruf und schildert die Symptome. Der Notarzt macht sofort ein EKG und verabreicht Max erste Medikamente, die die Beschwerden und Aufregung lindern und den Patienten für die Behandlung in der Notaufnahme vorbereiten. Nach einer guten Stunde ist er im Rettungswagen auf dem Weg ins Spital.
Marion (78) bricht in Schweiss aus, ihr ist übel, und sie fühlt sich benommen und müde. Sie wundert sich zwar, woher diese Symptome so plötzlich kommen, aber: «Es wird schon nicht so schlimm sein», meint sie. Es ist zehn Uhr am Abend, ihr Mann ist schon schlafen gegangen. Erst als ihr die Luft knapp wird und starke Rückenschmerzen hinzukommen, ruft Marion die 112. An einen Herzinfarkt denken weder sie noch die Sanitäter. Auch der Arzt in der Notaufnahme verabreicht ihr erst einmal Medikamente gegen die Übelkeit und die Schmerzen. Kurz überlegt er, sie wieder nach Hause zu entlassen, behält sie dann aber doch über Nacht in der Klinik. Auch Marion hatte einen Herzinfarkt, genauso wie Max. Erkannt hat das jedoch niemand. Und das kommt häufig vor.
Viele Menschen meinen die «typischen» Symptome eines Herzinfarktes zu kennen: Druck auf der Brust und ausstrahlende Schmerzen im linken Arm oder auch in beiden Armen. Doch treffen diese Beschwerden bei nur etwa 30 Prozent der Frauen zu, die einen Herzinfarkt erleiden. Infarkte bei Männern werden schneller erkannt und behandelt, da sie eben über diese «klassischen» Beschwerden klagen. Dagegen kommen Atemnot, Rückenschmerzen und kalter Schweiss bei Frauen mit Herzinfarkt sehr viel häufiger vor als bei Männern. Die Folge: Obwohl Infarkte und Schlaganfälle als typische Männerkrankheiten gelten und männliche Patienten tatsächlich häufiger davon betroffen sind, sterben – in der Schweiz wie in Österreich und Deutschland – mehr Frauen an solchen Ereignissen.
Zahlen des BAG Schweiz belegen, dass Frauen auch deutlich seltener im Spital aufgenommen werden. In Studien (z.B. «Medea» 2017) wurde festgestellt, dass bei Frauen mit einem Herzinfarkt, vor allem in der Altersgruppe über 65, oft mehr als vier Stunden vergehen, bis sie in der Notaufnahme sind. Bei Männern im gleichen Alter dauert es etwa eine Stunde weniger. Gründe dafür gibt es etliche – zum Teil sind sie auch bei den Frauen selbst zu suchen. Daher sollte sich jede und jeder bewusst sein, dass es diese Unterschiede gibt.
Treffen die Symptome zu, rufen Sie in jedem Falle den Notarzt. Zeit ist in solchen Fällen kostbar; Zögern kostet Leben.
Nicht nur die Symptome eines Herzinfarktes können bei Frauen ganz anders sein. Es gibt biologische und gesellschaftliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die – nicht nur bei Herzinfarkten – Folgen haben. Aus biologischer bzw. medizinischer Sicht hat die Kombination der Chromosomen (XX vs. XY) Auswirkungen auf die gesamte Anatomie, den Hormonhaushalt und den Stoffwechsel, das Herz-Kreislauf- und das Immunsystem, die Organe und ihre Alterungsprozesse sowie auf allgemeine gesundheitliche Risiken. Gesellschaftlich gesehen tendieren Frauen dazu, Beschwerden eher zu bagatellisieren; oft genug aber werden sie auch von Ärzten nicht ernst genommen.
Deutliche Unterschiede finden sich in folgenden Punkten (Details in den folgenden Abschnitten):
Frauenherzen wiegen etwas weniger (etwa 250 Gramm, gegenüber 300 Gramm bei einem durchschnittlichen Männerherz) und sind aufgrund der hormonell bedingt geringeren Muskelmasse nicht so kräftig. Ein Frauenherz schlägt deshalb häufiger – der Puls liegt etwa zehn Punkte pro Minute höher als beim Mann. Es muss sich also mehr anstrengen, um täglich vier bis sechs Liter Blut durch den Körper zu pumpen. Auch die Blutgefässe weisen Unterschiede auf. Durchmesser und Fläche der Arterien sind bei Frauen geringer, sie verlaufen häufiger gewunden und neigen stärker zu Rissen.
