Rhythmisch atmen, dreidimensional bewegen und sich bereits beim Training wohlfühlen statt erst hinterher: GYROKINESIS® ist ein komplexes Konzept von Körperarbeit, das besonders die Wirbelsäule mobilisiert.
Text: Andrea Pauli
Wir sitzen zu viel, wird uns allenthalben gepredigt. Und dann soll man beim Sport gleich schon wieder auf einem Hocker Platz nehmen? Ja doch, GYROKINESIS® wird auf einem Schemel ausgeführt. Nicht nur, es gibt auch Übungen im Stehen und am Boden. Allen gemeinsam ist: Es gilt, eine körperliche Grundspannung zu halten. Sich in Wellen zu bewegen, eine Acht zu beschreiben, sich einzurollen und wieder aufzurichten – und das alles bei gezielter Atmung.
«Die Bewegung vom Körperzentrum ausgehen lassen», mahnt Swanhild Braun. Ist der Kontakt zu den Sitzbeinhöckern noch spürbar? Uff! Die Trainerin lacht: «Das ist richtige Körperarbeit!» In der Tat. Körperarbeit, die höchste Konzentration verlangt. Aber: Die Erschöpfung nach einer intensiven Übungseinheit ist wohlig, das Entspannungsgefühl erstklassig. Erst recht, nachdem man bei einer zusätzlichen Runde an GYROTONIC® Pulley Tower (T-förmige Bank, an deren Ende ein Turm mit geschwungenen Füssen steht, von dem Drahtseile ausgehen) und Handle Unit in Streckungszustände gekommen ist, die man dem Körper gar nicht mehr zugetraut hätte.
Worum es hier geht? Um ein Bewegungskonzept, das sich an alle richtet, gleich welchen Alters, egal, auf welchem Fitnesslevel, mit oder ohne Schmerzen. Es beinhaltet fliessende, dreidimensionale und mit der Atmung koordinierte Bewegungsabläufe. Entwickelt wurde GYROKINESIS® in den USA von dem rumänischstämmigen Tänzer Juliu Horvath. Dessen Bühnenlaufbahn nahm nach einer schweren Wirbelsäulenverletzung ein abruptes Ende. Er suchte in fernöstlicher Heilkunde, z.B. der Akupunktur, nach Wegen, seine Kraft und Bewegungsfreiheit komplett zu rehabilitieren – und kreierte letztlich seine eigene Methode, die er 1980 in New York zu unterrichten begann.
Das Training beginnt in der Regel mit diversen Massage-, Klopf-, Reibe- und Drucktechniken von Kopf bis Fuss. Die werden begleitet von passenden Atemübungen. Danach richtet sich der Fokus auf die Wirbelsäule und den Beckenbereich. Muskeln und Gelenke werden systematisch durch rhythmische Übungen trainiert – auf sanfte Weise. Während man auf dem Hocker sitzt, mobilisiert man die Wirbelsäule durch beugende, streckende, kreisende und spiralförmige Bewegungen. Entscheidend: Die Bewegungsabläufe sind fliessend, es gibt keine statisch gehaltenen Körperstellungen.
Die diversen Positionen werden durch die Atmung koordiniert und harmonisch miteinander verbunden. «Die Atmung soll die Melodie der Bewegung sein», betont Horvath in einem Interview. Ihm ist es ein Anliegen, das räumliche Bewusstsein im Körperinneren wie auch im Aussenbereich zu fördern. «In sanfter Weise», betont er. GYROKINESIS® solle sich anfühlen «wie unter der Dusche ein Lied zu singen».
Horvath ist es wichtig, dass Wohlbefinden entsteht während des Trainings und zwar durch die Beteiligung des gesamten Körpers.
Millimeterarbeit: Anke Sinz (hinten) korrigiert behutsam die Position der Übenden am GYROTONIC®-Gerät.
Aus den Übungen heraus konstruierte der findige Tänzer später die GYROTONIC®-Trainingsgeräte. Diese unterstützen die Bewegung und geben zugleich einen Führungswiderstand. Statt einzelner Muskeln werden ganze Muskelketten (Verbindung von Muskeln, die über Faszien strukturell und funktionell miteinander verknüpft sind) beansprucht.
«An den Geräten sind unendlich viele Übungen möglich», sagt Trainerin Swanhild Braun und leitet an, welche weit ausholenden Bewegungen z.B. an den Seilzügen gemacht werden können. Es fühlt sich ein bisschen so an, als tanze man im Liegen Ballett. Sobald die sanfte Direktive der Trainerin nachlässt, ist es mit der Grazie aber schon vorbei, und man hat ganz schön zu tun, Beine und Füsse koordiniert und mit dem Atem in Einklang zu bewegen.
Eine Herausforderung sind auch die Übungseinheiten an den speziellen Kurbeln. Aus einer Sitzposition heraus bewegt man die scheibenartige Konstruktion zu oder gegen sich, mal beide Griffe gleichzeitig, mal beidhändig auf einem, mit raumgreifenden, weit ausholenden, wogenden Bewegungen der Arme, den Rücken dabei immer schön gestreckt. Das fühlt sich an wie eine Mischung zwischen Rudern und Schwimmen und dehnt den Oberkörper auf ungeahnte Weise.
«Interessant ist diese Trainingsmöglichkeit bei körperlichen Einschränkungen, z.B. grossen Narben nach Operationen, aber auch für Rollstuhlfahrer», erklärt Anke Sinz, Inhaberin der Physiopraxis «aspect» in Basel. Sie hat mittlerweile zahlreiche Patienten, darunter auch Tänzer, die von Horvaths Methode begeistert sind.
Auch daheim gut zu üben GYROTONIC®, also die Variante ohne Geräte, eignet sich bei nahezu allen physiologischen Beschwerden und empfiehlt sich besonders bei Rückenproblemen, so Swanhild Braun. «Es ist auch sehr praktikabel für den Büroalltag oder für Senioren.» Natürlich sollte man genau wissen, was man dann im privaten Kämmerlein oder im Büro so vor sich hin turnt. «Die Anleitung ist wichtig, weil die Bewegungsabläufe sehr komplex sind», betont Anke Sinz.
In ihrer Praxis trainieren sie und ihr Team darum auch erst mal mit jeder Klientin, jedem Patienten einzeln, ehe es in die Gruppe geht. Die Teilnehmer werden ausdrücklich ermuntert, sich Notizen zu machen oder per Handy zu filmen, damit sie sich die Übungen richtig einprägen.
Side Arche (seitlicher Bogen, oben) und Horizontal Spiral (horizontale Spirale, unten). Mit einem Hocker ausgerüstet, können Sie daheim probieren, wie sich eine solche Haltung anfühlt. Oder üben, Ihre Sitzbeinknochen zu erfühlen.
Sitzbeinknochen spüren: Setzen Sie sich mit leicht geöffneten Knien auf einen stabilen Stuhl/Hocker. Ihre Füsse stehen unter den Knien fest auf dem Boden. Fassen Sie mit der rechten Hand unter Ihre rechte Pobacke, mit der linken entsprechend unter die linke. In der Tiefe der Gesässmuskulatur spüren Sie rechts und links die Sitzbeinknochen (auch Sitzbeinhöcker genannt). Wenn Sie beide gefunden haben, bewegen Sie Ihr Becken etwas vor und zurück, um die Gewichtsverschiebung auf den Sitzbeinknochen zu spüren. Verschieben Sie das Gewicht auch etwas nach rechts und links, um sicherzustellen, dass Sie Ihr Gewicht am Ende auf beiden Höckern gut verteilt haben.