Gesund scheint heute nicht mehr auszureichen: «Superfood» muss es sein. Exoten, für die es einheimische Alternativen gäbe. Altbewährtes, das plötzlich Promi-Trendgemüse ist. Was steckt dahinter? Kritische Betrachtung eines Ernährungsphänomens.
Autorin: Andrea Pauli, 09.16
«Kind, iss Obst, da sind Vitamine drin», bekam man früher zu hören. Zum braven Aufessen von Salat und Gemüse wurde gemahnt. Das war's, mehr galt es nicht zu wissen. Heute zeigt sich ein anderes Bild. Da macht sich eine regelrechte Ernährungshysterie breit. Gesund allein reicht nicht mehr – es muss jetzt «super» sein. In immer kürzeren Abständen wird irgendein Lebensmittel zum «Superfood» gekürt, das nahezu wundersame Wirkungen auf den menschlichen Organismus verspricht. Alterungsprozesse und Krankheiten liessen sich mit dem Verzehr aufhalten, heisst es, das Krebsrisiko verringern, die Blutfettwerte senken. Natürlich immer auf der Basis «jüngster wissenschaftlicher Erkenntnisse».
«Der Begriff ‹Superfood› ist ein Begriff, der aus dem Marketing stammt», erklärt Dr. Stephanie Seifert vom Institut für Physiologie und Biochemie der Ernährung am Max Rubner-Institut (MRI), Karlsruhe.
«In der Welt der Ernährungsforschung kennen wir den Begriff nicht. Als ‹Superfood› gelten zurzeit einzelne Lebensmittel, die ganz besonders reich an bestimmten Inhaltsstoffen sein sollen, also besser und höherwertiger als herkömmliche Lebensmittel und deren Verzehr die Gesundheit in besonderem Masse fördern soll», so die Wissenschaftlerin.
Von A wie Açai über M wie Moringa, Maca, Mesquite und S wie Schizandra kann man beinahe das gesamte ABC auf der Suche nach «Superfood» durchspielen. Auffällig ist, dass besonders gern Exoten der Super-Status zugeschrieben wird.
Den grössten Bekanntheitsgrad haben derzeit Chia-Samen. Plötzlich sind sie überall, im Brot beim Dorfbäcker, im Müesli, abgepackt beim Discounter. Unscheinbare kleine schwarze und weisse Körnchen, die in Wasser gelegt rasch aufquellen und eine glibberige Konsistenz entwickeln. Und was nicht alles in ihnen steckt: die vierfache Menge Eisen von Spinat, das 15-fache an Magnesium, verglichen mit Brokkoli, und zehnmal mehr Omega3-Fettsäuren als Lachs, so die Werbeversprechen. Ein wahres Gesundwunder also, diese «Powernahrung der Azteken».
Die beeindruckende Nährstoff-Rechnung geht allerdings nicht so recht auf, denn sie bezieht sich schlicht nicht auf die üblichen Verzehrportionen. Vor einem «Zuviel» warnt jedenfalls die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit. Sie empfiehlt, täglich nicht mehr als 15 Gramm Chia-Samen zu sich zu nehmen. Sehr vernünftig, möchte man anfügen, denn wie die Erfahrung zeigt, hat Chia vor allem «Verdauungs-Power». Mit viel Wasser eingenommen, wirken die Samen abführend, mit zu wenig kann es zu massiver Verstopfung kommen.
Eine ähnlich steile «Super-Karriere» wie Chia hat die chinesische Goji-Beere hingelegt. Die Vitamine A, C, E, Spurenelemente, Phytonährstoffe und Antioxidantien sollen in ihr stecken, viel Eisen und immunstärkende Mehrfachzucker. Wie auch immer: Die schrumpelig-getrocknete kleine «Glücksbeere» ist ein Verkaufsschlager.
Ebenfalls Super-Status hat die Acai-Beere aus den Regenwäldern des Amazonas. Die in ihr enthaltenen, sekundären Pflanzenstoffe (Anthocyane) wirken als Antioxidanzien, die freie Radikale fangen und die Erneuerung der Zellen fördern. Damit verlangsamen sie den Alterungsprozess, so die Anbieter.
Garniert werden die angepriesenen Heilwirkungen von «Superfood» gerne mit der langen Tradition des Samens, der Beere oder des Korns, welche vor Jahrhunderten bereits Ureinwohner gestählt und zu ungeheuren Leistungen befähigt hätten.
