Viele Kinder und Jugendliche würden sich am liebsten von Süssigkeiten ernähren. Da hilft weder Zureden noch Verbieten. Zum Glück gibt es andere Wege, um «Zuckerkinder» sanft, aber nachhaltig zu beeinflussen.
Autorin: Petra Horat Gutmann
Die Schweizer Nachrichtensendung «10 vor 10» machte unlängst einen Test: Sie bot dreissig Schülern zwei Pausensäcke an. Der eine enthielt ein Weissbrot-Weggli, zwei Schokoladenstängel und ein «Red Bull», der andere ein Vollkornbrötchen, eine Frucht, einen Schoggistängel und Wasser. Das zweite, gesündere Schulfrühstück wählten sage und schreibe zwei Kinder! Nach dem Grund für ihre Wahl befragt, antworteten die anderen 28 Buben und Mädchen, sie wüssten, dass ihr Znüni «nicht so gesund» sei, aber es schmecke viel besser!
Der Test spiegelt ein Phänomen, das längst die meisten Kinder und Teenager erfasst hat: Gemäss einer Studie des Bundesamtes für Gesundheit befolgt nur gerade ein Drittel die Ernährungsempfehlung, Süsses und zuckerhaltige Getränke möglichst wenig bzw. nur eine kleine Portion pro Tag zu sich zu nehmen. Bei den Erwachsenen sieht es ähnlich aus: Konsumierten sie vor 50 Jahren im Schnitt vier Kilo Zucker pro Jahr und Kopf, sind es heute zwischen 35 und 50 Kilo.
Mit diesem Verhalten eng verbunden ist die Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Wie der Schweizer Gesundheitsminister Alain Berset kürzlich erklärte, ist «die Zunahme der ernährungsabhängigen Krankheiten eine der Ursachen für die hohen Gesundheitskosten» – also für die milliardenschweren Ausgaben im Zusammenhang mit Diabetes, Adipositas und Herz-Kreislauf-Störungen.
Für Eltern interessant ist auch der Zusammenhang zwischen Zucker und dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom ADHS. Die im Kanton Zürich tätige Ärztin und Kinderpsychologin Dr. med. Eveline Breidenstein hat beobachtet, dass eine stark zuckerhaltige Zwischenmahlzeit bei kleineren Kindern und ADHS-Betroffenen einen «Energieschub mit Bewegungsdrang und Hyperaktivität» auslöst. Nicht der regelmässige Konsum von Süssigkeiten sollte das Normale sein, sondern der Nicht-Konsum von Süsswaren, fordert Eveline Breidenstein deshalb.
Zu einem ähnlichen Schluss kommt die deutsche Ernährungsforscherin Dr. Petra Kühne, die das Phänomen des Zuckers aus anthroposophischer Sicht untersucht hat. «Kinder, die zu Unruhe und Nervosität neigen, sollten möglichst wenig Zucker essen», sagt Petra Kühne. «Dann beruhigt sich das Nervös-Sanguinische und ein harmonisches Temperament kann sich durchsetzen.»
Welche Wirkungen Zucker hervorruft, wird auch in anderen Medizinalsystemen beobachtet. Aus Sicht der Traditionellen Chinesischen Medizin TCM schwächt ein hoher Zuckerkonsum die Magen- und Milzenergie, die sogenannte «energetische Mitte». «Typische Symptome bei Kindern sind Verdauungsprobleme, Übergewicht, Erkältungsanfälligkeit, Neigung zu verstopfter Nase, Husten, Bronchitis und Mittelohrentzündungen», sagt Pascale Barmet, Naturärztin und diplomierte Ernährungsberaterin für TCM.
Ähnliches berichten Fachleute aus der ayurvedischen Medizin. «Zu viel raffinierter Zucker fördert die Rajas- Qualität, was zu Unruhe bis hin zu Aggressivität führen kann», sagt die in Zürich tätige ayurvedisch-klinische Therapeutin Sonja Gubler. Zucker bewirke eine mentale Zerstreuung, mache hibbelig und könne Konzentrationsschwäche fördern. Langfristig begünstige er das Entstehen von Trägheit und Antriebslosigkeit.
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Und trotzdem sei der süsse Geschmack wichtig, unterstreicht Sonja Gubler: «Gemieden werden sollte Industriezucker, der Süssgeschmack hingegen hat eine wichtige Funktion. Natürlich süss schmeckende Lebensmittel wirken aus ayurvedisch-medizinischer Sicht gewebeaufbauend; das sei für Kinder besonders wichtig. «Deshalb sollten süsslich schmeckende Getreide, Nüsse, Gemüse wie Karotten und Kürbis, reife Früchte, Trockenfrüchte, Honig und süss-warme Gewürze täglich auf dem Speiseplan stehen», empfiehlt Sonja Gubler.
Die Ernährungsfachleute aus Ost und West sind sich einig, dass ein ausgeglichener Blutzuckerspiegel die Gefahr von Süsshunger-Anfällen reduziert. Zu den Lebensmitteln, die den Blutzucker über den Tag hinweg stabil halten, zählen hauptsächlich Gemüse, Salat, Vollkornprodukte und Hülsenfrüchte. Aus diesen Lebensmitteln löst der Organismus die benötigten Zuckermoleküle in einem schrittweisen Prozess heraus und entlässt sie ins Blut.
Im Gegensatz dazu überschwemmen industrielle Süssigkeiten das Blut mit einer Flut «fixfertiger» Zuckermoleküle, was die Bauchspeicheldrüse und den hormonellen Regelkreis auf Dauer überlastet.
