Der Bedarf an lebenswichtigem Eiweiss wird immer grösser, traditionelle Tiermast und Massentierhaltung jedoch immer problematischer. Mehr Pflanzen zu essen, ist eine Möglicheit – sich nach ungewöhnlichen Proteinlieferanten umzusehen, eine andere.
Autorin: Gisela Dürselen, 7-8.16
Mit 20 000 Imkern verfügt die Schweiz über ein beachtliches Wissen in der Bienenzucht. Zur Bekämpfung der gefürchteten Varroa-Milbe tötet etwa jeder zweite Imker die Drohnenbrut, also den männlichen Nachwuchs. «Das bedeutet, dass jährlich 50 bis 100 Tonnen Drohnenlarven achtlos als Abfall auf dem Kompost enden: Teure, höchst begehrte und in Asien äusserst geschätzte essbare Insekten, vergleichbar bei uns mit Kaviar. Wer sie mal probiert hat, wird sagen: «Wow, so was Wohlschmeckendes hab' ich selten gekostet!»
Diese Aussage stammt von Daniel Ambühl, Pilz- und Insektenfachmann und Forschungspartner der Zürcher Hochschule ZHAW in Wädenswil. Insekten sind ein Forschungsschwerpunkt der ZHAW. Ambühl gibt Kurse in Insektenzucht und hat bereits zweimal das Netzwerk-Treffen «Skyfood» mitorganisiert, bei dem sich internationale Experten mit essbaren Insekten befassen.
Die Ausgangsfrage der Lebensmitteltechnologen an der ZHAW lautet: Welche Insekten lassen sich effizient, umweltfreundlich und mit den vorhandenen Ressourcen züchten? So entstand das «Götterbaumspinner-Projekt» für «Urban Farming» und private Gärten, an dem Ambühl ebenfalls beteiligt ist.
Die Larve des Götterbaumspinners (ein Schmetterling, der ursprünglich zur Seidenproduktion eingeführt wurde) hat zwei Vorteile: Sie frisst Kirschlorbeer und Liguster, beides giftige und in der Schweiz nicht heimische Pflanzen, die sich invasiv ausbreiten; sie besitzt wenig unverdauliches Chitin und ist dafür reich an hochwertigem Eiweiss. Ebenfalls hervorragend zum Essen eignen würde sich nach Ambühls Erfahrung eine Unterart des Götterbaumspinners, die Eri-Seidenraupe: Auch sehr eiweisshaltig, kann sie im Sommer draussen auf ihren Futterpflanzen leben; ausserdem ist der Larvenkot sehr stickstoffhaltig und könnte ein guter Dünger für die Landwirtschaft sein. Der Schmetterling wird seit einigen Jahren in der Schweiz wieder häufiger gezüchtet, weil Naturseide beliebt ist. Wenn sich die Larve verpuppt, wird bisher nur der Kokon mit der Seide genutzt – die Puppe wird getötet und weggeworfen. Da Insekten von Natur aus eher Massentiere sind als Hühner, Schweine und Kühe, stünde einer Massenzucht auch aus Sicht des Tierschutzes nichts im Wege.
Mehr zum wertvollen Produkt der Bienen...
2014 hat das Parlament den Entwurf für ein neues Lebensmittelgesetz verabschiedet, das die Schweizer Vorgaben mit denen der EU harmonisieren soll. Darin ist erstmals von Insekten als Lebensmittel die Rede. Sehr zum Bedauern von Ambühl steht jedoch nichts von Bienendrohnen, Götterbaumspinnern und Eri-Seidenraupen darin: «Wir werden wohl die Insekten essen müssen, die eh schon von der Petfood-Industrie für Schlangen, Echsen, Fische und andere Haustiere produziert werden: Mehlwürmer, Heuschrecken, Grillen. Alles nicht nachhaltige, mit hochprozentig proteinhaltigem Futter produzierte Tiere. Derselbe Unsinn, den wir schon bei der bisherigen Fleischproduktion machen.»
Voraussichtlich im kommenden Herbst wird sich das BLV zu den Anhörungen äussern und dann entscheiden, wie es weitergeht. Bis dahin sind keine Insekten auf dem Lebensmittelmarkt erlaubt. Bezüglich der Genehmigung weiterer Insektenarten rechnet Daniel Ambühl nicht damit, «dass die Schweiz einen eigenen Weg geht, der nicht schon von der EU vorgespurt ist.»