Auf die Hitliste der glamourösen Ernährungswunder schafft es «getarnt» aber auch so mancher heimische Grüngenosse. Wie Kale, in der Schweiz als Federkohl, in Deutschland als Grünkohl bekannt. Seit das Vitamin C- und kalziumreiche Gemüse in Hollywood als angeblich hautstraffender und gewichtsreduzierender Smoothie Karriere machte, firmiert es bei uns ebenfalls als «Superfood».
Superfrisch kommen die exotischen Superkräfte nicht unbedingt auf den Tisch. Vieles wird getrocknet, gefroren, in Form von Pulver oder Presslingen angeboten, das ist den langen Transportwegen geschuldet. Oder der Tatsache, dass Rohverzehr (z. B. von Aronia-Beeren) nicht immer empfehlenswert ist. An dieser Stelle darf es beim kritischen Verbraucher gerne klingeln: Lange Wege, das bedeutet hohe (Transport-)Kosten und Qualitäts-, weil: Frischeverlust
Geht das nicht einfacher? Doch: Es gibt vergleichbare Früchte, Samen und Beeren aus der Region, die es in ihrer gesundheitlichen Wirksamkeit mühelos mit dem ausländischen «Superfood» aufnehmen können. Deutlich preiswerter sind sie sowieso. Statt Chia mischt man sich eben herkömmlichen Leinsamen ins Müesli. Der hat den höchsten Anteil an Omega-3-Fettsäuren aller Ölsaaten, besonders Linolsäure – gut für die Durchblutung der Arterien und blutdrucksenkend.
Anstelle von Goji-Beeren ist man hinsichtlich des Vitamingehalts mit Himbeeren oder Johannisbeeren genauso gut dran. Das lässt sich beliebig fortführen. Das hochgelobte Chlorophyll der amerikanischen Afa-Algen kommt in jedem grünen Blattgemüse vor. Der hohe Betacarotingehalt von indischem Moringa (Meerrettichbaum) steckt ebenso in Möhren.
Woraus sich schlussfolgern lässt: Herkömmliches Obst und Gemüse ist auch «Superfood». Schon immer gab es pflanzliche Lebensmittel, die den menschlichen Organismus vor Beschwerden schützen oder bei der Heilung unterstützen. Sie wachsen direkt vor unserer Haustür.
Weshalb dann der ganze Wirbel, mag man sich fragen. Die Gründe sind vielschichtig. Wirtschaftliche Interessen stecken dahinter, psychologische Faktoren spielen ebenso eine Rolle wie ein gewandeltes Ernährungsbewusstsein.
«Pflanzen schützen vor Beschwerden und unterstützen Heilungsprozesse des menschlichen Organismus»
Ernährung ist «Lifestyle» - Punkt. Was exotisch ist oder klingt ist Trend und «gesund». Auch wenn die Beweislage dünn ist.
Es ist schick geworden, sich übers Essen zu definieren. Sozialwissenschaftler sprechen bereits von einer «Ersatz-Religion». Ernährung ist «Lifestyle», und wer diesem anhängt, möchte Vorreiter sein. Nahrungsmittel mit einem «Super»-Image kommen da gerade recht. Befördert wird diese Fixierung auf herausragende Lebensmittel auch durch die Medien. Zahllose Food-Blogger reiten im Internet auf der «Superfood»-Welle mit, TV-Köche geben entsprechende Kochbücher heraus. Allein die Präsentation von Lebensmitteln hat einen ganz besonderen Stellenwert entwickelt. Was dazu führt, dass wir unsere Wertschätzung fürs Essen immer mehr über dessen optischen Auftritt definieren.
Laut einer Umfrage der British Dietetic Association haben 61 Prozent der Befragten ein Lebensmittel schon einmal nur deshalb gekauft, weil es ein «Superfood» ist. Der Arzt und Autor Ben Goldacre schreibt in seinem Buch «Bad Science»: «Letztlich muss man zu dem Schluss kommen, dass wir anscheinend exotische Superfoods mit Sonderwirkungen haben wollen, auch wenn die Beweislage dünn ist. Der psychologische Effekt einer Beere aus dem Himalaya ist wohl einfach grösser als der einer Kirsche aus Frankfurt.»
Unbestritten ist, dass es mehr Forschungsergebnisse denn je zur Wirkung von Obst und Gemüse auf den menschlichen Organismus gibt. Wie aussagekräftig diese tatsächlich sind, bedarf eines scharfen Blicks. «Wissenschaftlich fundierte Studien, die wir als Basis unserer Arbeit sehen, sind rar», sagt Dr. Seifert vom MRI.
Die Bedingungen, unter denen Nahrungsmittel im Labor untersucht werden, unterscheiden sich in der Regel erheblich von der Art des tatsächlichen Verzehrs im täglichen Leben. Für viele Untersuchungen werden Tiere (z. B. Ratten) eingesetzt oder Labor-Experimente mit isolierten Kulturen menschlicher Zellen durchgeführt.
