Akupunktur ist die weitverbreitetste Methode der Traditionellen Chinesischen Medizin. In Disziplinen von der Zahnheilkunde bis hin zur Schmerztherapie nimmt sie mittlerweile eine wichtige Rolle ein. Wie wirkt Akupunktur?
Autorin: Gisela Dürselen, 11/19
Bei vielen Krankheits- und Beschwerdebildern haben klinische Studien die Wirksamkeit von Akupunktur belegt. Noch ist allerdings nicht restlos geklärt, was im Körper genau passiert. Die heilsame Wirkung ist wohl unter anderem auf den stimulierenden Reiz beim Einstich der Nadeln zurückzuführen: Denn dadurch wird das Gehirn nachweislich dazu angeregt, mehr schmerzlindernde und stimmungsaufhellende Substanzen wie Serotonin und körpereigene Morphine zu produzieren.
Forscher der Med Uni Graz haben nun eine Erklärung dafür gefunden, warum sich in vielen Studien eine Akupunkturbehandlung nur unwesentlich von einer Scheinbehandlung unterscheidet. Je häufiger die Nadeln bei den Kontrollgruppen in Hautareale gestochen wurden, die nahe an bereits zuvor bei den Patienten für die Behandlung genutzten Stellen lagen, desto weniger unterschieden sich auch Scheinakupunktur und klassische Akupunktur. Die klassische Lehre der Traditionellen Chinesischen Medizin besagt, dass etwa zwei Zentimeter abseits des Akupunkturpunktes bzw. des entsprechenden Meridians keine Akupunkturwirkung mehr zu erwarten sei. Die Unkenntnis der Bedeutung der segmentalen Struktur für die Akupunktur hat bei vielen Untersuchungen dazu geführt, dass der Wirkeffekt der Akupunktur in früheren Studien als gering eingestuft wurde.
Dieser Mechanismus funktioniert offenbar auch bei Tieren: Laut der German Veterinary Acupuncture Society e.V. (GerVAS) hilft Akupunktur vor allem bei chronischen Leiden wie allergischen und rheumatischen Erkrankungen. Die Behandlung sei für die Tiere stressfrei und ohne Nebenwirkungen; in der Regel genössen sie die Sitzung und entspannten sich sichtlich.
Nach der Vorstellung der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) fliesst die Lebensenergie Qi im Körper an Leitbahnen, den sogenannten Meridianen, entlang. Das chinesische Schriftzeichen für Qi setzt sich aus den Zeichen für «Dampf» und «ungekochtem Reis» zusammen. Der «Dampf» erfüllt lebenswichtige Aufgaben und entscheidet über Gesundheit und Krankheit. Fliesst das Qi zu viel oder zu wenig, fliesst es in die falsche Richtung, zu schnell oder zu langsam, wird der Organismus anfällig für Krankheiten.
An der Körperoberfläche befinden sich entlang der Meridiane die Akupunkturpunkte. Durch sie lässt sich laut TCM das Qi stimulieren und harmonisieren. Störungen können so therapiert und auch verhindert werden, weil eine Krankheit sich im Energiesystem bemerkbar macht, schon bevor sie sich nach aussen manifestiert.
365 Akupunkturpunkte gibt es nach der klassischen TCM-Lehre. Sie sollen sich anatomisch bei allen Menschen an den gleichen Stellen befinden, und sie tragen so klingende Namen wie gewundenes Schläfenhaar, Augenfenster und oberer Stern.
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Eine Akupunkturbehandlung beginnt wie in der westlichen Medizin mit der Diagnose. Der Unterschied zur Schulmedizin bestehe darin, dass TCM-Ärzte dabei mehr Wert auf die «tieferen Dimensionen menschlichen Seins» legen, sagt Dr. Johannes Fleckenstein, Privatdozent für TCM und Akupunktur an mehreren Universitäten, unter anderem an der Universität Bern.
Ein Beispiel für den Unterschied zwischen Schulmedizin und TCM sind Allergien, die nachweisbar gut mit Akupunktur zu behandeln sind. TCM-Ärzte fahnden nicht nach dem Allergen oder verschreiben ein Präparat gegen Histamin, den Botenstoff, der die allergischen Symptome auslöst. Sie fragen vielmehr, warum der Körper überreagiert und betrachten den Menschen als Ganzes, verbunden mit seiner Umwelt. Mithilfe einer ausgiebigen Befragung und Methoden wie Puls- und Zungendiagnose suchen sie nach der Ursache für das energetische Ungleichgewicht. Nach der Diagnose begibt sich der Patient in eine bequeme Lage; dann werden die Nadeln gestochen. Je nach Körperstelle dringen sie bis zu mehreren Zentimeter tief in den Körper ein und bleiben dort 20 bis 30 Minuten. Während dieser Zeit können die Energiepunkte durch ein Drehen, Heben und Senken der Nadeln zusätzlich stimuliert werden. Danach wird oft noch geruht.
