Um die Menschheit in Zukunft satt zu bekommen und zugleich gesund zu erhalten, ist ein grundlegender Wandel die einzige Option. Nachhaltigkeit und Umweltschutz lässt sich auch in jedem Privathaushalt umsetzen, indem man weniger Lebensmittel wegwirft und den Konsum tierischer Produkte einschränkt. Nachhaltigkeit und Genuss schliessen sich dabei nicht aus.
Gisela Dürselen 12/21
Die Gesundheit des Menschen und die der Erde sind untrennbar miteinander verbunden. Offensichtlich wird dieser Zusammenhang bei der Ernährung: Wie können alle Menschen gut und gesund essen, ohne die planetaren Grenzen zu überschreiten?
Laut einer Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) von 2020 bedecken die Flächen für die Nahrungsmittelerzeugung rund ein Drittel der globalen Landfläche. Das hat fatale Folgen für die Umwelt: Die industrielle Landwirtschaft ist mitverantwortlich für Flächenfrass und schwindende Bodenfruchtbarkeit, für Artensterben, Stickstoff- und Pestizidbelastung sowie für Entwaldung und Wasserübernutzung.
Hinzu kommt der Ausstoss von Treibhausgasen aus der Landwirtschaft, der laut dem PIK fast ein Drittel der globalen Emissionen ausmacht. Damit gehört die Landwirtschaft zu den grössten Treibern der Klimakrise – zugleich ist sie auch eine der ersten betroffenen Branchen. Denn Dürren und Starkregenfälle, abnehmende Bodenfruchtbarkeit und ein Mangel an bestäubenden Insekten reduzieren schon heute massiv die Ernteerträge. Ein grundlegender Umbau der Landwirtschaft und des Ernährungssystems ist deshalb ein Schlüsselfaktor für die CO2-Reduktion und Erreichung der Klimaziele. Der Wandel ist auch die einzige Option für die Ernährung der Menschheit in Zukunft.
Denn laut einer Prognose der Vereinten Nationen könnten schon im Jahr 2050 zehn Milliarden Menschen auf dieser Welt leben. Mit der Frage, wie ein ebenso leistungsfähiges wie nachhaltiges Ernährungssystem aussehen könnte und welche Folgen dies für derzeitige Essgewohnheiten in den Industrieländern hätte, beschäftigten sich 37 Wissenschaftler aus 16 Ländern der EAT-Lancet-Kommission, einer Kooperation zwischen der Nichtregierungsorganisation EAT und der Redaktion der medizinischen Fachzeitschrift «The Lancet». Dazu veröffentlichten sie 2019 einen Speiseplan: Dieser gibt als Referenzrahmen an, wie viel von welchen Nahrungsmitteln jedem Einzelnen zustünden, wenn sich zehn Milliarden Menschen ausreichend und gesund ernähren und dabei das Ökosystem schützen wollten.
Der Speiseplan «Planetary Health Diet» könnte laut den Forschern zugleich rund elf Millionen vorzeitige Todesfälle durch Krankheiten aufgrund falscher Ernährung verhindern. Denn während in manchen Regionen Menschen hungern, leiden andere an Übergewicht – mit all den bekannten Folgen für ihre Gesundheit. Auch Übergewichtige sind oft mangelernährt. Obwohl in reichen Ländern zu jeder Jahreszeit alles zu haben ist, besteht ein Ungleichgewicht: Es wird zu viel tierisches Fett und Eiweiss und zu viel Salz konsumiert; verspeist werden ferner viele hochverarbeitete Nahrungsmittel, die arm an Mikronährstoffen sind.
Die EAT-Lancet-Kommission empfiehlt einen grundlegenden Wandel der vorherrschenden Essgewohnheiten in den Industrieländern. Demnach besteht die tägliche Ernährung in Zukunft hauptsächlich aus pflanzlichen Lebensmitteln: aus Gemüse und Obst, Nüssen und Vollkornprodukten, ebenso aus Hülsenfrüchten wie Linsen und Bohnen als wertvolle Eiweisslieferanten. Neben Zucker und gesättigten Fettsäuren werden vor allem tierische Produkte wie Fleisch, Milch und Butter reduziert. Diese verursachen erheblich mehr klimaschädliche Emissionen als pflanzliche Agrarprodukte; auf einem grossen Teil der Ackerflächen werden aber nicht Pflanzen für den menschlichen Konsum angebaut, sondern Futterpflanzen für Masttiere in der industriellen Fleischerzeugung.