In ihrer unüberschaubaren Vielfalt gelten Insekten als die mannigfaltigste Tiergruppe überhaupt. Etwa 1900 Arten sind Wissenschaftlern zufolge essbar. Die Lebensmittel-Behörde der Vereinten Nationen (FAO) plädierte in einer Studie von 2014 generell für «Entomophagie» – das Essen von Insekten. Weltweit über zwei Milliarden Menschen ernähren sich bereits von solchen Tieren – vor allem in den Tropen, weil dort das ganze Jahr über Saison ist und Insekten zahlreicher und grösser sind als in kälteren Zonen. Warum aber sollten Europäer sie essen?
«Was wir essen ist mehr eine Sache der Gewohnheit und der Mode als irgend etwas anderes.» Joseph C. Bequaert, amerikanischer Naturforscher (1886–1982)
Der Verzehr von Insekten schont laut FAO Ressourcen und Klima und trägt zur Nahrungssicherheit für eine wachsende Weltbevölkerung bei. Steigt der Fleischkonsum weiter an wie bisher, wird sich die Nachfrage laut FAO bis 2050 verdoppeln. Aber schon heute verbraucht die Viehzucht 70 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen und enorme Mengen an Wasser und Dünger.
Demgegenüber benötigen Insekten viel weniger Wasser und Boden; sie verwerten ihre Nahrung effizienter und produzieren bis zu hundertmal weniger Treibhausgase. Viele essbare Arten sind ausserdem reich an hochwertigen Proteinen und Mineralien – wobei die Inhaltsstoffe laut FAO je nach Entwicklungsstadium und Nahrungsangebot variieren können.
Die moderne Medizin hat die Vorteile von Insekten längst entdeckt: Fliegenmaden säubern chronische Wunden; Immunstoffe von Schaben und Heuschrecken wirken antimikrobiell und helfen womöglich gegen multiresistente Keime; in weiteren Insekten wurden Gluten-abbauende Enzyme gefunden.
Hinweise auf Insektenkonsum stehen in der Bibel und im Koran. Auch Griechen und Römer sollen die Krabbeltiere geschätzt, sogar als Delikatesse verzehrt haben. Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts war Maikäfersuppe in Deutschland, Frankreich und der Schweiz sehr beliebt – sie soll ähnlich wie eine Krebssuppe schmecken. Und «Casu Marzu» heisst eine sardische Käse-Spezialität mit Maden, die – offiziell zwar verboten – mancherorts auch heute noch unter der Ladentheke verkauft wird.
Der Casu Marzu wird von den Sarden sicher nicht allein aus Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein geliebt – es muss auch am Geschmack liegen. Immerhin halten ja auch manche Hummer, Garnelen und rohen Sushi-Fisch für eine Delikatesse, während sie sich vor Heuschrecken und Käfern ekeln.
Vielleicht ist es ja nur Gewohnheit, denn am ehesten gibt es Zuspruch für Insekten, wenn diese nicht mehr erkennbar zu Protein-Mehl verarbeitet sind. Etwa als Müesli-Riegel mit Mehlwurmproteinen, Cranberries, Haselnüssen, geröstetem Sesam, Sonnenblumenkernen, Cornflakes und Schokolade: Den erfand ein ZHAW-Student, und seine Kreation kam so gut an, dass er im ersten Startup-Wettbewerb der ZHAW siegte und einen Preis bei einem US-amerikanischen Wettbewerb erhielt.
Umfragen zum Thema Insekten gibt es mittlerweile einige, mit unterschiedlichen Ergebnissen. Studenten der ZHAW fragten in einer nicht repräsentativen Umfrage etwa 400 Personen: «Würden Sie Insekten essen?» Die Hälfte der Befragten antwortete mit ja; sie würden gerne einmal probieren. Besonders jüngere Leute und Männer zeigten sich offen für die Erfahrung; ihre Gründe waren Neugierde und ökologische Aspekte.
In der traditionellen Tiermast könnten Insekten eventuell schon bald eine Rolle spielen: Laut Schätzungen der FAO wurden 2011 für Nutztiere weltweit 870 Millionen Tonnen Futtermittel produziert. Es besteht grosses Interesse, vor allem importiertes Soja und Fischmehl zu reduzieren und durch preiswertere und umweltfreundlichere Eiweissquellen, etwa aus Algen oder Insekten, zu ersetzen.
Am Forschungsinstitut für biologischen Landbau in Frick soll deswegen eine Pilotanlage entstehen, die jährlich bis zu 100 Tonnen Futtermittel für die Fischzucht erzeugt. Gezüchtet werden die Larven der Soldatenfliege, die sich aus landwirtschaftlichen Abfällen ernähren und diese in wertvolles Eiweiss umwandeln.
