Aquagymnastik hilft, Muskeln und das Gleichgewicht zu trainieren. Besonders profitieren Rheuma-, Orthopädie- und Parkinson-Patienten sowie Patienten mit Multipler Sklerose.
Text: Gisela Dürselen
Wassermoleküle stehen ungefähr tausendmal dichter beieinander als jene der Luft. Das macht Wasser zu einem besonderen Stoff. Schon beim Eintritt eines Körpers ins Wasser erzeugt der Druck der eng aneinandergereihten Moleküle Widerstand. Der dadurch entstehende Auftrieb bewirkt das Gefühl, schwerelos und leicht zu sein. Durch den Auftrieb brauchen Sehnen, Gelenke, Wirbelsäule und Bandscheiben nicht mehr die ganze Last des Körpers zu tragen und werden geschont. Wer sich im Wasser bewegt, spürt ebenfalls den Widerstand: je schneller eine Bewegung, desto stärker die Gegenkraft und desto besser das Training für die Muskeln. Kraftaufwand und Muskeltraining können somit individuell dosiert werden: Geschwächte Personen bewegen sich langsam, gut durchtrainierte schneller.
Noch zwei weitere spezielle Eigenschaften besitzt Wasser. Aufgrund seiner Dichte leitet es etwa hundertmal mehr Wärme ab als Luft; daher verbrennt der Organismus im kalten Wasser mehr Kalorien als an Land. Zudem ist Wasser selten in Ruhe, Wellen und Wirbel ändern die Gleichgewichtslage eines Körpers; die Balance zu halten, wird komplizierter.
Dank dieser Besonderheiten lässt sich Wasser zu viel mehr nutzen als nur zum Schwimmen: Schwangere bereiten sich im Wasser auf die Geburt vor und Eltern treffen sich zum Babybaden, Reha-Kliniken bieten spezielle Wassertherapien an und Senioren halten sich in Kurbädern fit. Hobbysportler und Profis verbessern durch Wassertraining ihre Leistungen, und Astronauten simulieren in speziellen Becken die Schwerelosigkeit.
Längst gibt es auch Wellnessangebote und entspannende Behandlungsmethoden wie Wasser-Tanzen sowie zunehmend mehr sportliche Varianten: Kurse in Aquazumba, Aquajogging und -cycling, Aquaboxing und Aquatrampolin werden immer beliebter.
An der Reha-Klinik Valens wird Wasser schon seit Jahren für Therapien genutzt: Eher ängstliche Patienten, die womöglich schon seit Jahren nicht mehr im Wasser waren, bekommen 20-minütige Einzeltherapien; andere trainieren je eine halbe Stunde lang in der Gruppe. Patienten, die sich besonders sicher fühlen, können unter Aufsicht eines Bademeisters das gemeinsame Training in Eigenregie ergänzen.
Vor zwei Jahren gründete sich in Valens eine Kompetenzgruppe zum Thema, bestehend aus der Physiotherapeutin Livia Vinzens und ihren beiden Kolleginnen Gertraud Höllrigl und Daniela Alig, die neben Therapien für Patienten auch Weiterbildungen für Fachleute anbietet.
Zu Livia Vinzens und ihren Kolleginnen kommen Patienten mit ganz unterschiedlichen Beschwerden ins 34 Grad Celsius warme Wasser: Menschen mit neurologischen Krankheiten wie Schlaganfällen und Multipler Sklerose, mit orthopädischen Indikationen, etwa nach einer Knie- oder Hüftoperation, und solche mit rheumatischen Leiden, von denen manche schon seit Jahren mit chronischen Schmerzen am Bewegungsapparat leben.
Aufgrund der unterschiedlichen Eigenschaften von Wasser und Luft unterscheiden sich Trockentraining und das Training im Wasser erheblich, so Livia Vinzens.
Am Anfang jeder Therapie an Land wie im Wasser stünden jedoch dieselben Fragen: «Was sind die Themen, was ist das Hauptproblem, was braucht der Patient und warum? Geht es um Stärkung der Beweglichkeit, um Kraft und Ausdauer oder mehr ums Gleichgewicht?»
Wenn ein besseres Gleichgewicht das Therapieziel ist, bringt Livia Vinzens das Wasser in Bewegung. Sie baut Störungen ein, schlägt zum Beispiel Wellen. Manchmal müssen dann ihre Patienten auf nur einem Bein stehend die Turbulenzen ausgleichen. «Weil uns die Schwerkraft im Wasser nicht hält, kommen wir schnell in Drehung, müssen ausbalancieren. Wenn ich einen Arm aus dem Wasser hebe, ist dieser schwerer als der Rest des Körpers, ich bin viel instabiler als an Land.»
Zur Verstärkung der Wirkung verwendet Livia Vinzens manchmal Auftriebskörper wie Styropor-Nudeln oder sie begleitet ihre Patienten spielerisch durch einen Hindernisparcours, bei dem diese im Wasser über verschiedene Balken laufen müssen. Der grosse Vorteil der Wassertherapie liege auch in einer reduzierten Verletzungsgefahr. Zudem sei Wasser träge, das gebe mehr Zeit zu reagieren.
