Wer immer wieder unter Schmerzen leidet, dem ist mit Tabletten alleine nicht geholfen. Bei der Multimodalen Schmerztherapie verbinden Experten medikamentöse, nichtmedikamentöse und psychologische Verfahren, um die Beschwerden dauerhaft zu lindern.
Autorin: Anja Rech
Schmerzen sind eigentlich eine sinnvolle Reaktion des Körpers. Sie machen auf eine Verletzung aufmerksam oder warnen vor Gefahren. Akute Schmerzen haben immer einen Auslöser: Der Betroffene hat sich vielleicht den Finger verbrannt, einen Knochen gebrochen oder überlastet sich körperlich. Sie können auch durch Krankheiten ausgelöst werden, etwa einen entzündeten Zahn, Rheuma oder einen Tumor. In der Regel lassen sie nach, sobald die Ursache behandelt wird.
Doch etwa 1,5 Millionen Schweizer sowie sechs Millionen Deutsche leiden bereits länger als drei Monate darunter – Mediziner sprechen dann von chronischen Schmerzen. Die Pein ist zu einer eigenständigen Krankheit geworden. Der Körper sendet ständig Schmerzsignale ans Gehirn mit der Folge, dass sich die Botschaft in die Nervenzellen «einbrennt». Experten bezeichnen dies als Schmerzgedächtnis. Die schmerzverarbeitenden Nervenzellen reagieren überempfindlich; schon leichte Reize wie eine Berührung tun dem Betroffenen weh.
Zu den häufigsten Auslösern für eine Schmerzerkrankung zählen Rücken- und Kopfschmerzen, aber auch Gelenk- und Nervenschmerzen. Die Betroffenen sind dadurch in ihrem Alltag und ihrem Beruf stark beeinträchtigt. So mancher wird unzureichend behandelt oder geht gar nicht zum Arzt und nimmt ständig Schmerzmittel. Doch das ist gefährlich: «Viele Patienten erreichen durch eine falsche oder undifferenzierte Medikamenteneinnahme nicht nur keine Verbesserung, sondern erleiden im Gegenteil zusätzliche Komplikationen», erklärt Dr. Andreas Böger, Chefarzt der Klinik für Schmerzmedizin an den DRK Kliniken Nordhessen in Kassel. «Ein Beispiel sind Magenblutungen durch längeren Schmerzmittel-Übergebrauch, etwa mit Acetylsalicylsäure oder Ibuprofen.»
Die moderne Schmerzmedizin hat verstanden, dass bei chronischen Schmerzen neben der körperlichen Ursache immer auch seelische und soziale Faktoren eine Rolle spielen. Man spricht von einem biopsychosozialen Gesamtkonzept. So bewegen sich viele Betroffene nur wenig und bleiben lieber zu Hause. Sie ziehen sich hilflos oder frustriert zurück. «Bei den meisten Patienten ist es darüber hinaus aufgrund des jahrelangen Leidensweges zu einer behandlungsbedürftigen chronischdepressiven Entwicklung gekommen», ergänzt Dr. Böger. «Auch Angsterkrankungen sind häufig.»
Das Problem: All diese Faktoren verstärken die Schmerzen und fördern ihre Chronifizierung. Dieser komplexen Situation werden Schmerztherapeuten und spezialisierte Kliniken mit einer Multimodalen Schmerztherapie (MMST) gerecht. Nach Aussage der Fachorganisation Deutsche Schmerzgesellschaft ist sie eine der wichtigsten Errungenschaften der Schmerztherapie in den letzten 25 Jahren. Sie kommt für Patienten infrage, die ein hohes Risiko haben, dass ihre Schmerzen chronisch werden, oder für solche, denen die bisherige Behandlung keinen ausreichenden Erfolg gebracht hat.
Die Therapie basiert auf der Zusammenarbeit von spezialisierten Ärzten, Psychologen, Psycho-, Physio-, und Ergotherapeuten, Pflegekräften sowie Sozialpädagogen unter ärztlicher Leitung. Einen Leitfaden hat beispielsweise die «Ad-hoc-Kommission Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie» der Deutschen Schmerzgesellschaft erarbeitet, in der Dr. Böger Mitglied ist.