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Das weibliche Hormon Östrogen hat eine Schutzwirkung auf das Herz. Es verhindert z.B. Ablagerungen an den Wänden der arteriellen Blutgefässe (Arteriosklerose) und hält die Gefässe im gesamten Körper elastisch. Östrogen hält also das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall in jüngeren Jahren gering. Mit den Wechseljahren und sinkendem Hormonspiegel nimmt dieser Schutz ab. Die Gefässe werden steifer, der Blutdruck steigt. Männerherzen werden im Alter oft weit und schlaff, das der Frau dehnt sich dagegen nicht mehr gut. Damit steigt das gesundheitliche Risiko: Bei Frauen über 50 sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen die Todesursache Nummer eins. Die klassischen und leider immer noch zu wenig beachteten Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Diabetes, Fettstoffwechselstörungen und das Rauchen sind für beide Geschlechter gefährlich.
Laut der Herzspezialistin Prof. Dr. Sandra Eifert (Autorin des Buches «Herzsprechstunde») spielen jedoch bei Frauen im Hinblick auf die Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen Bluthochdruck und Zucker eine grössere Rolle als bei Männern. Laut Spezialistinnen sind bei Frauen die typischen Infarktzeichen im EKG ebenso wie bei den Blut-Laborwerten oft viel weniger ausgeprägt bzw. unauffälliger als bei Männern. Infolgedessen werden Frauen oft nicht so intensiv und vorrangig behandelt, wie es nötig wäre. Sie werden eher wieder nach Hause geschickt. Auch Schmerzen werden bei Frauen gerne als «psychisches Problem» abgetan.
Frauen sind in der medizinischen Forschung unterrepräsentiert. Der Mann und sein Organismus sind der Massstab für Diagnosen und Therapien sowie für die Entwicklung von Medikamenten. Zwar ist die Forderung an die Arzneimittelhersteller, sowohl an Männern als auch Frauen zu forschen, seit Jahrzehnten in internationalen Leitlinien verankert. Doch lässt in grossen Teilen Europas die Gleichstellung der Geschlechter im Bereich der klinischen Forschung immer noch zu wünschen übrig. In der Schweiz fehlt eine rechtliche Regelung ganz.
Die Situation in der Arzneimittelforschung ausführlich darzustellen, würde hier viel zu weit führen. Daher seien nur anekdotisch zwei gar nicht lustige Beispiele für den schiefen Blick in der Forschung aufgeführt: 2019 (!) veröffentlichte ein internationales Forscherteam eine Studie über eine entzündungshemmende Substanz, die aus der Herbstzeitlose gewonnen wird. Der Stoff schütze Herzinfarktpatienten vor einem erneuten Ereignis. Nur ganz nebenbei wird erwähnt, dass dies nur für männliche Patienten gilt – bei Frauen zeigt die Substanz überhaupt keine Wirkung.
Ganz modern sind ja auch Gesundheits-Apps. Nur: Laut der Psychologin und Präventionsforscherin Gertraud Stadler von der Charité Berlin schickt die in Grossbritannien verwendete App «Babylon» einen 65-jährigen Mann mit Brustschmerz in die Notaufnahme und eine gleichaltrige Frau mit denselben Symptomen mit der Diagnose «Panikattacke» nach Hause.
Dass Arzneimittel aufgrund der unterschiedlichen Zusammensetzung des Organismus (Frauen: mehr Fett, Männer: mehr Wasser und Muskelgewebe) auch unterschiedlich lange im Körper bleiben, bis sie abgebaut werden, ist bekannt. Auch die Leberenzyme, die die Mittel um- und abbauen, differieren bei Männern und Frauen in ihrer Aktivität. Spezialistinnen gehen davon aus, dass etliche Medikamente bei Frauen zu stärkeren Nebenwirkungen führen können. Ein Beispiel: Frauen, die ACE-Hemmer – gängige Blutdrucksenker – einnehmen, leiden doppelt so häufig unter einem trockenen Reizhusten wie Männer. Bei der Behandlung und Verordnung werden diese Unterschiede jedoch noch immer zu wenig beachtet, auch beim Thema Herzinfarkt.
