Es mag erstaunlich klingen: Bei den unterschiedlichsten körperlichen Beschwerden sitzt der Auslöser oft am Anfang der Wirbelsäule. Doch dagegen lässt sich etwas tun. Gezielte therapeutische Handgriffe von Fachpersonen lockern den obersten Halswirbel. In der Folge aktiviert der Körper seine Selbstheilungskräfte.
Karin Müller und Verena Gabathuler sind Nachbarinnen im mittleren Alter. Bei idealem Wanderwetter spazieren sie seit über einer Stunde zwischen Äckern und Wäldern. Mitten im Plaudern meint Karin: «Ich muss zur anderen Seite wechseln.» Ihr Tonfall klingt leicht gequält. Zuvor war sie auf dem Feldweg an der linken Seite gewandert, nun geht sie rechts weiter. Was sie denn habe, fragt Verena erstaunt. «Immer, wenn ich eine Weile gelaufen bin, beginnt meine Hüfte zu schmerzen. Ich glaube, mein Becken steht leicht schief.» Auf der linken Seite neigt sich der Kiesweg leicht zur Seite. Dies erhöht den Schiefstand des Beckens. Der Auslöser von Karins Beschwerden aber sitzt womöglich am oberen Ende ihrer Wirbelsäule.
Die Wirbelsäule zählt zu den erstaunlichsten Kreationen der Natur. Ihr Name ist allerdings irreführend. Der Begriff Säule lässt an eine wenig flexible Konstruktion denken. Im Gegensatz dazu ist die Wirbelsäule vertikal und horizontal sehr beweglich, sonst könnten Kinder kaum Purzelbäume schlagen. Und Erwachsenen wäre das nach-hinten-Schauen beim Einparken unmöglich.
Die Wirbelsäule muss gegensätzliche Aufgaben erfüllen: Sie muss filigran und sehr robust zugleich sein. Immerhin hat sie im Alltag einen sechs Kilogramm schweren Kopf und einen rund dreissig Kilogramm schweren Rumpf zu halten. Wenn vollgepackte Rucksäcke oder andere Lasten transportiert werden, nimmt die Belastung um einige Kilogramm zu. In Indien und in Afrika tragen Frauen gar schwere Wassergefässe auf dem Kopf.
Die Wirbelsäule ist zudem Halteapparat für zwölf Rippenpaare, die ihrerseits das Herz, die Lunge sowie weitere innere Organe vor Verletzungen schützen. Die Wirbelsäule gliedert sich in sieben Halswirbel, zwölf Brustwirbel, fünf Kreuzwirbel und die zusammengewachsenen Steisswirbel. Sie alle werden von mehreren Muskelschichten bewegt und gestützt. Ein Geflecht von Bändern stabilisiert sie zusätzlich. Von oben nach unten werden die Wirbel grösser und massiver. Im Halsbereich sind sie vergleichsweise zierlich.
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In der Sprache des digitalen Zeitalters kann man das Innere der Wirbelsäule als Datenautobahn umschreiben. Grosse Mengen an Nervenimpulsen rasen vom Gehirn an ihre Bestimmungsorte im Organismus. Gleichzeitig nehmen viele Signale den umgekehrten Weg, sie geben dem Gehirn Rückmeldungen über Prozesse in den einzelnen Körperregionen.
Gehirn und Rückenmark steuern zahlreiche körperliche Vorgänge autonom. Wer etwa eine Treppe hochsteigen will, muss nicht jeden einzelnen Teilschritt bewusst steuern, die Absicht genügt. Der Körper weiss, welche Muskeln, Sehnen und Gelenke in welcher Reihenfolge dazu bewegt werden müssen. Die entsprechenden Impulse erfolgen automatisch.
Mit zunehmenden Lebensjahren können die Stossdämpfer zwischen den Wirbeln, die Bandscheiben, erschlaffen. Gelegentlich verlässt einer seine ursprüngliche Position. Dann können Lähmungen und Empfindungsstörungen auftreten, weil die Bandscheiben auf die Nervenleitungen drücken und deren Signalübertragung behindern. Wenn gar ein einzelner Wirbel verschoben oder blockiert ist, gerät die ausgeklügelte Statik des Körpers aus der Balance. So wie bei Karin Müller, die bei sich selber einen leichten Beckenschiefstand vermutet.