Klassische, wissenschaftlich überprüfte Indikationen für eine Akupunktur-Behandlung sind laut Dr. Fleckenstein Schmerzen des Bewegungsapparates, vor allem an Becken und Hüfte, Schulter, Arm und Nacken. Zunächst müsse jedoch abgeklärt werden, ob Akupunktur tatsächlich das Mittel der Wahl sei. Zum Beispiel bei Rückenschmerzen: Diese könnten sehr gut mit Akupunktur behandelt werden, wenn sie durch Verspannungen der Muskeln und Faszien ausgelöst werden, wie dies oft bei einem Hexenschuss der Fall sei, sagt Dr. Fleckenstein. Werde hingegen ein Bandscheibenvorfall mit schweren neurologischen Ausfällen diagnostiziert, seien andere Massnahmen nötig. «Akupunktur kann heilen, was gestört ist, sie kann aber nicht reparieren, was bereits zerstört ist», schreibt dazu die Deutsche Ärztegesellschaft für Akupunktur e.V. (DÄGfA). Auch als Erstmassnahme in der Notfallmedizin und bei schweren psychiatrischen Störungen ist Akupunktur Dr. Fleckenstein zufolge ungeeignet.
Hingegen gebe es gute Erfahrungen bei Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen, ebenso in der Gynäkologie. Besonders Schwangere reagierten sehr empfänglich – allerdings erfordere eine solche Behandlung viel Fachwissen und Erfahrung sowie eine fundierte Ausbildung.
Zu der langen Liste von Beschwerden, bei denen Akupunktur gut wirkt, gehört aus wissenschaftlicher Sicht auch Sinusitis, die Nasennebenhöhlenentzündung. Ein professioneller TCM-Therapeut wird bei seiner detaillierten Diagnose auch nach den Essgewohnheiten fragen. Denn laut Dr. Fleckenstein steht die Neigung zu chronischer Sinusitis häufig in Verbindung mit einem hohen Konsum kalter, verschleimender Milchprodukte – und da helfe auf lange Sicht oft nur eine Ernährungsumstellung.
Als Erfahrungsmedizin mit dem Anspruch, nicht nur zu heilen, sondern auch Krankheiten vorzubeugen, vereint die TCM in sich vielfältige Traditionen und Lehren, die sich bis heute stetig verfeinern und weiterentwickeln. So ist China zwar das Mutterland der Akupunktur – doch auch andere Länder wie Japan und Korea haben ihre eigenen Techniken entwickelt.
Charakteristisch für Japan ist die Bauchdiagnose und ein Akupunktieren mit dünneren Nadeln als in China; ausserdem wird ein Führungstubus verwendet, um den Einstich-Schmerz durch die Nadel zu lindern. Bei Störungen des Bewegungsapparats und des Zentralen Nervensystems soll die Schädelakupunktur gut helfen, die der japanische Chirurg und Gynäkologe Dr. Toshikatsu Yamamoto entwickelt hat.
Korea ist bekannt für die Handakupunktur und die nach einem Mönch und Arzt benannte SaAm-Akupunktur, die mit weniger Energiepunkten arbeitet als die klassische chinesische.
«Das, was heute als TCM bezeichnet wird, ist noch gar nicht so alt», erklärt Dr. Fleckenstein. 1950, nach der Gründung der Volksrepublik China, habe die Regierung altes medizinisches Wissen gesammelt und unter dem Namen «Traditionelle Chinesische Medizin» zusammengefasst. Vorher habe es viele verschiedene, zum Teil nur mündlich überlieferte Lehren gegeben.
Zu den ursprünglichen Verfahren kamen im Laufe der Zeit weitere Techniken hinzu. Dazu zählen die Aurikulomedizin genannte Ohrakupunktur sowie die Mundakupunktur. Hinweise auf Ohrakupunktur finden sich zwar schon in alten chinesischen Schriften, in ihrer heutigen Form wurde sie aber erst in den 1950er-Jahren entwickelt.
Der französische Arzt Paul Nogier erkannte, dass bestimmte Punkte am Ohr mit den Organen und weiteren wichtigen Stellen im Körper in Verbindung stehen und entwickelte ein Diagnose- und Therapieinstrument: Schmerzt ein betreffender Punkt am Ohr bei Berührung, ist das korrespondierende Organ gestört und kann durch Reizung des Punktes behandelt werden.
Die heilende Wirkung festigt sich durch eine sogenannte Dauerakupunktur: Dabei werden die üblicherweise kurzen Nadeln bei der Ohrakupunktur mit einem kleinen Pflaster auf der Haut fixiert, so dass sie auch nach der Therapiesitzung noch ein paar Tage verbleiben. Manche Ärzte bringen zusätzlich zu den Nadeln einen Mini-Magneten an, um den heilenden Reiz zu verstärken. Eine Alternative zu den Nadeln sind kleine Kugelpflaster, die mithilfe winziger Kügelchen die Energiepunkte stimulieren.
Auch die in den 1970er-Jahren entwickelte Mundakupunktur wird therapeutisch und diagnostisch genutzt und basiert auf dem Konzept, dass sich der Körper mit seinen Organen wie am Ohr auch in der Mundschleimhaut widerspiegelt. Bei der Mundakupunktur werden die Punkte nicht durch das Setzen von Nadeln gereizt, sondern durch Injektionen mit Kochsalzlösung oder einem leichten Lokalanästhetikum.