Eine Studie in elf europäischen Ländern (Quelle: Fachzeitschrift «The Lancet») macht deutlich, dass Frauen mit einer bestimmten Form der Herzinsuffizienz (die einem Infarkt meist vorausgeht) eine andere Medikation brauchen als Männer. So empfehlen die Autorinnen und Autoren beispielsweise niedrigere Dosen von blutdrucksenkenden Mitteln und anderen Medikamenten, die üblicherweise zur Behandlung einer Herzinsuffizienz verordnet werden (beispielsweise ACE-Hemmer, Angiotensin-Rezeptorblocker und Beta-Blocker). Generell stellen sie die Frage, was denn die wirklich optimale medikamentöse Therapie für Frauen sein könne.
Frauen sind oft so etwas wie die Hausärztin der Familie. Sie wissen, ob Symptome auf eine Erkältung oder eine Grippe hindeuten, versorgen kleine Verletzungen, kennen sich aus mit den gängigen Kinderkrankheiten und wissen, dass es ein Alarmzeichen ist, wenn der Mann über Schmerzen im linken Arm klagt. Was sie selbst angeht, tendieren sie jedoch dazu, sowohl ihre Risikofaktoren zu unterschätzen als auch ihre Beschwerden herunterzuspielen. Nicht nur Ärzte müssen Frauen ernster nehmen – auch die Frauen selbst müssen sich um ihre eigene Gesundheit kümmern wie um die anderer.
Schon morgens im Bad können Sie für die Gesundheit Ihres Herzens sorgen. Ungenügende Mund- und Zahnpflege, das zeigen Studien, erhöhen das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Arteriosklerose um ein Vielfaches. Das heisst nicht nur gründliches und sorgfältiges Zähneputzen, sondern auch, entzündliche Prozesse im Mundraum sofort zu behandeln und zweimal im Jahr zur Kontrolle die Zahnärztin besuchen.
Regelmässige Bewegung, auch moderate, ist für Herz und Kreislauf allemal gut. Versuchen Sie, für gesunden Schlaf zu sorgen und Stressfaktoren so gut wie möglich abzubauen. Bei unvermeidbaren körperlichen und seelischen Belastungen sollten mindestens Entspannungsphasen eingeplant werden, auch mit Hilfe von aussen. Vermeiden Sie Perfektionismus. Wenn Sie sich nun noch ausgewogen, leicht und möglichst mediterran ernähren, halten Sie Risikofaktoren wie Übergewicht, Diabetes und Arteriosklerose in Schach.
Erleben Sie trotz aller Selbstfürsorge Symptome, die für einen Herzinfarkt sprechen: Zögern Sie nicht, rufen Sie Rettungsdienst und Notarzt so schnell wie möglich; es kann um Minuten gehen. Falsche Rücksichtnahme hilft weder Ihnen noch dem medizinischen Personal. Für eine Sanitäterin oder einen Notarzt ist es mit Sicherheit weniger belastend, wenn sie einmal zu viel zu einem Notfall gerufen werden, als wenn eine Patientin stirbt, obwohl sie hätte überleben können.
Der «typische» Brustschmerz ist kein sicheres Anzeichen. Er kann bei Frauen ganz ausbleiben. Zudem tritt dieser Schmerz bei Frauen wie bei Männern im Alter (über 65) seltener auf; ein sogenannter «stummer Herzinfarkt», auch dieser kann bei Frauen und Männern vorkommen, verläuft sogar ganz ohne Symptome. Frauen zeigen bei einem Herzinfarkt häufiger als Männer Krankheitsanzeichen, die unspezifisch wirken. Werden sie falsch interpretiert und/oder behandelt, etwa als Magenprobleme oder einfache Rückenschmerzen, kann es lebensgefährlich werden.