Eine Entzündung ist der wirksamste Schutz des Körpers vor Gefahren. Doch wird sie chronisch, kann sie gefährlichen Krankheiten den Weg ebnen: Herzinfarkt, Schlaganfall, Parkinson und Multiple Sklerose, aber auch Demenz, Depression und Krebs werden mit unbemerkt schwelenden Entzündungen in Verbindung gebracht.
Autorin: Gisela Dürselen, 7-8.18
Ein Insektenstich, zu viel Sonne auf der Haut, ein Splitter im Fleisch: Augenblicklich herrscht Alarm im Immunsystem! Die Stelle wird rot und heiss, schwillt an, schmerzt. Das Gewebe wird besser durchblutet, und mit dem Blut strömen Immunzellen herbei. Flüssigkeit kann sich im Gewebe stauen und auf empfindliche Nerven drücken. Die Temperatur steigt, so arbeiten Enzyme und Abwehrzellen effizienter. Manchmal bleibt die Hitze nicht auf einen Ort beschränkt – dann glüht der ganze Körper im Fieber.
«Calor, Dolor, Rubor und Tumor» – Wärme, Schmerz, Rötung und Schwellung: So beschreiben Mediziner die klassischen Symptome von Entzündung. Mit ihr kämpft der Organismus gegen Gifte und andere schädliche Stoffe, repariert die Folgen von Verletzungen und eliminiert Krankheitskeime und sogar Krebszellen. Auftreten kann eine Entzündung fast überall: in den Bronchien bei Bronchitis, in der Magenschleimhaut bei Gastritis oder in einem Gelenk bei Arthritis. Neben harmlosen Varianten wie Rhinitis, dem Schnupfen, gibt es gefährliche wie Meningitis, die Gehirnhautentzündung.
Normalerweise spielen entzündliche und antientzündliche Botenstoffe so perfekt zusammen, dass eine akute Entzündung sofort dort entsteht, wo sie gebraucht wird, und nachher wieder verschwindet. Nur manchmal versagt dieses System: Die Entzündung schaltet sich nicht ab, wird chronisch. Wissenschaftler sprechen jetzt von «silent inflammation», einer stillen Entzündung.
Mit einem Bluttest wäre diese leicht zu diagnostizieren. Doch eine chronische Entzündung ist weniger heftig als die akute und zeigt oft nur unklare Symptome wie Müdigkeit, unruhigen Schlaf oder häufige Infekte. So können Entzündungsstoffe unbemerkt weitere Organe und Regionen befallen – am häufigsten Darm, Haut und Lunge, aber auch Gelenke und Bindegewebe.
Entzündungsmechanismen scheinen ein wichtiger Motor für sogenannte Zivilisationsleiden zu sein: Erkrankungen des Darms wie Colitis ulcerosa und Morbus Crohn, rheumatoide Arthritis und Psoriasis sind chronische Entzündungskrankheiten. Typ-2-Diabetes, Arteriosklerose und Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden heute ebenfalls als entzündliche Krankheiten gesehen.
Desgleichen Allergien: Laut der Stiftung «aha! Allergiezentrum Schweiz» gehören sie schweizweit zu den häufigsten Erkrankungen im Kindesalter. Auch psychologische und neurologische Erkrankungen werden mit Entzündungen in Verbindung gebracht: Nach einer 2017 im Fachmagazin «Nature» erschienenen Laborstudie können Entzündungen die Alzheimer-Erkrankung vorantreiben, und in einer Studie der Universität Duisburg-Essen korrelierte die Menge von Entzündungsstoffen im Körper von Probanden mit deren geschilderten depressiven Symptomen.
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Für den Zusammenhang mit bestimmten Krebsarten gab es bereits 1863 einen ersten Hinweis. Der deutsche Pathologe Rudolf Virchow beschrieb Krebs als einen «aus dem Ruder gelaufenen Versuch des Körpers, eine Wunde zu heilen». Die heutige Wissenschaft bestätigt seine Vermutung: «Ungefähr 15 Prozent aller malignen Krebserkrankungen sind auf chronische Entzündungsprozesse zurückzuführen», ist bei Infla-Care zu lesen, einem von der EU geförderten Gemeinschaftsprojekt, bei dem vier Jahre lang die Mechanismen entzündungsbedingter Tumorerkrankungen untersucht wurden.