So erhalten die Forscher zwar eine Vorstellung von den Gesundheitseigenschaften gewisser Nahrungsmittelbestandteile. Doch das ist keine Garantie, dass diese beim Menschen nach dem Verzehr tatsächlich dieselben Wirkungen erzielen. Denn Ernährungsweise, Gene und Lebensstil sind individuell verschieden.
In der Regel wird die «heilsame Wirkung» eines Lebensmittels einzeln untersucht. Im Alltag jedoch nimmt man verschiedene Nahrungsmittel zu sich. Wiederum werden laut dem Europäischen Food Information Council (EUFIC) den Tieren oder Zellkulturen unter Forschungsbedingungen oft viel höhere Nährstoffmengen zugeführt, als dies bei üblicher Ernährung der Fall ist. Viel hilft dabei gar nicht mal viel: Die physiologische Wirkung zahlreicher «Superfoods» respektive einzelner Wirkstoffe halte meist nur über einen kurzen Zeitraum an.
Woraus sich schliessen lässt: Mit den Ernährungsgewohnheiten von uns Normalbürgern haben die Ergebnisse der ins Rampenlicht gerückten Studien nur bedingt zu tun. «Der Verzehr einzelner, isoliert betrachteter Lebensmittel kann nicht helfen, Ernährungsfehler oder ‹Ernährungssünden› auszugleichen», gibt Dr. Seifert zu bedenken.
Verfechter der «Superfood»-Strategie preisen gerne den «ORAC-Wert», der ihre Produkte auszeichne. Die Karlsruher Ernährungsforscherin erklärt, was dahinter steckt: «ORAC steht für ‹Oxygen Radical Absorbance Capacity› und ist ein Mass für die chemische Fähigkeit, Sauerstoffradikale unschädlich machen zu können. Ganz grob geht es also um den vielgepriesenen ‹Schutz vor freien Radikalen› und die antioxidative Wirkung.
Der ORAC-Wert ist ein reiner Laborwert und wird im Reagenzglas bestimmt. Für die Messung des ORAC-Wertes muss das Lebensmittel zunächst in eine Form überführt werden, die bei diesem Test im Reagenzglas eingesetzt werden kann. Bei Lebensmitteln sind das häufig Auszüge. Der komplexe Prozess des Verzehrs eines Lebensmittels, also der gesamte Verdauungsprozess, die Aufnahme bestimmter Inhaltsstoffe in den Körper und ihre Verstoffwechselung kann in einem solch künstlichen Labortest, der auf einer simplen chemischen Reaktion basiert, überhaupt nicht abgebildet werden. Ausserdem genügt ein einzelner Test nicht, um die antioxidative Wirkung eines Lebensmittels oder seines Extrakts zu erfassen.
Der ORAC-Wert kann also keine Aussage zur gesundheitlichen Bedeutung eines Lebensmittels liefern!», stellt Dr. Seifert fest.
Je exotischer, desto gesünder wollen uns «Superfood»-Anbieter glauben machen. Von je weiter her, desto belasteter, ist man aber geneigt zu sagen. Die Tester der Zeitschrift «Öko-Test» fanden zum Teil massive Schadstoffbelastungen in den Produkten.
Bereits 2013 hatte Greenpeace in einer Studie über chinesische Goji-Beeren erhebliche Pestizid-Rückstände festgestellt; nun machte auch «ÖkoTest» 16 verschiedene Pestizide in den roten Beeren aus. Fünfzehn von 22 untersuchten «Superfoods» musste «Öko-Test» die Note «ungenügend» oder «mangelhaft» geben. Eine Probe von Chia-Samen wurde gar als «nicht verkehrsfähig» eingestuft, da die hochgiftigen Unkrautvernichtungsmittel Diquat und Paraquat darin nachgewiesen wurden. In Pillen und Pulvern mit Moringabaumblättern wiederum entdeckten die Chemischen und Veterinäruntersuchungsämter Stuttgart neben Pestiziden auch Salmonellen.
Ebenfalls gerne mal im Gepäck der weit gereisten Wundermittel: Mineralöl, Feinstaub, Cadmium, Keime, Schimmelpilze. Besondere Vorsicht ist angesichts von Produkten aus dem Internet geboten, bei denen Herkunftsland und Produktionsbedingungen unklar sind.
Doch selbst wenn man im Bioladen oder Reformhaus seines Vertrauens weitgehend unbelastetes «Superfood» erhält, sind die Exoten mit Vorsicht zu geniessen. Für Goji-Beeren gibt es eine Warnung des deutschen Bundesinstitutes für Arzneimittel, denn die Beeren stehen im Verdacht, Wechselwirkungen mit einigen Blutverdünnern auszulösen.
