Flechten sind Überlebenskünstler, aber auch gefährdet. Die Zwitterwesen haben ein beachtliches Potenzial, gerade auch als Heilmittel.
Autorin: Gisela Dürselen
Flechten (Lichenes) können je nach Art extremer Hitze oder auch Kälte widerstehen; sie regenerieren sich nach langer Trockenheit und haben sogar ein Weltraumexperiment mit einer Reise ins All überlebt. Auf dem Planeten Erde besiedeln sie lebende Bäume genauso wie Totholz, trockene Böden und Schotterebenen, Felsen und Pflastersteine, Zäune und Betonmauern und sogar Wasser und glatte Materialien wie Glas. Dass sie kaum beachtet werden, liegt daran, dass die meisten Exemplare unscheinbar klein sind. Manche sogar so klein, dass man sie nur unter der Lupe erkennt. Nur einige, z.B. die auf Bäumen wie Lametta herabhängende und in der Schweiz sehr seltene Usnea longissima, die Engelshaar-Flechte, können bis zu ein paar Meter lang werden.
Dort, wo Flechten auf Bäumen wachsen, entziehen sie ihrem Wirt keine Nährstoffe. Denn Flechten sind keine Parasiten, sondern nutzen die Borke der Rinde nur zum Festhalten und versorgen sich selbst aus Sonne, Regen und dem aus der Luft anfliegenden Staub.
Flechten sind keine Pflanzen mit Wurzeln, sondern eine Lebensgemeinschaft aus einem Pilz und Grünalgen oder Cyanobakterien: Der Pilz verleiht der Flechte ihren Namen, da er fast immer Form und Struktur vorgibt. Die Algen und Bakterien schenken dem Pilz Kohlenstoff, erzeugen mithilfe von Photosynthese Zucker und versorgen damit den Pilz. Im Gegenzug liefert der Pilz seinen Partnern Nährstoffe und Wasser, schützt sie vor Fressfeinden und UV-Strahlen und verbindet die Flechte mit der Unterlage. Laut der Bryologisch-lichenologischen Arbeitsgemeinschaft für Mitteleuropa können auf oder in einer Flechte sogar noch weitere Pilze, Algen und Bakterien leben, die sich an der Lebensgemeinschaft beteiligen und dieser eine zusätzliche Vitalität verleihen.
Weltweit existieren Schätzungen zufolge zwischen 20 000 und 25 000 Flechtenarten. In der Schweiz wurden laut Prof. Dr. Christoph Scheidegger ungefähr 2000 verschiedene Arten nachgewiesen. Verglichen mit Blütenpflanzen gebe es vor allem in Gebirgs- und Hochgebirgsregionen sehr viele verschiedene Arten. Prof. Scheidegger ist seit seiner Pensionierung wissenschaftlicher Gast an der Forschungseinheit Biodiversität und Naturschutzbiologie der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in Birmensdorf und Hauptautor des im August 2023 erschienenen Buches «Flechten der Schweiz». Der Naturführer richtet sich an Laien, präsentiert Artenporträts mit Verbreitungskarten und Exkursionsvorschlägen und erklärt, warum der Schutz dieser meist unscheinbaren Organismen so wichtig ist.
In ihren Ökosystemen stehen Flechten laut Prof. Scheidegger «am Anfang der Nahrungskette». Sie produzieren weltweit viele Tonnen Biomasse, die von unzähligen Schnecken, Gliederfüssern und Insekten gefressen werden. Diese Tiere finden in den Flechten ihren Lebensraum und dienen wiederum als Nahrung für andere. Grössere Flechtenarten, wie die in den Alpen wachsenden Strauchflechten, lassen Raufusshühner, Gämsen und Steinböcke den strengen Gebirgswinter überleben; in nördlichen Zonen sind Rentiere weitgehend abhängig von Flechten als winterliche Nahrungsquelle.