Vor allem in Leber und Lunge, Magen und Dickdarm und in der Speiseröhre tragen stille Entzündungen offenbar zur Entstehung und Ausbreitung bösartiger Tumore bei. Entzündetes Gewebe produziert freie Radikale, die das Immunsystem normalerweise dazu nutzt, Viren und Bakterien zu beseitigen. Die andere Seite der freien Radikale ist: Sie können Schäden am Erbgut verursachen und damit Zellen entarten lassen. Solche Zellen gedeihen besonders gut im entzündeten Milieu. Nach Erkenntnissen des Deutschen Krebsforschungszentrums können Krebszellen das Immunsystem so umprogrammieren, dass Abwehrzellen bösartige Tumore schützen statt sie zu bekämpfen.
2017 begann ein internationales, von der EU gefördertes Verbundprojekt in der Entzündungsforschung. Es heisst SYSCID und wird von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel koordiniert, an der seit über zehn Jahren im Verbund mit zwei Ambulanzen Entzündungsforschung betrieben wird. 15 Projektpartner sind an Bord, darunter die Universität Genf. Den Status quo formuliert der Forschungsverbund so: «Chronische Entzündungskrankheiten betreffen zehn Prozent der Bevölkerung in Europa. Sie führen häufig zu einem erheblichen Leidensdruck und Verlust der Lebensqualität und sind ein wichtiges, ungelöstes Problem in der Medizin. Die Krankheiten sind derzeit nicht heilbar, und nur bei etwa der Hälfte der Betroffenen kann die Krankheit mit einem Medikament langfristig unterdrückt werden.» Angesichts dieser Fakten ist es kein Wunder, dass mit Nachdruck daran geforscht wird, die komplexen Vorgänge von Entzündungen zu verstehen.
Eine zentrale Rolle spielen Zytokine: hormonähnlich wirkende Eiweissstoffe, die für die Kommunikation zwischen den Immunzellen zuständig sind. Zytokine können Immunzellen an- oder abschalten und damit Entzündungen fördern oder blockieren. «Im menschlichen Körper gibt es 400 bis 500 verschiedene Zytokine und ebenso viele Signale, mit denen sie sich verständigen», sagt Prof. Burkhard Becher von der Universität Zürich. Es gebe Indizien dafür, dass kleine Fehler in den Zytokinen für «Chaos im Dialog» zwischen den Immunzellen sorgen. Prof. Bechers These lautet: Entzündliche Erkrankungen wie Schuppenflechte, rheumatoide Arthritis und Multiple Sklerose entstehen durch Missverständnisse zwischen den Immunzellen. Prof. Becher forscht an einer Methode, mit der im Körper von Patienten systematisch entzündungsfördernde, fehlerhafte Zytokine erkannt werden können. Ihre Identifizierung gäbe Hoffnung, bald gezielt und individuell therapieren zu können.
Zytokine werden u.a. von Makro-phagen, B- und T-Lymphozyten, natürlichen Killerzellen und Fibroblasten gebildet.
Was verursacht die Defekte in den Botenstoffen, und warum können entzündungsfördernde Zytokine im Körper dominieren? Nach bisherigen Erkenntnissen spielt die genetische Veranlagung eine Rolle und auf dieser Grundlage fast immer ein Bündel von Faktoren. Zum Beispiel Infektionen: Bei dem Bakterium Helicobacter pylori etwa wurde nachgewiesen, dass es sowohl Magenentzündungen als auch Magenkrebs hervorrufen kann.