Die MMST hat das Ziel, nicht nur die Schmerzen zu lindern, sondern den Patienten sowohl körperlich als auch psychisch zu aktivieren. Dabei ist wichtig, dass alle Therapeuten zusammenarbeiten und sich eng miteinander abstimmen. Die Therapiemassnahmen werden regelmässig überprüft und die einzelnen Bausteine immer wieder individuell angepasst. Mit gutem Ergebnis: Laut der Ad-hoc-Kommission zeigen Studien, dass die einzelnen Bestandteile der Multimodalen Schmerztherapie weniger wirksam sind als die Gesamtbehandlung.
Zwar können Medikamente alleine chronische Schmerzen nicht anhaltend lindern, doch sie sind ein wichtiges Standbein der Therapie. Es kommen nicht nur die bekannten frei verkäuflichen Schmerzmittel zum Einsatz. Schmerztherapeuten arbeiten oft auch mit rezeptpflichtigen Mitteln. Dabei kombinieren sie verschiedene Wirkstoffe. Damit lassen sich die schmerzverursachenden Stoffwechselprozesse an unterschiedlichen Stellen beeinflussen.
Zu den eingesetzten Medikamenten zählen gut verträgliche moderne Opioide, also Wirkstoffe, die mit Morphin verwandt sind, sowie – sehr niedrig dosiert – Wirkstoffe gegen Depressionen oder Epilepsie, weil diese ebenfalls Schmerzen lindern können. Der Patient sollte die Arzneimittel nicht nur bei einer Schmerzattacke nehmen, sondern regelmässig, um einen gleichmässigen Wirkstoffspiegel im Blut zu erzielen.
Ein entscheidender Punkt bei der MMST ist die sogenannte Schmerz-Edukation: Die Fachleute informieren den Schmerzpatienten über seine Krankheit und wie er damit umgehen kann. Er erfährt, was bei der Entstehung von Schmerzen im Körper passiert und wie es dazu kommt, dass diese chronisch werden. Beispielsweise ist es hilfreich, die Rolle des vegetativen Nervensystems zu verstehen. Es steuert viele Vorgänge im Körper ohne aktives Zutun. So schüttet es bei Stress Botenstoffe aus, die Verspannungen fördern und Schmerzen verschlimmern können. Andererseits kann es auch schmerzlindernde Substanzen produzieren. Es lässt sich etwa durch Entspannungsverfahren gezielt beeinflussen.
Zur Schmerz-Edukation gehören auch Informationen darüber, wie die Schmerzmittel wirken und wie sie genutzt werden sollten oder warum Bewegung auch bei Schmerzen hilfreich ist. Dass alleine schon ein erklärendes Gespräch die Beschwerden lindern kann, zeigen laut Günter Nobis von der Deutschen Schmerzgesellschaft Studien: So verbesserte bereits eine zweieinhalbstündige Edukation bei Menschen mit Rückenschmerzen die Chance, wieder arbeiten zu können.
Viele Patienten zeigen Verhaltensweisen, welche die Schmerzen verschlimmern. Dazu zählt etwa «Katastrophisieren», also Schwarzmalen, oder sich ständig auf die Beschwerden zu konzentrieren. Solche Faktoren können Beziehungen beeinträchtigen und in die Isolation führen. Mit psychotherapeutischen Methoden versuchen Fachleute gemeinsam mit dem Betroffenen, solche Verhaltensmuster aufzudecken und zu verändern. Sie geben Hilfen an die Hand, die man im Alltag nutzen kann, um Schmerzattacken zu verhindern oder Beschwerden zu lindern.
Oft spielen auch frühere Erlebnisse mit Schmerzen, etwa eine Krankheit oder ein Unfall, sowie belastende Ereignisse wie Gewalterfahrungen eine Rolle dabei, wie der Patient Schmerzen empfindet und damit umgeht. Das Gleiche gilt für Stress, unterdrückte Trauer, Konflikte in der Familie oder Überforderung im Alltag. Auf diese «lebensgeschichtlichen Zusammenhänge» geht man im Rahmen des psychotherapeutischen Elements ebenfalls ein.
Und schliesslich ist dieser Therapiezweig notwendig, wenn begleitend zur Schmerzerkrankung eine Angststörung, eine Depression oder eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wird.