Ernährungswissenschaftler raten aus diesem Grund auch davon ab, hochkonzentrierte Extrakte wie die Maca-Wurzel oder die Spirulina-Alge regelmässig einzunehmen.
«Übrigens hat bisher kein ‹Superfood› einen Health Claim von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit erhalten. Health Claims sind gesundheitsbezogene Aussagen, die über wissenschaftliche Studien belegt sein müssen. Sämtliche Anträge für ‹Superfoods› wurden abgelehnt», gibt Dr. Seifert zu bedenken.
Abgesehen von medizinischen Wechselwirkungen gibt es auch ökologische, die alles andere als vorteilhaft sind. Da wäre zum einen der bereits erwähnte lange Transportweg von exotischem «Superfood», der eine negative Schadstoffbilanz für die Umwelt mit sich bringt. Starke Nachfrage bei uns bedeutet in der Regel höhere Preise für das Produkt im Erzeugerland. Die Produzenten können sich die Lebensmittel, von denen sie sich traditionell ernähren, infolgedessen nicht mehr leisten.
Das explosionsartige Nachfragewachstum verändert auch die Anbaumethoden: Nachhaltige Bewirtschaftung mit geringen Erträgen weicht Monokulturen mit hoher Ausbeute, gefolgt von einem erhöhten Einsatz von Pestiziden. Das kann die langfristige Produktivität des Ökosystems gefährden, resümiert die Investment AG «responsAbility» in einer Fallstudie über den Quinoa-Anbau in Bolivien. Erfreulich ist in dieser Hinsicht immerhin ein Projekt der Universität Hohenheim: Es soll verhindern, dass Einheimischen die Grundnahrungsmittel streitig gemacht werden. Die Uni bringt Yacon, Chia und Quinoa auf deutsche Äcker. Es werden bereits gute Ernte-Ergebnisse erzielt. Noch ist ungewiss, wie populär der Anbau einmal bei hiesigen Landwirten sein wird.
Ob Chia und Co. immer noch Trend sind, wenn sie hierzulande munter wachsen, ist fraglich. Man darf davon ausgehen, dass das nächste «Superfood» von gewieften Verkaufsstrategen längst vorbereitet wird. Im Report «Berries in the World» einer finnischen Marktforschungsagentur wurde bereits 2008 das Erfolgspotenzial von «Arctic Berries» erkannt.
Gemeint sind damit Früchtchen aus dem hohen Norden, darunter etliche gute Bekannte wie Heidelbeeren, Preiselbeeren und Sanddorn. Das Zeug zum nächsten Superstar hat aus der «Arctic Berries»-Runde die schwer pflückbare, weil saftigweiche Moltebeere, die in Skandinavien Kultstatus besitzt. Ein Vitamin-C-Lieferant erster Güte, reich an Spurenelementen, von geringem Ertrag und darum sehr teuer: Wenn das mal nicht Top-Merkmale eines «Superfood» sind ...
A.Vogel Tipp:
Wenn es nicht die teure Moltebeere sein muss, empfehlen wir Ihnen unseren einheimischen «Top Vitamin-C Lieferant»: Hagebutte!
Buchweizen: liefert die essenzielle Aminosäure Lysin (wichtig für Wachstum und Immunsystem), enthält Vitamin E (Antioxidans) und das Flavonoid Rutin (sorgt für elastische Blutgefässe), glutenfrei
Gerste: senkt durch ihren Ballaststoffmix den Blutzuckerspiegel; die enthaltenen Schleimstoffe beruhigen den Magen
Hagebutten: vitaminreich (bis zu 1500 mg Vitamin C pro 100 g Frucht) stärken das Immunsystem, hilfreich bei der Wundheilung, enthalten verdauungsregulierende Gerbstoffe
Rote Bete: reich an Kalzium, Kalium, Magnesium, Eisen und Vitamin C, blutdrucksenkende Wirkung, starkes Antioxidans
Topinambur: enthält u.a. Inulin (postive Wirkung auf den Blutzuckerspiegel), Kalium, Magnesium, Eisen und Niacin (wichtig für den Eiweissstoffwechsel)
Walnüsse: reich an Omega-3-Fettsäuren und Vitamin B6, stärken Herz und Kreislauf, verbessern die Konzentration, immunstärkend durch hohen Zink-Anteil
Quitten: reich an Ballaststoff Pektin (bindet Gallensäuren) und damit günstig für Darmflora und Cholesterinspiegel