Genetik und Infektionen sind aber noch keine plausible Erklärung für den auffälligen Anstieg entzündlicher Krankheiten besonders in Industrieländern – und in jenen Regionen Südamerikas und Asiens, die seit ein paar Jahrzehnten ebenfalls von einer westlichen Lebensweise geprägt sind. Die Altersstruktur einer Gesellschaft scheint ein Faktor zu sein, denn eine Reihe von chronischen Entzündungserkrankungen sind typische Altersleiden. Wissenschaftler gehen davon aus, dass der Körper mit den Jahren vermehrt entzündungsfördernde Zytokine ausschüttet. Womöglich sind Entzündungsvorgänge sogar Teil des allgemeinen Alterungsgeschehens und des Alterns des Immunsystems selbst. Der italienische Immunologe Prof. Claudio Franceschi prägte dafür einen Begriff: «inflammaging» – Entzündungsaltern.
Verändert hat sich mit der sogenannten westlichen Lebensweise die Umwelt: Der menschliche Organismus muss sich mit einer Vielzahl an potenziell gefährlichen Substanzen auseinandersetzen. Etwa mit Stickoxiden und Feinstaub, die nachweislich Entzündungen in der Lunge auslösen können. Oder mit Zusatzstoffen in alltäglichen Produkten. Zum Beispiel mit Nanopartikeln aus Titandioxid, welche in einer Reihe von Sonnencremes, Zahnpasten und Medikamenten, Kaugummis, Fertigsossen und Süsswaren enthalten sind. Von der als Farbstoff E 171 bekannten Substanz vermuten Wissenschaftler um Prof. Gerhard Rogler von der Universität Zürich, dass sie die Darmwand passieren und Entzündungen auslösen kann. Besonders gross sei das Risiko für Menschen mit chronischen Darmkrankheiten.
Ein weiterer Faktor ist das Körpergewicht. Laut einer Umfrage des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) war 2016 fast jede zweite Person zwischen 18 und 64 Jahren in der Schweiz übergewichtig. In Fettzellen können Entzündungsstoffe entstehen, die ihrerseits zu Gefässveränderungen und Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems führen können. Bauchfett scheint besonders übel zu sein, denn Fettzellen am Bauch produzieren nachweislich entzündungsfördernde Hormone. Einem Basler Forscherteam zufolge erhöht Übergewicht insbesondere das Risiko, an Diabetes Typ 2 zu erkranken: Normalerweise kommt es bei jeder Mahlzeit zu einer kurzen Entzündungsreaktion, weil damit Bakterien aus der Nahrung unschädlich gemacht werden. In der Basler Studie mit Mäusen aber war die Entzündungsreaktion bei den übergewichtigen Tieren so heftig, dass sie an Diabetes erkrankten.
Bewegung kann entzündlichen Prozessen entgegenwirken. Also auf zum beschwingten Schlendern in der Natur!
Bewegung könnte dem entgegenwirken – und nicht nur das. Laut dem Sportmediziner Prof. Martin Halle von der Technischen Universität München hilft «die Belastung der Muskeln nicht nur, überschüssige Kalorien leichter zu verbrennen, sondern setzt auch eine Reihe von hormonellen Vorgängen im Muskel in Gang, die der Produktion von schädlichen Entzündungsfaktoren im Fettgewebe entgegenwirken». Schon sieben bis acht Minuten täglich zügig spazierenzugehen genügten, um das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes zu senken.
Eine wesentliche Rolle im Entzündungsgeschehen spielen Inhaltsstoffe aus der Nahrung: Vor Kurzem veröffentlichte die Universität Bonn eine Studie, in der das Immunsystem von Labormäusen auf eine fett- und kalorienreiche Kost ähnlich wie auf eine bakterielle Infektion reagierte. Viel Fett, viel Zucker und wenig Ballaststoffe machen demnach das Immunsystem aggressiver und führen zu massiven Entzündungen. Ballaststoffreiche Kost zeigt offenbar einen gegenteiligen Effekt, wie eine andere Laborstudie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg vermuten lässt, denn bei den Versuchstieren besserten sich dadurch chronisch-entzündliche Gelenkerkrankungen. Die Forscher vermuten, der Schlüssel liege in den Darmbakterien, die durch Artenreichtum und ein ausgewogenes Mischungsverhältnis das Immunsystem positiv beeinflussen.
