Wenn ein Eingriff im Spital ansteht, setzt man heute nicht mehr nur auf Training danach. Patienten sollen bereits gestärkt in die Operation hineingehen, um sich hinterher schneller erholen zu können. Kurz gesagt: Preha vor Reha!
Text: Andrea Pauli
Das Knie schmerzt seit Jahren, die Hüfte macht unendlich Mühe oder der Körper ist von einer schweren Krankheit gezeichnet – es gibt zahlreiche Gründe, die eine Operation notwendig respektive unausweichlich machen. Längst schon liegt man nach einem Eingriff nicht mehr wochenlang im Krankenhaus, sondern startet möglichst rasch mit Reha-Übungen, weil dosierte und gezielte Bewegung die Heilungsprozesse des Körpers unterstützen kann. Und die Zeit vor der Operation? Die ist häufig bestimmt von bangem Warten. Man will sich so viel als möglich schonen, um «ausgeruht» zu sein vor dem Eingriff. Falsch, sagen innovative Sportmediziner und Physiotherapeuten. Denn die Zeit vor der Operation kann mitentscheidend sein für den Verlauf des Eingriffs und die Rekonvaleszenz danach. Folglich ist Training angesagt, der Aufbau von Kraft, Beweglichkeit und Ausdauer. Kurzum: Prehabilitation, abgekürzt: Preha.
Preha-Anwendungen sind sinnvoll bei Patienten, die durch ihre Grunderkrankung bereits eingeschränkt sind und einen reduzierten Allgemein- oder Fitnesszustand haben, so Prof. Wilhelm Bloch vom Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin an der Deutschen Sporthochschule Köln. Die Preha hat eine Verbesserung der Ausgangssituation des Patienten zum Ziel. Im orthopädischen Bereich kann es z.B. darum gehen, an der Bewegungsfreiheit der Gelenke zu arbeiten, damit der Patient nach der OP schneller wieder aktiv wird. Durch Prehabilitation können während einer Operation Risiken vermindert und Komplikationen verhindert werden. Wer vor der OP bereits «fit» ist, wird diese besser überstehen und kann schon viel früher wieder in der Rehabilitation gefordert werden.
Als einer der Vorreiter der präoperativen Physiotherapie gilt Prof. Nico van Meeteren, Innovationsdirektor der Niederländischen Organisation für angewandte naturwissenschaftliche Forschung und Professor für Physiotherapie an der Universität Maastricht. Aus seiner Erfahrung reiche es gerade bei älteren, gebrechlichen Menschen nicht, wenn man erst nach der OP mit dem Bewegungstraining beginnt. Es gelte, die Leistungsfähigkeit des Atemwegsystems, des Herz-Kreislauf-Systems und der Muskeln rechtzeitig anzukurbeln.
Vor grossen chirurgischen «Kann»-Eingriffen (OPs, die nicht unbedingt notwendig im Sinne von: lebensrettend sind) sollte nach Vorstellung niederländischer Preha-Experten darum vom Patienten ein persönliches Risikoprofil erstellt und die minimale Leistungsgrenze berechnet werden. So wäre es dem behandelnden Arzt möglich, je nach Zustand des Patienten einen individualisierten Therapieplan festzulegen, der die allgemeine Gesundheit und die gesundheitsbezogene Leistungsfähigkeit steigert.
Diverse Studien haben bislang den positiven Effekt von Prehabilitation bestätigt. Im Gesundheitszentrum der Asklepios Klinik St. Georg, Hamburg (D), gab es eine vielversprechende Pilotstudie mit 19 Patienten, der eine vertiefte Studie an 18 Knie- und 47 Hüftpatienten folgte. Tendenzen lassen sich bereits ablesen: «Generell kann man sagen, dass die Patienten fitter in die OP hineingehen. Und der Krankenhausaufenthalt der Preha-Gruppe verkürzt sich um 1,5 Tage im Vergleich zur Kontrollgruppe», so Diplom-Sportwissenschaftlerin Daniela Oestreich. Die Preha-Studiengruppe absolvierte sechs Wochen Training, die Patienten kamen dafür zwei Mal pro Woche in die Klinik. «Die Mobilität nimmt spürbar zu, die Leute haben weniger Angst vor dem Eingriff und profitieren in der Gruppe von dem Gefühl, mit ihrem Problem nicht allein zu sein», so Oestreich.
Preha-Studien für Menschen mit einer Krebserkrankung führte Professor Wilhelm Bloch in seiner Abteilung für molekulare und zelluläre Sportmedizin in Köln (D) durch. Seiner Erfahrung nach verkraften aktive Patienten die Nebenwirkungen des Eingriffs und der Chemotherapie besser. Untersuchungen würden zudem darauf hindeuten, dass trainierte Patienten mehr Abwehrzellen für die natürliche Tumorbekämpfung besitzen. Die positiven Effekte der Bewegung wurden für Brust-, Darm- und Prostatakrebs und Leukämie gezeigt.
Auch wenn es zum Thema Prehabilitation und Krebs bis dato nur wenige kleine Studien aus Skandinavien, den Niederlanden und den USA mit Fallzahlen im ein- und zweistelligen Bereich gibt, sind die Ergebnisse den Wissenschaftlern zufolge ermutigend. Die Patienten erholten sich schneller und konnten früher entlassen werden als die Kontrollgruppen.
