Angenehme Sinneserfahrungen können wohlige Gefühle erzeugen, und das wiederum kann Schmerzen lindern. In manchen Kliniken setzt man darum auf das Genusstraining.
Autorin: Anja Rech, 06/21
Mal zwackt der Rücken, mal drückt der Kopf – jeder Mensch hat schon einmal Schmerzen erlebt. Doch so mancher leidet immer wieder darunter. Halten die Beschwerden länger als drei Monate an, spricht man von chronischen Schmerzen. In der Schweiz sind rund 1,5 Millionen Menschen davon betroffen, in Deutschland sechs Millionen. Tabletten alleine genügen dann nicht: Um den Betroffenen wirklich zu helfen, muss die Therapie zusätzlich zu körperlichen auch seelische und soziale Faktoren berücksichtigen. Man spricht von Multimodaler Schmerztherapie, einer interdisziplinären Behandlungsform, an der neben Medizinern unter anderem Psychologen und Psychotherapeuten beteiligt sind. Sie arbeiten beispielsweise mit Verfahren, die helfen, besser mit Stress und Schmerzen umzugehen. Hier bewährt sich eine Methode namens Genusstraining, die an vielen Schmerz- und Rehakliniken angewandt wird. Sie wird auch als euthyme Therapie bezeichnet, also eine Methode, die der Seele guttut.
Der Begriff wirkt auf den ersten Blick befremdlich: Ist Geniessen etwas, das man üben muss? Aber tatsächlich geht es häufig im Alltag verloren, sich etwas zu gönnen und sich an Kleinigkeiten zu freuen. Geniessen wird auf den Feierabend verschoben, aufs Wochenende oder gar in den Urlaub. Erst recht ist bei Menschen, die ständig Schmerzen haben, eigentlich kein Raum dafür. Doch wer sich auf diese Form des Achtsamkeitstrainings einlässt, kann damit die Häufigkeit und Schwere von Schmerzen reduzieren und seine Lebensqualität verbessern.
Basis des Genusstrainings sind angenehme Sinneserfahrungen. Dabei werden in Gruppensitzungen gezielt alle fünf Sinne angesprochen. Die Teilnehmer richten ihre Wahrnehmung bewusst auf Erlebnisse wie den Duft einer Orange, den Geschmack von Schokolade oder das Streichen über einen weichen Stoff. Bei der «Schokoladen-Übung» etwa erkundet man minutenlang ein Stück der Süssigkeit: Wie sieht es genau aus? Wie riecht es? Wo auf der Zunge schmecken Sie zuerst etwas? Welche Geschmacksnuancen nehmen Sie wahr? Welche Gefühle löst das aus? Welche Bilder tauchen in Ihnen dabei auf, welche Erinnerungen? «Das kommt bei den Patienten unglaublich gut an», sagt Claudia Kaiser, Ernährungsberaterin an der Rehaklinik Zurzach Care in Bad Zurzach. «Egal, mit welchem Sinn wir arbeiten, die Patienten können sich extrem schnell darauf fokussieren und haben Freude daran.» Ein Vorteil der Methode sei auch, dass sie in jedem Alter funktioniere.
In der Schmerztherapie verfolgt das Genusstraining mehrere Ziele. Zum einen lernen die Patienten, Stress besser zu bewältigen. Egal, ob er beruflich oder privat verursacht wird, trägt er dazu bei, Schmerzen aufrechtzuerhalten oder zu verschlimmern. «Bewusstes Geniessen ist hilfreich, um Anspannung abzubauen», erklärt Eva Liesering-Latta, Leitende Psychologin der Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein im Taunus, in der das Verfahren ebenfalls eingesetzt wird. Claudia Kaiser ergänzt: «Die Übungen beginnen schon damit, dass man eine achtsame, aber bequeme Haltung einnimmt.»
Ausserdem hilft die Methode, die Dauerpein zu lindern: «Positive Gefühle aktivieren die körpereigene Schmerzhemmung», sagt Eva Liesering-Latta, «indem Gehirnbereiche stimuliert werden, die bei der Schmerzverarbeitung beteiligt sind.» Zusätzlich lernt man damit, die Aufmerksamkeit weg von den Beschwerden zu richten. Diese treten etwas in den Hintergrund und werden als weniger belastend empfunden. Dass die Stimmung aufgehellt wird, trägt ebenfalls zur Schmerzlinderung bei.
Drei Forscher aus Greifswald, Dr. rer. med. Britta Buchhold, Dipl.-Psych. Gerald Kauer und Dr. med. Stefani Adler, bezeichnen diesen Zustand in einer Studie als «Schmerzferien».