Aber: Laut Gesetz können in der EU derzeit zwar Haustiere mit Insekten gefüttert werden – mit Ausnahme von Fischmehl für Aquakulturen und Hühnerzucht ist die Fütterung von Nutztieren mit anderen Tieren jedoch verboten. Die Schweiz wird sich bei diesem Thema vermutlich den kommenden EU-Richtlinien anpassen. Sollte es tatsächlich eines Tages eine Insektenzucht im grossen Stil für Nahrungs- und Futtermittel geben, müssten dafür Gesetze geändert und Risiken bewertet werden. Als Lebensmittel fallen Insekten nach europäischem Gesetz unter die Verordnung für neuartige Lebensmittel, die am 31. Dezember 2015 in Kraft getreten ist.
Damit brauchen sie eine Risikobewertung und eine Zulassung, die mit einer Frist von zwei Jahren zentral durch die EU geregelt werden soll. Bis es soweit ist, haben Länder wie Belgien, die Niederlande und Frankreich schon einmal ihre eigene Risikobewertung erstellt und eine Zulassung erteilt.
Die allgemeinen Risiken einer Insektenzucht für Mensch und Umwelt schätzte die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA ein. Das Gefahrenpotenzial ist laut EFSA vergleichbar mit dem herkömmlicher Tierzucht und abhängig von einer ganzen Reihe von Faktoren: von Produktionsverfahren, Nahrung, Lebenszyklus-Phase, Insektenarten und Verarbeitung.
Abgesehen von möglichen Chitin- und Eiweiss-Allergien hat die EFSA ein biologisches und chemisches Gefahrenpotenzial ausgemacht – wenn zum Beispiel Insekten mit kontaminierten Abfällen gefüttert werden oder auf verschmutztem Substrat sitzen. Daher seien hygienische Standards bei Zucht und Verarbeitung und ausreichendes Erhitzen bei der Zubereitung entscheidend. Das Risiko von Zoonosen, also Krankheiten, die vom Tier auf den Menschen übertragen werden, stuft die EFSA als eher gering ein, da Mensch und Insekt genetisch zu weit voneinander entfernt seien.
Das Thema essbare Insekten ist in Mode gekommen. Darum spriessen neue Unternehmen, die sich mit Zucht und Vermarktung befassen und schon einmal auf den neuen Markt vorbereiten, wie Pilze aus dem Boden. Aber rechnet sich Insektenzucht tatsächlich auch wirtschaftlich?
Diese Frage hält zumindest Daniel Ambühl für nicht entscheidend: «Wirtschaftlich rechnen sich die Plünderung der Maya-Goldschätze, der Genozid an nord- und südamerikanischen Ureinwohnern, die Abholzung Sarawaks, ein Banküberfall und ein Einbruch in ein Einfamilienhaus mehr als seriöse Arbeit und respektvolle Tätigkeit. Aber was heisst in unserer Zeit ein emphatischer Umgang mit Menschen, Fair Trade, organic production, sensibler Umgang mit Wasser, Oeko-Footprint: DAS sind die Massstäbe heute!»
Ob die Verantwortung für den Planeten jemanden dazu bewegen kann, mehr Insekten statt Fleisch zu essen?
Vielleicht ja, wenn sich erst einmal herumspricht, dass Insekten durchaus schmackhaft sein können: Wer sie schon einmal gegessen hat, lobt das nussige Aroma von Heuschrecken und empfiehlt sie zum Karamellisieren; Grillen werden von Kennern als knuspriger Snack geliebt, und die Konsistenz von Mehlwürmern erinnert an Popcorn. Wer möchte, kann selbst züchten und essen, denn das ist in der Schweiz auf jeden Fall erlaubt. Daher rät Ambühl: «Nicht auf die Bürokraten warten, sondern selbst und jetzt anfangen, ausprobieren.»
Zu seinem Kurs «Essbare Insekten selber züchten» an der ZHAW haben sich tatsächlich so viele Leute angemeldet, dass er einen weiteren Termin für den 27. August 2016 angesetzt hat. Dabei wird er bestimmt auch sein Lieblingsgericht vorstellen. Es heisst «hachi-no-ko» und besteht aus Schweizer Bienenmaden auf japanische Art, nach Ambühls Variante «in Kokosöl frittiert, mit Sojasauce abgelöscht und mit wenig Honig auf Toast».
Lange bevor gesunde Ernährung zum Trendthema wurde, war Alfred Vogel der Meinung, dass die Ernährung die Basis für unsere Gesundheit bildet – und dass, ohne dabei auf den Genuss zu verzichten.
Die Rezeptideen von Assata Walter sind deshalb nicht nur saisonal, frisch und leicht umzusetzen, sie enhalten auch immer einen Ernährungstipp, der Ihnen hilft, sich natürlich und gesund zu ernähren.