Das Deutsche Bundeszentrum für Ernährung hat veranschaulicht, was nach der EAT-Lancet-Empfehlung an tierischen Produkten noch auf dem Teller liegen könnte: Jeder Person stünden pro Woche ein bis zwei Eier und 200 Gramm Fisch aus nachhaltiger Produktion zu. Auch ein Viertel Liter Milch oder aus dieser Menge hergestellte Milchprodukte sind möglich. Wer auf Fleisch nicht verzichten möchte, dürfte pro Woche z.B. ein Hähnchenbrustfilet oder knapp 200 Gramm Rindersteak aus biologischer Haltung essen.
Neben einer radikalen Ernährungsumstellung jedes Einzelnen ist laut der Eat-Lancet-Kommission eine Steuerung durch die Politik unerlässlich: Lebensmittel aus nachhaltigen Quellen müssten erschwinglich werden, und im Unterschied zur bisherigen Subventionspraxis müssten Umweltkosten in den Verkaufspreis mit einfliessen – angefangen vom Produktionsort bis hin zum Verkaufsraum. Hierzu zählen etwa Lieferketten, ein hoher Energieverbrauch durch Verpackung, Kühlung, Lagerung oder vielfältige Verarbeitungsschritte sowie der Verbrauch von Soja für Tierfutter. Schliesslich müsse es allgemein verbindliche Regeln für die Nutzung von Land und Meer geben und die Lebensmittelverschwendung reduziert werden.
Auch das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung fordert mehr Unterstützung durch die Politik im Hinblick auf die Ernährungswende, z.B. im Rahmen der EU-Agrarpolitik. Das Institut empfiehlt unter anderem eine Erschliessung weiterer Eiweissquellen auf Pflanzenbasis. Die Möglichkeiten hierzu seien noch lange nicht ausgeschöpft. Etwa bei Hülsenfrüchten: Erbsen, Bohnen, Linsen und Co. seien hochwertige Proteinlieferanten, die Stickstoff aus der Luft im Boden binden und damit nachfolgende Kulturen düngen, deren Wurzeln für lockere Erde sorgen und deren Blüten Insekten Futter bieten.
Weltweit wird laut Welternährungsorganisation FAO ein Drittel der produzierten Lebensmittel weggeworfen: 1,3 Milliarden Tonnen pro Jahr. Gemüse wird schon auf dem Acker aussortiert und untergepflügt, wenn es unansehnlich ist oder Handelsnormen nicht entspricht; wegen Bruch und Verderb wird beim Transport, bei der Verarbeitung, im Supermarkt und in der Gastronomie ebenfalls entsorgt.
Der grösste Teil des Abfalls jedoch entsteht in Privathaushalten: In der Schweiz wirft laut dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) jede Bürgerin und jeder Bürger pro Jahr 190 Kilogramm essbare Lebensmittel weg, das entspreche einer landesweiten Menge von fast 900'000 Tonnen pro Jahr. Der Kampf gegen Lebensmittelverschwendung ist auch ein zentrales Anliegen der Organisation Slow Food e.V. In Deutschland veranstaltete die Jugendorganisation des Vereins dieses Jahr einen Online-Kochkurs mit dem Titel „Wir essen auf fürs Klima“. Schwerpunkt der Veranstaltung war die Verwertung von Resten beim Kochen; ein Fazit lautete: Es sei besser, der eigenen Fantasie zu folgen als sich akribisch nach Rezepten zu richten. Reste könnten konserviert und wiederverwertet werden, und selbst aus Dingen wie Gemüseschalen lasse sich eine leckere Brühe zaubern, Marmeladen- und Grillsaucen-Reste könnten Salatsossen verfeinern. Zu den Strategien gegen Lebensmittelverschwendung gehört laut Slow Food bereits der bewusste Einkauf, denn übervolle Regalen und Grosspackungen verführten Kunden dazu, mehr mitzunehmen, als sie bräuchten. Und auch ein Überschuss an Gemüse lässt sich durch einwecken haltbar machen.
Wichtig sei auch, das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) zu verstehen: Dieses sei nur bei Fleisch, Fisch und Meeresfrüchten wirklich ernst zu nehmen. Für andere Lebensmittel bedeute es kein Verfallsdatum, sondern lediglich einen Richtwert. Produkte wie Kaffee, Reis und Nudeln würden nicht schlecht, und auch Lebensmittel wie Mehl und Gewürze seien, wenn ungeöffnet, weit über das MHD hinaus bedenkenlos geniessbar. Selbst Milchprodukte halten sich laut Slow Food oft noch Wochen jenseits des MHD. Verbraucher sollten deshalb weniger dem MHD als vielmehr den eigenen Sinnen vertrauen und selbst ein Lebensmittel optisch und geschmacklich beurteilen.