Am Kantonsspital Winterthur beschäftigen sich die Mediziner ebenfalls mit dem Nutzen von Prehabilitation, hier mit Blick auf Erkrankungen des Dickdarms. Die Studie untersuchte den Effekt eines physischen Trainings vor einer Darmoperation und startete im Juni 2016. «Alle Patienten wurden entsprechend dem etablierten ‹ERAS (Enhancend Recovery After Surgery, übersetzt: Bessere Genesung nach Operationen) Patientenpfad› betreut, wobei die Hälfte der Patienten vor der Operation zusätzlich ein Training unter physiotherapeutischer Anleitung erhält.
Die andere Hälfte der Patienten bereitete sich wie üblich selbstständig auf die Operation vor, ohne spezifische Physiotherapie. Die beteiligten Patienten waren sehr motiviert und machen gerne mit. Das Ergebnis fiel jedoch ernüchternd aus: Die Studie ergab keinen zusätzlichen Benefit der Prehabilitation.
«Es ist möglich, dass nicht alle Patienten gleichermassen von der präoperativen Physiotherapie profitieren. Denkbar ist, dass nur ein gewisser Teil der Patienten einen Nutzen hat, z.B. die Patienten mit schwachem Allgemeinzustand», erklärten die Winterthurer Wissenschaftler bereits vor Veröffentlichung der Ergebnisse.
Schon wenig hilft viel, ist die Erfahrung von David Gisi, Direktor des Instituts für Physiotherapie am Kantonsspital Winterthur. «Drei Wochen mindestens» sollte man vor einer Operation trainieren. Im Klinikalltag habe sich gezeigt, dass man selbst bei sehr geschwächten Patienten mit Herz-, Lungen- oder Krebsproblematik innerhalb von zwei bis drei Wochen Preha eine deutliche Leistungssteigerung erziele.
«48 Stunden vor der OP macht Preha allerdings keinen Sinn», das sei wie beim sportlichen Leistungswettkampf, «da wird zwei Tage vorher auch nicht mehr trainiert». In den Genuss von Prehabilitationsmassnahmen wird, schon allein aus Kostengründen, allerdings nicht jeder Patient kommen. Woran die Mediziner momentan arbeiten, sind «Risikostratifizierungs-Parameter», so David Gisi. Es gilt, Standards zu entwickeln, in welchen Fällen Preha in Spitälern Pflicht werden könnte. Klar: «Je komplexer der Eingriff, je näher an den lebenswichtigen Organen, desto grösser das Risiko. Diese Patienten müssen gut zuweg sein», so Gisi.
Entscheidend ist allemal die persönliche körperliche Leistungsfähigkeit. Weshalb es auch nicht sinnvoll sei, ein Altersraster für Preha-Massnahmen zu erstellen. Viel aussagekräftiger ist Gisi zufolge z.B. der sogenannte Sit-to-Stand-Test: 30 Sekunden lang erhebt man sich möglichst oft ohne Einsatz der Hände von einem 45 cm hohen Stuhl und setzt sich wieder hin. Wer deutlich unter den Richtwerten bleibt, ist mit Blick auf eine bevorstehende OP ein möglicher Kandidat für Preha-Massnahmen.
Pro Woche mindestens zweieinhalb Stunden Bewegung bei mittlerer Intensität, z.B. strammes Spazierengehen. 6000 oder mehr Schritte pro Tag bringen bereits viel, besonders in Verbindung mit frischer Luft. Kurze Impulsbelastungen wie Treppensteigen, sie dienen dem Krafterhalt der Muskulatur.
Moderate Belastung wählen – so lange man während der Aktivität noch kurze Sätze sprechen kann, ist man im «grünen Bereich», muss man schon nach wenigen Worten Luft holen, liegt man darüber. Gelenkschonende Aktivitäten wie Nordic Walking oder Aquajogging sind sinnvoll für stark schmerzbelastete Patienten. Aktivitäten wählen, die Freude bereiten. Nur was Spass macht, wird auch wirklich ausgeführt. Empfehlungen von David Gisi, Direktor des Instituts für Physiotherapie, Kantonsspital Winterthur.
Schweizer Rehabilitationskliniken und -abteilungen messen systematisch, welche Fortschritte ihre Patientinnen und Patienten während der stationären Behandlung erzielen. Jetzt liegen die ausgewerteten Messdaten aus dem Jahr 2022 vor. Sie zeigen, wie stark die Reha-Patientinnen und -Patienten von den Behandlungen profitierten. Verbesserungen zeigten sich u.a. bei Aspekten wie Funktions- und Leistungsfähigkeit, Partizipation, somatische Beschwerden, Angst und Depression sowie bei der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Im Durchschnitt erreichten alle Kliniken der onkologischen Rehabilitation bei ihren Patientinnen und Patienten eine Verbesserung der Funktionsfähigkeit. In der pulmonalen Rehabilitation verbesserten sich die gesundheitsbezogene Lebensqualität und die körperliche Leistungsfähigkeit.