Die Berner Ernährungswissenschaftlerin Marianne Botta hat acht Kinder im Alter zwischen vier und 18 Jahren. Sie essen alle fürs Leben gerne Früchte, Salat, Gemüse und Hülsenfrüchte, und verlangen selten nach Zuckerspeisen. Ein Zufall? Marianne Botta glaubt das nicht: «Ich habe meine Kinder von klein auf an eine vollwertige Ernährung gewöhnt.»
In der Tat spielt das Ausbilden von Gewohnheiten beim Süsshunger eine entscheidende Rolle, wie Befunde aus der Ernährungsforschung zeigen. «Die Vorliebe für Süsses ist bei allen Säuglingen der Welt vorhanden», erklärt Marianne Botta. «Hingegen müssen alle Kinder die Freude an Saurem, Salzigen und Bitterem erlernen.
Die dafür notwendigen Geschmacksmuster im Gehirn können sich nur bilden, wenn die Kinder regelmässig von sauren, salzigen und bitteren Lebensmitteln kosten.»
Mit anderen Worten: Eltern können sich in aller Regel darauf verlassen, dass ihr Kleinkind eines Tages mögen wird, was sie ihm immer wieder zum «Reinschmecken» vorsetzen.
Auf der anderen Seite ist es ratsam, den angeborenen Hang zum Süssen nicht unbedacht anzuheizen. Marianne Botta weiss das und kauft aus diesem Grund nie Süssgetränke ein. Im Hause Botta gibt es ausschliesslich Hahnenwasser, allenfalls mit einem Schuss Frucht- oder Zitronensaft. Auch einen «Süssigkeitsvorrat» sucht man bei den Bottas vergeblich. Dafür gibt es jede Menge Saisonfrüchte, die als Dessert verzehrt werden.
Ein wichtiges Bollwerk gegen den Süsshunger ist in Marianne Bottas Augen das Frühstück. Ihre Kinder essen morgens sättigende Speisen, die vor einem Hungerast in der Zehn-Uhr-Pause schützen – zum Beispiel Omeletten, Rührei mit Tomaten und Kartoffeln oder Quark-Getreidemüesli mit Früchten.
Auf ein ähnliches Erfolgsrezept setzt die TCM-Fachfrau Pascale Barmet. Sie empfiehlt, die «energetische Mitte» am Morgen mit einer nährenden, warmen Speise oder einem wärmenden Getränk zu stärken. Ideal sei ein warmer Porridge aus Hafer- oder Hirseflocken, der mit Wasser gekocht und danach mit Honig, Rosinen, Datteln oder Feigen gesüsst werde. Mandeln, Nüsse, Samen, Saisonfrüchte oder Zimt runden den Porridge perfekt ab.
Auch in der ayurvedischen Ernährungspraxis hat der Haferbrei seinen bewährten Platz. Allerdings empfiehlt die Ayurveda-Therapeutin Sonja Gubler, für übergewichtige Kinder einen Porridge aus weniger ölreichen Getreidesorten zuzubereiten, aus Gerste oder Buchweizen, und die Mandeln durch Pistazien, Pinienkerne oder Sonnenblumenkerne zu ersetzen.
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Beide Fachfrauen sind sich einig: Kinder, die auf diese Weise essen, haben mehr Energie, sind weniger oft erkältet und spüren seltener Süsshunger.
«Eine wirklich vollwertige Ernährung macht zufrieden und ausgewogen», weiss Sonja Gubler. Verspüre man hingegen nach dem Essen regelmässig Lust auf Süsses, sei dies ein deutliches Zeichen für ein Ungleichgewicht. Das gelte auch für Kinder, die launenhaft oder missmutig seien, wenn sie keine Süssigkeiten bekämen.
Veränderungspotenzial gibt es auch andernorts: Viele Eltern naschen selbst gewohnheitsmässig Süssigkeiten oder belohnen, trösten und beruhigen ihre Kinder mit Süssem. «Zu häufig wird dem Zucker-Verlangen der Kinder aus eigener Bequemlichkeit oder Überlastung nachgegeben», bestätigt die Ärztin und Kinderpsychologin Eveline Breidenstein.
Dabei sei die Auseinandersetzung mit dem Suchtpotenzial des Zuckers «ein sehr wichtiges Übungsfeld für spätere Suchtbereiche», wie zum Beispiel Computer oder Drogen.
Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt auch die elterliche Wortwahl, wie der deutsche Ernährungspsychologe Dr. med. Thomas Ellrott erklärt: «Für jüngere Kinder ist es weder vorstell- noch erlebbar, was ‹gesund› bedeutet. Hingegen begreifen sie, dass die Eltern hauptsächlich solche Lebensmittel als ‹gesund› bezeichnen, die auf Anhieb eher nicht gut schmecken und die sie essen müssen, obwohl sie sie nicht mögen.»
So könne es passieren, dass die von den Eltern mit guter Absicht als «gesund» betitelten Lebensmittel von Kindern allein aus diesem Grund nicht gemocht würden. «Erfolgversprechender wären Kommentare wie ‹schmeckt richtig lecker, musst Du unbedingt probieren!›, um Kindern Lust auf gesunde Lebensmittel zu machen», sagt Thomas Ellrott. Würden die Eltern obendrein Obst und Gemüse im Beisein der Kinder genussvoll selbst verzehren, sei die bestmögliche Voraussetzung geschaffen, dass die Kinder dieses Verhalten übernehmen.
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