Ein Autorinnenteam aus der Jugendakademie von Slow Food Deutschland e.V. hat im 2020 ein Buch zum gesunden und nachhaltigen Essen veröffentlicht. Unter dem Titel „Super Local Food“ wird erklärt, warum importierte Super Foods nicht immer so super sind wie es scheint, und mit welchen heimischen Alternativen sich der tägliche Speiseplan abwechslungsreich gestalten lässt. Ein 61-seitiger Rezeptteil listet nach Jahreszeit und Erntesaison auf, wie sich Brennnesseln, Buchweizen, Radicchio und Co. schmackhaft zubereiten lassen.
Dass auch Veganer mitdenken sollten, wenn sie sich nachhaltig ernähren wollen, erklärt das Autorenteam am Beispiel von Mandelmilch und Avocado: Die Produktion verbraucht demnach in beiden Fällen viel Wasser, wobei die weltweite Mandelproduktion zu 80 Prozent aus dem dürregeplagten Kalifornien stammt; der Avocado-Anbau benötigt darüber hinaus grosse Mengen an Pestiziden und führt laut Slow Food in Mexiko zu illegalen Waldrodungen. Als Ersatz für Mandelmilch schlagen die Autorinnen andere pflanzliche Milchersatzdrinks wie Hafer- und Hirsedrinks, Hanf-, Lupinen- und Erbsendrinks vor; als Brotaufstrich schmecke auch Erbsenpüree anstelle von Avocado vorzüglich.
Ein Fazit des Buches ist, dass der Begriff „Superfood“ generell ein problematischer sei, denn: „Das eine Lebensmittel, welches gesund macht oder hält, gibt es nicht. Eine gesunde Ernährung ist vielfältig und ausgewogen, dabei ist auch die Kombination von Lebensmitteln entscheidend.“
Aus den Kernen der Süsslupine lässt sich eine proteinhaltige Pflanzenmilch herstellen.
Fachleute sind sich darüber einig, dass eine Reduzierung tierischer Nahrung aus Gründen des Klimaschutzes, des Tierwohls und der menschlichen Gesundheit überfällig ist. Doch auch vegetarische oder vegane Kost kann ökologisch bedenklich sein, wenn zum Beispiel hoch verarbeitete Fleischersatzprodukte verspeist werden, deren Zutaten teilweise um die halbe Welt gereist sind.
Bei den Fleischarten gilt Rind als besonders klimaschädlich. Denn bei ihrer Verdauung setzen Rinder Methan frei, und im Vergleich zu anderen Tierarten wie Schweinen oder Hühnern brauchen sie ein Vielfaches an Wasser, Futter und Platz. Wie gross genau der ökologische Fussabdruck von Fleisch ist, hängt wesentlich von zwei Faktoren ab: vom Transport und der Art der Haltung. Slow Food Deutschland e.V. macht darauf aufmerksam, dass Rinder Weidetiere sind und in ökologischer Freilandhaltung wichtige Ökosystemleistungen erbringen können: Wenn Rinder auf der Wiese grasen, benötigen sie nur wenig Zusatzfutter, das wie Mais auf kostbarem Ackerland erzeugt werden muss. Wie einst Büffel halten sie Grasland offen, düngen ihre Wiese selbst und sorgen für Humusbildung. Nachgewiesenermassen spielt Grasland, das länger nicht umgebrochen wurde, eine wichtige Rolle für den Wasserhaushalt von Böden, es fördert ferner die Artenvielfalt und speichert viel Kohlenstoff.
Weitaus genügsamer als Rinder sind kleinere Weidetiere wie z.B. Ziegen, die Slow Food zufolge das nachhaltigste Fleisch liefern. Aufgrund des Trends zu vegetarischer Ernährung stehe Ziegenfleisch ohnedies zur Verfügung, da die Nachfrage nach Ziegenmilch und -käse steige. Eine Ziege aber gebe nur Milch, wenn sie Junge bekomme. Was dabei oft nicht bedacht werde: Was passiert mit den männlichen Tieren?
Ziegen sind viel genügsamer als Rinder. Ihre Milch ist sehr gefragt.