1949 entwickelte der Brite James McMillan eine Schwimmtherapie für körperbehinderte Schülerinnen der Londoner Halliwick-Mädchenschule. Sein Konzept wurde weltweit bekannt als Halliwick-Methode. Basierend auf einem Zehn-Punkte-Programm sollten die Kinder ihre Scheu vor dem Wasser verlieren und Vertrauen zu sich selbst und zum Wasser entwickeln. Aus der Halliwick-Methode entwickelte sich die Wasserspezifische Therapie, wie sie in vielen Reha-Kliniken, so auch in Valens, angeboten wird. Oberstes Ziel ist bei der Halliwick-Methode die Selbstständigkeit im Wasser, bei der Wasserspezifischen Therapie die Selbstständigkeit an Land. Beide Ansätze erreichten ihr Ziel mittels Aktivität und Bewegung, sagt Livia Vinzens.
Halliwick-Programmpunkte wie Wassergewöhnung und Atemkontrolle hätten jedoch in der medizinischen Therapie nicht immer höchste Priorität. Denn es gehe nicht ums Schwimmenlernen, sondern um die Verbesserung von Körperfunktionen.
Es gibt noch einen weiteren Unterschied: Während die Halliwick-Methode generell auf Hilfsmittel verzichtet, werden diese bei den verschiedenen Arten der Wasserspezifischen Therapie durchaus eingesetzt. So zum Beispiel bei der im Medizinischen Zentrum in Bad Ragaz entwickelten Bad Ragazer Ringmethode: Dabei halten Hals-, Becken-, Arm- und Beinringe den Patienten in einer geeigneten Position, von der aus er mithilfe eines Therapeuten seine Muskeln trainiert. Zu den Patienten im Medizinischen Zentrum in Bad Ragaz gehören deshalb auch viele Leistungssportler, die sich dort nach einer Verletzung wieder fit machen.
In den 1980er-Jahren wurde in Amerika und der Schweiz eine weitere Wasser-Behandlungsform entwickelt: die Aquatische Körperarbeit™. Diese Methode umfasst WasserShiatsu (WATSU®) und Wasser-Tanzen (WATA®). WasserShiatsu entstand laut dem Netzwerk für Aquatische Körperarbeit (NAKA) in Bern aus dem Zen Shiatsu und vereint Elemente der Massage, Gelenkmobilisation und Meridianarbeit.
Im Unterschied zum WasserShiatsu, bei dem der Kopf des Behandelten immer über Wasser bleibt, wechseln sich beim Wasser-Tanzen Über- und Unterwassersequenzen ab. Dadurch wird laut NAKA vermehrt die Atmung angeregt bzw. vertieft sowie die Körperwahrnehmung verbessert. Zusätzlich zu den vielfältigen körperlichen Vorteilen kann Aquatische Körperarbeit™ durch die rhythmischen, harmonisch fliessenden Bewegungen im 35 °C warmen Wasser helfen, Stress zu bewältigen, alte Bewegungsmuster loszulassen und Blockaden und Verspannungen zu lösen, ist auf der Internetseite von NAKA zu lesen.
Doch nicht alle Menschen können vom Wasser profitieren. Es gibt auch Kontraindikationen. Zu diesen zählen Livia Vinzens zufolge Fieber, eine massiv gestörte Lungenfunktion und Probleme mit dem Herzen. Denn der Druck des Wassers erschwert zum einen das Atmen, zum anderen wird das Blut aus den Beinvenen in Richtung Brustkorb gedrängt. Das ist gut für die Venen, aber schlecht für ein schwaches Herz.
Absolute Kontraindikationen sind laut Livia Vinzens auch unkontrollierte Inkontinenz, frische und nässende Wunden sowie Pilzinfektionen und ein paar weitere Hautkrankheiten.
Wassertraining liegt im Trend. Eine Reihe von Studien hat die Wirkungen untersucht, und obwohl nicht alle gleichermassen aussagekräftig sind, weil sich beispielsweise einige Studien nur auf wenige Probanden beziehen, konnte eine Reihe gesundheitlicher Vorteile nachgewiesen werden. So soll zum Beispiel wasserbasiertes Training sehr gut bei chronischen, nichtspezifischen Rückenschmerzen helfen und zur Wiedererlangung der Beweglichkeit beitragen. Bei Multipler Sklerose soll Wassergymnastik verschiedene Symptome lindern, bei Parkinson Gleichgewicht und Beweglichkeit effektiv steigern und nach einem Herzinfarkt die Lebensqualität wieder heben.
Der Mehrwert von Wasserübungen im Vergleich zum Trockentraining besteht nach Ansicht von Livia Vinzens in der Verbindung der Vorteile der Wassereigenschaften mit denen einer aktiven Therapie: «Wenn z.B. eine Person mit Osteoarthritis (Arthrose) der Kniegelenke im Wasser mit weniger Schmerzen die Muskelkraft trainieren kann und gleichzeitig Herz und Gehirn besser durchblutet werden als an Land».
Jenseits der medizinischen Therapie biete Wasser auch zur rein sportlichen Betätigung viele Vorteile – fast alles, was es an Land gebe, sei auch im Wasser möglich. Nur stelle sich dabei manchmal die Frage: «Welcher Aufwand macht Sinn, und welche Effekte könnte ich auch durch simples Schwimmen erreichen?» Was wirklich gut tut, hängt der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft zufolge nicht zuletzt vom Spass ab, die ein Training macht: Nur wer eine Sportart ausübe, die zu ihm passe, werde langfristig Freude haben und positive Wirkungen erzielen.