Seit Längerem ist bekannt, dass das sogenannte Darm-Mikrobiom eng verwoben ist mit dem Immunsystem. Insbesondere bei chronisch-entzündlichen Erkrankungen sei die Zusammensetzung der Darmbakterien auffällig verändert, sagt Prof. Matthias Laudes vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Die Vielfalt der Mikroorganismen sei reduziert, und je nach Art der Erkrankung zeigten sich bestimmte Bakterien vermehrt oder vermindert. Bei Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes habe man hinreichend belegt, dass diese Veränderung eine Ursache, nicht Folge der Krankheiten sei.
Prof. Laudes ist Vorstandsmitglied im Exzellenzcluster «Entzündungsforschung» an der Christian-Albrechts-Universität Kiel und erforscht innovative Strategien, um mit antientzündlichen Massnahmen Stoffwechselerkrankungen vorzubeugen. 2017 wurde er dafür mit dem renommierten Ferdinand-Bertram-Preis der Deutschen Diabetes Gesellschaft ausgezeichnet; für eine aktuelle Studie zu dem Vitamin Niacin und dessen Wirkung auf das Darm-Mikrobiom erhielt er im April den Präventionspreis der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin.
«Ernährung hat den grössten Einfluss auf das Mikrobiom», sagt Prof. Laudes. Zwar liessen sich schwere chronisch-entzündliche Erkrankungen wie Morbus Crohn allein durch antientzündliche Nährstoffe nicht ausreichend behandeln. Doch in der Prävention könnten sie sehr wohl eine wichtige Rolle spielen, etwa im Anfangsstadium einer Krankheit oder auch vorher bei Risikogruppen.
Das Problem dabei ist: Alle Bakterien befinden sich im Dickdarm. Die Nährstoffe müssen also vorher unbeschadet Magen und Dünndarm passieren, was mit der Nahrung nur teilweise gelingt. Bei den Versuchen am Universitätsklinikum bekommen darum Patienten die antientzündlichen Substanzen in speziellen Kapseln, die sich genau bei jenem pH-Wert auflösen, wie er am Übergang vom Dünn- zum Dickdarm herrscht. Ist gesunde Ernährung allein also keine ausreichende Prävention? «Doch», sagt Prof. Laudes, «aber bei unserer Lebensweise hält das kaum jemand konsequent durch.»
Wer dennoch die Disziplin aufbringt und sein Entzündungsrisiko selbst minimieren möchte, findet in dem Buch «Die Anti-Entzündungs-Diät» von Anne Larsen und Martin Kreutzer eine Menge leckerer Rezepte sowie eine Nahrungspyramide, welche die Eigenschaften von Lebensmitteln in Bezug auf Entzündung auflistet. Unter anderem empfehlen die Autoren fetten Seefisch wie Lachs, Heilbutt und Makrele sowie Walnüsse , Lein- und Rapsöl als eine «fantastische Quelle für entzündungshemmende Omega-3-Fettsäuren». Auch raten die Autoren zu Avocados und Oliven mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren sowie zu Kräutern und Gewürzen mit ätherischen Ölen, etwa Basilikum und Rosmarin, Ingwer und Kurkuma.
In dem Buch ist auch zu lesen, dass es kein Allheilmittel gebe und auch keine Rezeptur, die für alle Menschen gleichermassen gilt. Individuelle Unterschiede existierten nicht nur in der Ernährung: Wie viel Schlaf und Sport ein Mensch braucht, wie viel Stress er verträgt, sei bei jedem unterschiedlich. Deshalb bestehe einer der ersten Schritte darin, «festzustellen, wie der Körper mit dem gegenwärtigen Verhalten klarkommt – um schliesslich all das zu optimieren, wo sich Spielräume auftun».