In der Schweiz ist das Thema schon seit Jahren aktuell. Denn aufgrund der geografischen Lage sind die für die Agrarproduktion zur Verfügung stehenden Landflächen begrenzt. Darum müssen annähernd 50 Prozent der Lebensmittel importiert werden – was auch bedeutet, dass das Land einen grossen Teil seines landwirtschaftlich erzeugten, ökologischen Fussabdrucks eben im Ausland hinterlässt. 2014/2015 untersuchten Wissenschaftler des World Food System Center der ETH Zürich im Auftrag des Bundesamts für Landwirtschaft, wie sich globale Trends auf das Schweizer Ernährungssystem auswirken. Ein wettbewerbsfähiges Schweizer Ernährungssystem sei nur möglich, wenn es auch nachhaltig ist, lautet das Fazit der Foresight-Studie. Die Ergebnisse sind in das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierte Nationale Forschungsprogramm «Gesunde Ernährung und nachhaltige Lebensmittelproduktion» (NFP 69) eingeflossen.
Die Gesundheitskompetenzen der Schweizer Bevölkerung seien zwar hoch, heisst es in dem Bericht, doch das Wissen werde in puncto Ernährung zu wenig umgesetzt. Als Grund nannte ein Teil der Befragten aus der Studie die Preise für hochwertige Lebensmittel. Darum forderten die Wissenschaftler, gesunde Lebensmittel im Preis zu senken.
Als mögliche Strategie hierfür empfahlen sie eine stärkere Förderung der einheimischen Produktion von Obst, Nüssen, Gemüse und Hülsenfrüchten. Weitere Gründe für Kompromisse beim Essen sind den Befragten zufolge Zeitdruck und Einschränkungen im Alltag. So verpflegen sich laut dem NFP 69 circa eine Million Schweizer Erwerbstätige unter der Woche in Personalrestaurants oder Kantinen. Das Speisenangebot an solchen Orten spiele daher eine gewichtige Rolle bei der Ernährungswende.
Die Gastronomie ist generell wichtig, denn sie ist in der Lage, Trends zu setzen und dabei Nachhaltigkeit mit Genuss zu verbinden. Weil aber beim Einkauf der Weg durch den Dschungel der Marken und Labels nicht immer einfach ist, wurde 2014 in der Westschweiz das Start-up «Beelong» gegründet: Mithilfe eines sogenannten Ecoscores werden Produkte nach ihrer Wirkung auf die Umwelt bewertet und Küchenchefs sowie Einkäufer aus der Gastronomie geschult und bei ihren Kaufentscheidungen begleitet. In Deutschland haben sich Produzenten und Köche im Netzwerk «Chef Alliance» von Slow Food zusammengeschlossen. Das Ziel: «Gute, saubere und faire Lebensmittel und die Bewahrung der lokalen Essenskultur und biologischen Vielfalt».
Hinzu kommt die Tatsache, dass immer wieder neue Chemikalien entwickelt werden, die über verschiedene Quellen in die Umwelt gelangen. Auch Pflanzenschutzmittel und Medikamente aus der Landwirtschaft, die nicht über die Kläranlagen in die Gewässer gelangen, spielen eine Rolle.
Es nütze nichts, nur Kläranlagen und landwirtschaftliche Aktivitäten zu überprüfen und zu regulieren. Es müsse auch die Zulassung neuer Chemikalien gut kontrolliert und beim Konsum umgedacht werden, sagt Dr. Simon und plädiert für einen verantwortungsvollen Umgang: «Verbraucher können ihren Teil dazu beitragen, indem sie Medikamente und Chemikalien fachgerecht entsorgen und gut abbaubare Körperpflege- und Reinigungsprodukte verwenden.»
Bereits im Kindesalter sollte das Verständnis für gesunde, klimaverträgliche Esskultur geweckt werden. In der Schweiz lancierte der Verein Slow Food deshalb die Gesetzesinitiative «Jugend und Genuss», mit der Ernährungskurse an Schulen obligatorisch werden sollen. Aus einer Dissertation am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hervorgegangen ist 2014 der Verein Ackerdemia mit seinem Bildungsprogramm «GemüseAckerdemie» für Kindergarten- und Schulkinder. Initiator Christoph Schmitz und sein Team vermitteln, auch grenzübergreifend in Österreich und der Schweiz, praktische Kenntnisse über gesunden und nachhaltigen Konsum. Die Kinder bauen auf einem Acker verschiedene Gemüsearten an und pflegen sie bis zur Ernte; die Erzieherinnen erhalten eine Schulung und ein begleitendes Programm. Die Ziele des Bildungsprogramms gehen über eine gesunde Ernährung und biologische Anbauweise hinaus. Vermittelt wird auch ein «Verständnis für natürliche Abläufe und Zusammenhänge sowie Wertschätzung für die Natur» – im digitalen Zeitalter wohl nötiger denn je.