Ein weiteres Ziel ist Selbstfürsorge: Die Teilnehmer des Trainings lernen, sich selbst etwas Gutes zu tun. «Damit können sie ihr ‹seelisches Immunsystem› stärken», sagt die Psychologin aus Königstein. Die Studie aus Greifswald bestätigt, dass die Patienten mit einem Genusstraining innere Ressourcen aktivieren können. Sie verschaffen sich damit nachweislich positive Gefühle und erleben «Selbstwirksamkeit», wie es in der Psychologie heisst: Sie spüren, dass es möglich ist, selbst etwas gegen den Schmerz zu tun, anstatt ihm hilflos ausgeliefert zu sein. Die Übungen kann man in seinen Alltag integrieren und immer wieder zu Hause anwenden.
Was ist Rheuma? Welche Heilpflanzen helfen bei rheumatischen Erkrankungen und welche Haus- und Hilfsmittel lassen sich zusätzlich verwenden? Antworten geben wir in unserem Newsletter "Aktiv gegen Schmerzen".
Unsere Wahrnehmung und Erinnerung wird von unserer Stimmungslage beeinflusst. «Vor allem wenn wir gestresst sind, fokussiert unser Gehirn auf Negatives und Probleme», weiss Eva Liesering-Latta. «Deswegen müssen wir es austricksen.» Hilfreich sei dazu ein Positiv- oder Genuss-Tagebuch: «Schreiben Sie jeden Abend drei angenehme Dinge auf, die Sie an diesem Tag erlebt haben», schlägt die Psychologin vor. Oder Sie stecken sich ein paar Bohnen in die linke Hosentasche. Jedes Mal, wenn Sie etwas Positives erleben, nehmen Sie eine Bohne heraus und packen sie in die rechte Tasche. Am Abend leert man diese und kann die schönen Momente noch einmal Revue passieren lassen.
Die Autoren Rainer Lutz und Eva Koppenhöfer haben 1983 mit der «Kleinen Schule des Geniessens» die Methode begründet und dabei Regeln entwickelt, die helfen, dass das Genusstraining die gewünschten Effekte erzielt. Eva Liesering-Latta beschreibt sie, angepasst an ihre eigene Praxis, folgendermassen:
Viele Menschen sagen sich: Erst die Pflicht, dann das Vergnügen. «Wenn man immer nach dieser Regel lebt, gesteht man sich vielleicht nie eine Pause zu», betont die Psychologin. Dies führe in einen Teufelskreis: Ohne Pausen nimmt die Leistungsfähigkeit ab. Man benötigt länger für seine Aufgaben und hat noch weniger Zeit zwischendurch. Deswegen ist es wichtig, sich kleine Freuden und «Auszeiten» zu erlauben.
«Genuss geht nicht unter Zeitdruck», erklärt die Psychologin, «aber es reichen oft kurze Augenblicke, die Freude verschaffen.» So könnte die Tasse Kaffee am Morgen ein Genussmoment sein. «Stattdessen wird sie aber meistens nur runtergekippt.»
«Während wir eine Sache tun, sinnen wir häufig schon über die nächste nach. Genuss findet aber in der Gegenwart statt!», hebt die Therapeutin hervor. Das ständige Denken an zukünftige oder zurückliegende Aufgaben verstelle oft den Blick für das Angenehme. «Üben Sie, Dinge wahrzunehmen, die im Hier und Jetzt stattfinden!»
Geniessen setzt eine fein differenzierte Sinneswahrnehmung voraus, die sich durch Erfahrung bildet: «Ein Feinschmecker spürt im Laufe der Zeit immer weitere Geschmacksnuancen bei einer Speise», so die Psychologin. «Schärfen Sie Ihre Sinne!»
Es ist ungünstig, kleine Freuden dem Zufall zu überlassen. «Planen Sie angenehme Erlebnisse und freuen Sie sich darauf!», rät Psychologin Eva Liesering-Latta.
Jeder Mensch muss herausfinden, was ihm wann guttut. Die einen freuen sich an Vogelstimmen, andere an einem schönen Duft oder einem entspannenden Bad. «Überlegen Sie: Welches sind Ihre persönlichen Genussmomente?»
Genuss bedeutet nicht, viel zu konsumieren – das kann schnell zur «Sättigung» führen und verliert seinen Reiz. Bleibt es jedoch etwas Besonderes, steigert das die Freude.
Sicher kennen Sie diese Weisheit des Dichters Johann Wolfgang von Goethe: «Willst Du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah! Lerne nur das Glück begreifen, denn das Glück ist immer da.» Manchmal erzeugen Kleinigkeiten im Alltag schon ein freudiges Gefühl, etwa einen Spatz zu beobachten oder Glocken läuten zu hören.