Schliesslich zählt auch die Laserlichtakupunktur zu den Weiterentwicklungen: Hier werden Akupunkturpunkte nicht mit Nadeln gereizt, stattdessen arbeiten die Ärzte mit Laserlicht, was den Schmerz reduziert. Die Methode wird besonders bei Kindern und Erwachsenen praktiziert, die Angst vor dem Stechen haben. Laut DÄGfA fördert das Laserlicht zudem den Austausch von biologischen Informationen der Zellen untereinander, ferner den Zellstoffwechsel, die Eiweissbildung und Wundheilung.
Zu den modernen Verfahren gehört zudem die Triggerpunktakupunktur: Triggerpunkte sind laut DÄGfA chronisch entzündete bzw. gezerrte Muskelfasern oder Muskelabschnitte, die Schmerzen auslösen und in andere Körperregionen ausstrahlen. Oft stimmen die Triggerpunkte mit den klassischen Akupunkturpunkten überein. Die westliche Schulmedizin hat sich dieses Wissen zu eigen gemacht und verschiedene Triggerpunkt-Therapien entwickelt, darunter das Stechen dieser Punkte.
Die Methode der Moxibustion, auch Moxa-Therapie oder Moxen genannt, wird in westlichen Ländern wegen der Rauchentwicklung und der Gefahr von Hautverbrennungen eher selten praktiziert. Das Moxen ist ein fester Bestandteil der TCM, und bei dieser Technik werden Körperregionen oder Akupunkturpunkte durch das Abbrennen von getrockneten Beifussblättern erwärmt. Moxen soll Kälte und Feuchtigkeit aus dem Körper vertreiben; laut DÄGfA werden dadurch Gewebedurchblutung und Stoffwechsel angeregt sowie Organfunktionen und das Immunsystem gestärkt.
Bei leichten Beschwerden empfiehlt die DÄGfA Akupressur, denn jeder Akupunkturpunkt könne alternativ zum Stechen auch mit anderen Methoden wie zum Beispiel Massage stimuliert werden. Die Tuina genannte, chinesische «Akupunktur mit den Fingern» eigne sich – sofern keine ernste Erkrankung vorliege – ideal zur Selbstbehandlung, denn es brauche keine Hilfsmittel. Tuina hilft demnach vor allem bei leichten bis mittelschweren Zahn-, Kopf- oder Schulterschmerzen, bei Hexenschuss und bei psychosomatischen Problemen wie Unruhe und Schlafstörungen.
Laut DÄGfA empfinden die meisten Patienten Akupunktur schon ab der ersten Behandlung als «wohltuend, entspannend und oft verblüffend schnell wirksam». Allerdings könnten chronische Leiden und weitere Faktoren wie belastende Lebensumstände den Erfolg hinauszögern. Ein erneuter Therapieversuch nach einigen Monaten sei ratsam – vor allem dann, wenn sich zumindest Teilerfolge eingestellt hätten. Eine weitere Erklärung für das Ausbleiben von Erfolg bietet die Störherd-Theorie: Die Annahme ist, dass Störherde wie chronische Entzündungen den Organismus bei der Selbstheilung behindern und die Wirksamkeit von Therapien vermindern.
Zu den grossen Vorteilen von Akupunktur gehört die Tatsache, dass sie äusserst arm an Nebenwirkungen ist. Leichte Phänomene treten laut DÄGfA bei etwa drei bis sieben Prozent der Behandelten auf und vergehen meist schnell wieder. Dabei handelt es sich um Rötungen und kleine Blutergüsse an der Einstichstelle, auch Reaktionen wie Schwitzen und muskelkaterartiger Schmerz nach einer Triggerpunktakupunktur. Schwerwiegendere Folgen, die auf eine unsachgemässe Behandlung zurückzuführen sind, gebe es sehr selten. Dazu gehören Infektionen und Verletzungen von Körpergewebe durch den Einstich. Zu den möglichen Nachwirkungen zählt auch die sogenannte Erstverschlechterung der Symptome.
Bei dieser kann es sich um eine Heilungsreaktion handeln – oder um eine zu starke Reizung der Energiepunkte beim Stechen. In jedem Fall sei zu spüren, dass bei Akupunktur im Körper etwas passiere, sagt Dr. Fleckenstein. Und er räumt mit einem häufigen Missverständnis auf: «Korrekt indizierte Akupunktur ist eine ernstzunehmende Therapie und eben keine Wellnessbehandlung.»
In der Schweiz gehört die Behandlung zur Grundversorgung – unter der Voraussetzung, dass sie durch einen Schulmediziner mit anerkannter Zusatzqualifikation ausgeführt wird.
In Deutschland übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten nur bei bestimmten Indikationen.
Schweizerische Ärztegesellschaft für Akupunktur, chinesische Medizin und Aurikulomedizin SACAM, Tel.: 0844 200 200
www.sacam.ch
Deutsche Ärztegesellschaft für Akupunktur e.V. (DÄGfA), Tel.: 089 710 05 11
www.daegfa.de