Auch muskuläre Ungleichgewichte, Gleichgewichtsstörungen und andere Beschwerden sind möglich. Die Liste reicht von chronischen Verdauungsproblemen bis zu Harnwegsbeschwerden, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Besonders häufig spielt bei solchen Beschwerden der oberste Halswirbel eine zentrale Rolle. Er ist sozusagen die Schlüsselstelle für das Skelett und das Nervensystem. Traditionell wird er als Atlas bezeichnet. Den ungewöhnlichen Namen erhielt er in der Antike – damals waren Heilkunde und Mythologie eng miteinander verflochten.
Der Sage nach war bei den alten Griechen Atlas einer der Titanen, der das Himmelsgewölbe mit seinen Schultern stützt. Er ist auch der Namensgeber des Atlasgebirges in Nordafrika, bei ihm endete die damals bekannte Welt.
Beim Menschen trägt der Atlaswirbel den Kopf. In der funktionalen Sprache der modernen Medizin wird er als C1 bezeichnet. Er bildet die Übergangsstelle vom Gehirn zum Rückenmark. Er sitzt unmittelbar unter dem sogenannten Hinterhauptloch, und ist mit dem Schädel über feine Muskeln, Bänder und einem dichten Nervengeflecht verbunden. Die enge und zugleich flexible Verbindung besteht auch zum zweiten Wirbel, als Axis bezeichnet, mit dem er eine funktionelle Einheit bildet. Dieser Bereich gilt als besonders sensible und störungsanfällige Stelle des Körpers.
Der oberste Halswirbel unterscheidet sich in der Form von den übrigen Wirbeln; er ist nahezu ringförmig. Seitlich besitzt er zwei kleine Fortsätze. Die Wirbel C1 und C2 sind im Gegensatz zu den anderen Wirbeln nicht durch Bandscheiben gepolstert, was das Risiko einer Verschiebung, Verdrehung oder Blockierung erhöht. Passiert dies, kann es nicht nur zu Ungleichgewichten im Skelett und in der Muskulatur kommen, auch der Fluss der Nervenimpulse kann gestaut, behindert oder verzerrt werden.
In der Behandlungstechnik der Atlaslogie ausgebildete Therapeutinnen und Therapeuten versuchen, diese Fehlfixierungen durch bestimmte Handgriffe aufzulösen. Dazu berührt die behandelnde Person mit ihren Mittelfingern für wenige Sekunden durch die Haut die beiden kleinen seitlichen Fortsätze beim Patienten. Dieser Prozess wird als «energetisches Adjustment» bezeichnet. Manche nehmen es als feines Schwingen wahr.
Der entsprechende Reiz muss individuell abgestimmt gesetzt werden. Daher dürfen nur zugelassene und erfahrene Anwender diese Manipulation vornehmen. Bei unsachgemässer Anwendung kann es zu Komplikationen kommen. Wichtig: Generell dürfen nur Fachpersonen an der Wirbelsäule Hand anlegen; trotz ihrer erstaunlichen Stärke reagiert sie auf unsachgemässe Behandlungen sehr empfindlich.
Nach der geschilderten kurzen Manipulation pendelt sich der oberste Wirbel selbst in seine optimale Position ein. Damit ist die Behandlung noch nicht abgeschlossen, der entscheidende Teil folgt in der unmittelbar anschliessenden Ruhephase von rund 20 Minuten. In dieser richtet der Körper seine Statik neu aus. Dabei werden Stauungen von Nervenimpulsen sowie Verspannungen, muskuläre Blockaden und Ungleichgewichte aufgelöst. Die behandelten Personen nehmen dies zum Teil als Kribbeln, als Wärmegefühl oder auch als leichten Schmerz wahr. Weil es durch die Haltungskorrektur zu einer tiefgreifenden Entspannung kommt, fallen manche Patienten gar in den Schlaf.
Nach der Ruhephase kontrolliert der Therapeut die Stellung des Atlas, der nun in seiner optimalen Position sein sollte.