In manchen Regionen der Welt bereichern Flechten auch den menschlichen Speisezettel. In der japanischen Küche zum Beispiel gelten Umbilicaria esculenta-Flechten, in China Lobaria als Delikatessen. Cladonia rangiferina, die Echte Rentierflechte, diente ursprünglich zum Aromatisieren des skandinavischen Nationalgetränks Aquavit, und auch zum Bierbrauen und zur Brotherstellung nutzten Menschen einst verschiedene Flechtenarten.
Aus Flechten wird der blauviolette Lackmus-Farbstoff gewonnen, verschiedene Düfte aus Flechtenstoffen finden bis heute in der Kosmetik Verwendung, und sogar als Dekoration und Dämmstoff beim Hausbau kommen Flechten zum Einsatz.
In der Vergangenheit fanden sich Flechten zudem in Giftködern. Aktuelle Studien untersuchen das Potenzial von Flechtenwirkstoffen als neuartige Biopestizide.
Wegen ihrer Inhaltsstoffe sind Flechten seit vielen Jahrhunderten auch Heilmittel und Medizin. Laut einer internationalen Übersichtsstudie von 2021, an der auch die WSL beteiligt war, stammt der vermutlich früheste Bericht über die traditionelle medizinische Verwendung von Flechten aus der Zeit um das Jahr 1500. Den historischen Belegen zufolge wurden verschiedene Arten aus der Gattung der Bartflechten (Usnea) damals zur Behandlung von Kälte, Schwellungen und Schmerzen verwendet. Im Himalaya und in den südwestlichen Teilen Chinas werden laut der Studie noch heute insgesamt 142 Flechtenarten medizinisch verwendet und 42 Arten als Nahrungsmittel genutzt. Die Studie berichtet ferner, dass Flechten im Laufe der Zeit für viele verschiedene medizinische Zwecke gebraucht wurden. Einige Verwendungen kommen überall auf der Welt vor: zur Behandlung von Beschwerden an der Lunge und dem Verdauungssystem, bei gynäkologischen Erkrankungen und solchen der Harnwege, bei Augenleiden sowie Hautinfektionen und Wunden.
Lobaria, die Lungenflechte, ist in China bis heute Nahrungs- und gleichzeitig Heilmittel. Bartflechten (Usnea) gelten als natürliches Antibiotikum. Cetraria islandica L., auch als isländische Flechte und isländisch Moos bekannt, ist kein Moos, sondern ebenfalls eine Flechte und findet sich wegen ihrer Bitterstoffe und reizlindernder Schleimstoffe unter anderem in Verdauungstees sowie Hustenbonbons und Lutschpastillen gegen Halsweh.
In verschiedenen weiteren Studien untersuchten Wissenschaftler die Inhaltsstoffe, die den in der Volksmedizin verwendeten Flechten ihre therapeutische Kraft verleihen. Die Analysen ergaben neben Vitaminen, Mineralien, Proteinen und Mehrfachzucker auch Carotinoide und Aminosäuren. Allerdings wurden bei einigen Arten auch Allergene gefunden, so bei Evernia prunastri, dem sogenannten Eichenmoos. Diese Strauchflechte wächst vor allem auf Eichen und war bis 2004 die Basis für einen begehrten Duftstoff in der Parfümerie.
Pharmakologisch besonders interessant scheinen die sogenannten sekundären Flechtenstoffe aus der Gruppe der Polyketide. Diese Stoffwechselprodukte werden häufig in Flechten nachgewiesen. Da es Nachweise für ihre antientzündlichen, antibakteriellen und antiviralen sowie krebshemmenden Eigenschaften gibt, stieg in den vergangenen Jahren das Interesse an diesen Substanzen.
Als eine der ersten kommerziell genutzten und inzwischen auch synthetisch hergestellten sekundären Flechtenstoffe wurde Usninsäure intensiv untersucht. Usninsäure ist ein Stoffwechselprodukt der Gattung der Bartflechten (Usnea), von der weltweit über 600 Arten bekannt sind, und deren Vertreter auch in den Alpen häufig wachsen. Der Wirkstoff mit seinen stark antibiotischen Effekten bietet Flechten einen chemischen Frassschutz gegen Insekten und ist Bestandteil verschiedener Futter- und Nahrungsergänzungsmittel sowie Kosmetika und Präparaten zum Abnehmen. Modernen pharmakologischen Studien zufolge soll Usninsäure beim Menschen unter anderem die Wundheilung und die Bildung antioxidativer Enzyme fördern, ferner Schleimhautschäden lindern und gegen UV-Licht schützen.
