Die Kryotherapie wird im klinischen Bereich seit Jahrzehnten eingesetzt – durchaus mit Erfolg. Nun ist sie Trend in der Fitness- und Wellnessbranche, immer mehr Kältekammern und Kryosaunen drängen auf den Markt.
Autorin: Andrea Pauli, 11/19
Freiwillig in die Eiseskälte und bibbern bei –110 °C? Was für den einen eine unzumutbare Vorstellung, liegt bei anderen derzeit voll im Trend: Ab in den Eistresor, die Kältekammer, die Kryosauna! Im Leistungssport ist die Ganzkörper-Kältetherapie zur Regeneration besonders beliebt; zunehmend wird die Methode auch im Wellnesssektor als Anti-Aging-Methode angepriesen und soll Gewicht und Cellulite reduzieren.
Neu ist das Verfahren nicht: Seit über 30 Jahren wird die Kryotherapie im klinischen Bereich eingesetzt. Der japanische Rheumatologe Toshiro Yamauchi führte sie 1980 zur Behandlung der rheumatoiden Arthritis ein. Viel Erfahrung damit gesammelt hat man am Immanuel Krankenhaus in Berlin: Als eines der ersten Spitäler in Europa startete es 1989 mit einer Kältekammer zur Ganzkörperkältetherapie für Schmerzpatienten – und nutzt sie bis heute mit grossem Erfolg.
Die Patienten kommen zuerst zum «Eingewöhnen» durch eine drei Quadratmeter grosse Vorkammer mit –60 °C. Dann geht es weiter in die vier Quadratmeter grosse Hauptkammer mit –110 °C. Nur in Badebekleidung und mit Handschuhen, Socken, Mundschutz und Stirnband geschützt, befinden sie sich zwei bis drei Minuten in der extremen Kälte. Das Ganze ist bestens überwacht: Vom Vorraum aus steuert ein Physiotherapeut die Technik über eine Konsole mit einer Gegensprechanlage. Darüber hält der Therapeut Kontakt mit den Patienten, gibt ihnen Hinweise zur richtigen Bewegung und sagt, wie viel Zeit sie schon geschafft haben. «Wir empfehlen getragene, langsame Bewegungen, während die Patienten im Kreis herumlaufen. Man lässt die Arme baumeln und geht ganz entspannt», präzisiert Internist und Physiker Dr. Rainer Stange, Experte für Naturheilverfahren am Immanuel Krankenhaus Berlin.
Ziel der Kryotherapie für Schmerzpatienten ist es auch, «sie zugänglich zu machen für anschliessende passive Behandlung, also Physiotherapie». Denn die Kälte wirkt so intensiv auf den ganzen Körper, dass Schmerzempfindungen danach über Stunden deutlich gemindert werden. Mal abgesehen von der Schmerzreduktion stellt sich ein nachgerade euphorisiertes Gefühl ein, wenn man aus der Eiskammer kommt. Dr. Stange spricht dabei von «Selbstheroisierung».
Angenehme Wirkung einer Kältetherapie ist zudem, dass sie hilft, schmerzlösende und entzündungshemmende Medikamente (NSAR-Antirheumatika und Kortison) reduzieren zu können.
Klinische Studien zeigen, dass die Kältetherapie in der Behandlung rheumatischer Erkrankungen, aber auch von Atemwegs- und Hauterkrankungen hochwirksam ist. Selbst Migräne und Depressionen können damit behandelt werden, so die Erfahrung der Berliner Ärzte. Leider ist Letzteres noch nicht erforscht; auch zur Wirkung der Kältetherapie bei Fibromyalgie «gibt es praktisch keine Studien, das ist sehr bedauerlich», so Dr. Stange.
Die Studien, die bislang zur Kältebehandlung vorliegen, haben aus der Sicht von Wissenschaftlern des internationalen Netzwerks Cochrane jedoch erhebliche Mängel. Auch «Medizin transparent» aus Österreich vermisst hieb- und stichfeste wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit der Kryotherapie.
Dr. Rainer Stange weiss um gewisse methodische Mängel der vorhandenen Studien und die Unsicherheit bei vielen praktisch wichtigen Fragen, etwa ob die –110 ° C ideal sind, wie lange man in der Kabine bleiben (üblich: max. 3 Minuten) und wie oft man die Kältetherapie anwenden sollte. Gleichwohl: «Die wissenschaftliche Lage ist am besten bei der rheumatoiden Arthritis: Sechs Studien mit 260 Patienten, das ist schon eine ganze Menge für so ein Gebiet», erklärt er.
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Wer unter Klaustrophobie leidet, darf genauso wenig in die Kältekammer wie jemand mit einer Kälteangina (eine Sonderform der Angina pectoris) oder einem Kälteasthma. Auch wer vor der Behandlung zu hohe Blutdruckwerte hat (es wird immer vorab gemessen), wird im Immanuel-Krankenhaus vom Gang in die Kälte ausgeschlossen.
Generell gilt: Man darf grundsätzlich nur dann in eine Kältekammer gehen, wenn man sich weitgehend wohlfühlt und keiner der folgenden Punkte auf einen zutreffen (das gilt besonders, wenn man eine Anwendung ohne anwesendes ärztliches Personal nutzen möchte):
Klar ist aus Sicht der Physiotherapie, dass die Kältetherapie seriell angewendet werden soll. Ideal ist die Durchführung einer Kältekammer-Therapie im Rahmen eines Reha-Aufenthalts, sagen Experten. Bei regelmässiger Anwendung – maximal zweimal täglich mit zwei Stunden Pause dazwischen – über zwei bis drei Wochen haben Patienten mit chronisch entzündlichem Rheuma oder Arthrose eine gute Chance, kranke Gelenke wieder einigermassen schmerzfrei beweglich zu machen.
Vom Schockfrost profitieren nicht nur kranke Menschen. Im Spitzensport ist die Kryotherapie gang und gäbe. Wenn man Profisportler regelmässig in die Kältekammer schicke, verbessere sich deren kardial-pulmonale Leistungsfähigkeit. Das zeige eine sportmedizinische Studie, so Dr. Stange. Auch die Trainingsdaten verbesserten sich.
Interessanterweise scheint dies nicht unmittelbar nach Extrembelastungen zu gelten. Es gebe eine Arbeit dazu, die gezeigt habe, dass sich die Entzündungswerte sogar verschlechtern, wenn man Leute nach einem Marathon in die Kältekammer schicke.
Im Wellnesssektor wird – neben allerlei ästhetischen Verbesserungen – gerne damit geworben, die Kryotherapie trage zur Gewichtsabnahme bei. Dr. Stange hält das «für wenig wahrscheinlich». «Die Kälte greift sehr tief in die innere Regulation ein, das ist richtig.» Doch ob es auf neurophysiologischer und biochemischer Ebene Antworten des Körpers auf die Kälte gebe, die eine Appetitdämpfung erwarten lassen? Das müsste erforscht werden. «Es ist keineswegs so, dass man durch die Kälte einen erhöhten Energieverbrauch hat – die Abkühlung ist ja nur sehr oberflächlich, der Körper kühlt innerlich gar nicht aus, die Körperkerntemperatur sinkt nicht in der Kältekammer», gibt der Berliner Mediziner zu bedenken.
Die Eissauna oder auch Kryosauna ist ein tonnenförmiges, offenes Gerät, das um den Körper geschlossen und mit verdampfendem Stickstoff gefüllt wird. Die Behandlung erfolgt stehend.
Für maximal drei Minuten wird eine Kälte von bis zu –196 °C erzeugt.