Auch wenn die eigentliche Behandlung relativ kurz dauert, ist eine sorgfältige Vor- und Nachbereitung nötig. Vor der Behandlung wird die Länge der Beine verglichen; kleine Abweichungen sind ein Indiz für eine vertikale oder horizontale Fehlstellung des Beckens, die ihrerseits eine ungünstige Wirkung auf die Statik des gesamten Bewegungsapparates und auf die Funktion einzelner Organe hat. Nach der Behandlung hat sich in der Regel das Becken in der Balance eingependelt und die Beine wirken wieder gleich lang.
Im Vorfeld erkundigen sich die Therapeuten auch nach bestehenden oder früheren Beschwerden. Auch Auskünfte zur Ernährung und zum weiteren Lebensstil werden eingeholt.
Meistens sind drei oder mehr Behandlungssitzungen im Abstand von sieben bis zehn Tagen nötig, bis ein Nachlassen der Beschwerden erreicht wird. Die Muskulatur benötigt einige Wochen, bis sie sich dauerhaft den veränderten Spannungsverhältnissen angepasst hat.
Häufig taucht die Frage auf, ob Atlaslogie mit Chiropraktik verwandt oder ein Teilgebiet von ihr sei. Die Chiropraktik stellt mit gezielten Handgriffen die Beweglichkeit von Gelenken, speziell von blockierten oder verschobenen Wirbelkörpern, wieder her. Oft ist dabei ein knackendes Geräusch wahrnehmbar. Im Gegensatz dazu behandelt die Atlaslogie ausschliesslich den obersten Halswirbel. Es kommt dabei nicht zu Manipulationen mit Krafteinsatz und es gibt keine hörbare Wirkung.
Typische und häufige Einsatzgebiete der Atlaslogie sind Schmerzen im Kreuz, im Rücken und im Nacken, etwa als Folge eines Schleudertraumas oder eines anderen Unfalls. Auch bei einigen Arten von wiederkehrenden Kopf- sowie Gesichtsschmerzen kann Atlaslogie eine Linderung erzielen, ebenso bei Muskelschmerzen. Bei diversen organischen Beschwerden ist eine Verbesserung ebenfalls möglich; sie müssen im Einzelfall geprüft und mit der Fachperson für Atlaslogie besprochen werden.
Auch bei Kindern ab dem Säuglingsalter kann es zu einer behandlungsbedürftigen Atlasblockade kommen. Mögliche Ursachen sind Geburtstraumata sowie Stürze. Anzeichen für eine Störung der Atlasbeweglichkeit sind dauerhafte Bewegungs- und Empfindungsstörungen.
Die Atlas-Therapie ist wissenschaftlich (bislang) nicht anerkannt und darum keine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen. Wer sich behandeln lassen möchte, muss also selbst zahlen. Die Preise variieren je nach Anbieter und Land.
Wer sich im Internet auf die Suche nach einer Atlas-Behandlung macht, stösst rasch auf unterschiedliche Anbieter. Herangehensweise, Behandlungsdauer und Ausbildungshintergrund differieren durchaus. Die im Text hauptsächlich angesprochene Atlaslogie bringt den Atlas ohne Apparate in Schwingung.
«Atlasprofilax» nach R. Schümperli setzt auf manuelles Lösen bestehender Verspannungen, um dem Atlas eine optimale Positionierung zu ermöglichen.
Andere Atlas-Therapien nutzen Hilfsmittel.
Bei der «Atlas-Orthogonal-Behandlung» durch den Chiropraktiker etwa wird ein Atlas-Orthogonal-Instrument mit minimaler Krafteinwirkung bei sehr hoher Geschwindkeit eingesetzt.
Die «atlasreflexTh.» nutzt eine mechanische Mobilisationstechnik namens ThemPer, die eine breite Palette von Kraftstössen abgibt und dabei wie die Verlängerung der Finger des Behandlers wirken soll.
«ATLANTOtec» verwendet ein Gerät, das vibro-mechanischen Druck auf genau definierte Punkte der Hinterhauptmuskulatur ausübt.
Welcher Ansatz respektive welche «Atlas-Schule» für den Patienten am wirkungsvollsten ist, sollten Interessenten am besten selbst herausfinden. Entscheidend ist, dass man sich mit Methode und Therapeut wohlfühlt.
Autor: Adrian Zeller, 04.16