Ein weiteres Ziel der MMST ist, dass der Patient beweglich und aktiv wird. Dazu setzt man verschiedene physiotherapeutische Methoden, eine Ergo- oder Sporttherapie ein, um Kraft, Ausdauer und Koordination zu verbessern. Die Betroffenen lernen, Belastungsgrenzen zu erkennen und rechtzeitig aufzuhören. Bei Menschen, deren Beweglichkeit eingeschränkt ist, lassen sich Übungen erarbeiten, welche die Einschränkung kompensieren.
Dabei hat Bewegung einen weiteren positiven Nebeneffekt: Sie trägt dazu bei, Stress abzubauen und die Stimmung zu heben. Im Rahmen der Physiotherapie kommen auch – je nach Beschwerdebild – Methoden wie Wärme- oder Kältetherapie infrage sowie manuelle Anwendungen wie Osteopathie oder die Craniosacral Therapie.
Verspannungen führen oft dazu, dass Muskeln nicht richtig durchblutet sind. Dies verstärkt Schmerzen. Passive Massnahmen wie ein Bad oder Massagen können zwar helfen. Langfristig ist es jedoch erfolgreicher, wenn der Patient lernt, die Anspannung über aktive Entspannungsverfahren selbst zu beeinflussen. Diese Methoden können zudem nachweislich Schmerzen lindern und helfen, Stress und Schmerzen zu verarbeiten.
Die Bandbreite ist gross: Sie umfasst etwa Tai-Chi oder autogenes Training. In Studien bewährt hat sich die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson. Sie konnte etwa bei Kopfschmerzpatienten die Intensität der Schmerzen sowie die Häufigkeit der Attacken senken. Dadurch benötigten die Betroffenen weniger Medikamente. Sie eignet sich auch deswegen gut, da man sie schnell erlernt und problemlos im Alltag anwenden kann. Weitere Entspannungstechniken
Manche Kliniken arbeiten begleitend mit Verfahren der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), vor allem Akupunktur. Dabei setzt der Therapeut für eine gewisse Zeit feine Nadeln an bestimmte Punkte. Nach Auffassung der TCM bringt dies einen blockierten Energiefluss wieder zum Fliessen. In Studien hat die Methode ihre Wirkung bei Knie- und Rückenschmerzen bewiesen.
Auch andere ergänzende Methoden lassen sich im Rahmen der MMST nutzen. So helfen Achtsamkeitsübungen, zur Ruhe zu kommen und sich nicht ausschliesslich auf den Schmerz zu konzentrieren. Phantasiereisen oder Imaginationsübungen, bei denen man sich in eine genussvolle Situation versetzt, unterstützen dies ebenfalls.
Die Multimodale Schmerztherapie wird meist bei einem stationären Aufenthalt im Krankenhaus angewandt, dann dauert sie etwa zwei bis drei Wochen. Sie kann aber auch in einer Tagesklinik oder in speziellen Fällen ambulant durchgeführt werden. Überwiesen werden die Patienten vom Haus- oder Facharzt. «Die stationären Angebote sind therapieintensiver», betont Dr. Susanne Hartmann-Fussenegger, Leitende Ärztin am Schmerzzentrum des Kantonsspitals St. Gallen und Ansprechpartnerin der «Special Interest Group Multimodale Schmerztherapie» der Schweizerischen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (SGSS).
Die Gruppe hat Kriterien erarbeitet, um die Qualität der MMST an allen Schweizer Zentren anzugleichen. «Entscheidend ist, dass wir den Patienten nicht nur aktivieren, sondern zu eigenverantwortlichem Handeln motivieren», fasst Dr. Böger zusammen. Es gehe um das Erlernen von Selbstwirksamkeit: Der Betroffene erlebt, dass er selbst erfolgreich gegen seine Schmerzen vorgehen kann. «Damit setzt die Multimodale Therapie eine grundsätzliche Motivation zu Veränderungen voraus und die Bereitschaft zu selbstständigem, aktivem Schmerzmanagement.» Dies schafft die Basis für eine erfolgreiche Therapie, die dem Schmerzkranken hilft, mit seinem Leiden gut zurechtzukommen, arbeitsfähig zu bleiben und wieder einen unbeschwerten Alltag zu leben.