Die Aufmerksamkeit medizinischer Forscher zogen allerdings auch mehrere Hinweise auf sich, dass Usninsäure in Hautpflegeprodukten allergische Dermatitis auslösen sowie innerlich eingenommen in höheren Dosen zu schweren Leberschäden führen kann. Nach mehreren Fallberichten warnte die US-amerikanische Arzneimittelbehörde vor der Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln mit reiner Usninsäure und nahm dementsprechende Präparate vom Markt. Auch in Europa ist der Wirkstoff Usninsäure nicht im Europäischen Arzneibuch zu finden.
Angesichts der vielfältigen positiven Eigenschaften suchen Forscher nun nach den genauen Mechanismen der Toxizität, um so vielleicht den Weg für einen sicheren Gebrauch zu ebnen.
Dass manche Flechtenarten inzwischen selten geworden sind, liegt an genau jenen Eigenschaften, denen sie auch ihre Robustheit verdanken: an der extremen Langsamkeit ihres Wachstums, an ihrer Existenz als Zwitterwesen ohne Wurzeln und an ihrer Spezialisierung auf sehr klar definierte Standorte. In den 1970er-Jahren, der Hochzeit der Kohleverbrennung, litten Flechten heftig unter dem sauren Regen durch Schwefeldioxid. Flechten hätten besonders sensibel darauf reagiert, weil sie neben den Nährstoffen auch Schadstoffe nahezu ungefiltert aus Luft und Regen aufnehmen, so Prof. Scheidegger. Inzwischen liegt das Problem aber nicht mehr am Schwefel, sondern an Stickstoffverbindungen aus Landwirtschaft, Industrie und Verbrennungsprozessen. Diese wirken wie Dünger, führen aber keinesfalls zu mehr Artenreichtum.
Denn durch die zusätzliche Düngung werden manche der langsam wachsenden Flechten von konkurrenzstärkeren Pflanzen überwachsen, andere können sich nicht flexibel genug auf eine zu rasche Veränderung ihres Lebensraums einstellen. Etwa, weil sich ein Wald durch üppige Vegetation verdunkelt, weil die Temperaturen steigen oder für die wechselfeuchten Organismen das Schmelzwasser aus den Bergen ausbleibt. Damit ist der Klimawandel auch ein Faktor für Veränderungen in Flechtenpopulationen.
Da Flechten auf Veränderungen ihrer Umgebung höchst sensibel reagieren, eignen sie sich ideal als Anzeiger-Organismen für Luftschadstoffe und den Klimawandel. Damit sind sie eine Art Frühwarnsystem. Denn das, was die Flechten heute schädigt, kann längerfristig auch andere Teile ihres Ökosystems schwächen. In der Schweiz existiert schon seit den 1980er-Jahren ein Monitoring zur Luftqualität anhand von baumbewohnenden Flechten. Laut dem Schweizerischen Bundesamt für Umwelt (BAFU) hat sich die Luftqualität seit dem Jahr 2000 zwar merklich verbessert; zugleich jedoch belasten übermässige Stickstoffeinträge die Umwelt in einem Ausmass, das deutlich über den kritischen Belastungswerten liegt.
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Schützenswert sind Flechten nicht nur, weil sie der Erosion entgegenwirken, Stickstoff aus der Luft binden und damit den Boden versorgen sowie als Lebensraum und Nahrungsquelle ganz generell zur Biodiversität und Stabilität ihres Ökosystems beitragen. Sie sind auch ökologisch wertvoll, weil sie ihrerseits aufs Klima einwirken, indem sie wie Algen und Moose der Luft auch grosse Mengen Kohlenstoffdioxid entnehmen und diese in Böden einspeichern.