Dank einem ausgeklügelten Regulationssystem bleibt unser Körper in jeder Stellung in der optimalen Balance und verhindert das Hinfallen. Allerdings benötigt dieser Mechanismus regelmässiges Training.
«Oma! Oma!» Freudig rennt die zweijährige Lorena auf das Auto ihrer Grossmutter zu. Diese steigt soeben vor dem Haus ihrer Tochter aus dem Wagen. Doch die Enkelin landet nicht in den Armen ihrer Oma, sondern – plumps! – auf den harten Verbundsteinen des Vorplatzes. Wo eben noch Wiedersehensfreude herrschte, fliessen nun die Tränen.
Kleinkinder verlieren besonders häufig das Gleichgewicht und fallen. Der Grund dafür sind ihre Körperproportionen: Bei Erwachsenen liegt der Körperschwerpunkt im Unterbauch, bei Kleinkindern sitzt er im Brustbereich. Oft bleibt es nach einem Sturz bei schnell getrockneten Tränen und ein paar Schrammen; in manchen Situationen kann es für den Nachwuchs lebensgefährlich werden.
Wenn Kleinkinder in Teiche oder andere Gewässer fallen, können sie sich kaum selbst retten. Ihre Nackenmuskulatur ist noch zu schwach, um reflexartig den Kopf aus dem Wasser zu strecken. Selbst in flachsten Bächen, in kleinen Tümpeln oder in Planschbecken von wenigen Zentimetern Tiefe können sie ertrinken. In der Schweiz kommen im Durchschnitt drei Kinder pro Jahr auf diese Weise ums Leben. Präventionsfachleute ermahnen, Kleinkinder in Wassernähe niemals unbeaufsichtigt zu lassen.
Wenn die Kinder älter werden, sinkt der Körperschwerpunkt allmählich nach unten. Ihre Proportionen verändern sich. Doch damit stehen sie nicht automatisch sicherer auf den Beinen: Das Halten des Körpergleichgewichts braucht Training.
Manche schaffen es dabei bis zur Meisterschaft, etwa auf dem Snowboard, auf dem Surfbrett oder den Ski. Nur wer selbst bei hohem Tempo mit geschickten Korrekturbewegungen die Balance halten kann, bleibt bei seinem Sportgerät oben. Ganz modern ist das «Slacklinen», bei dem man auf einem etwa fünf Zentimeter breiten Band balanciert, das locker zwischen zwei Fixpunkten aufgespannt wird. Zirkusartisten können auf einem dünnen Seil gehen, Eiskunstläuferinnen wirbeln um die eigene Achse, ohne zu taumeln, Leichtathleten kommen auch nach einem Salto wieder auf die Füsse, und Balletttänzerinnen bewegen sich scheinbar mühelos auf den Zehenspitzen.
Dies sind eindrückliche Belege dafür wie schnell und effizient das Balancesystem des Körpers arbeitet, sofern es optimal trainiert ist.
Auch die Topstars des Sports, der Artistik und der Bühne haben alle mal klein angefangen. Kinder fühlen sich von kleinen Mäuerchen oder gefällten Baumstämmen nahezu magisch angezogen. Sie wollen auf ihnen balancieren.
Beide eignen sich ideal für das Gleichgewichtstraining – übrigens nicht nur für Kinder. Mit Hüpfspielen, wie etwa das seit Generationen beliebte «Himmel oder Hölle» auf Kreidemarkierungen am Boden, lernt man quasi ganz nebenbei, das Gleichgewicht zu halten.
Auch beim Fahrradfahren wird die Fähigkeit zum Balancieren optimiert. Damit sich die Körperkoordination optimal entfalten kann, sollten Eltern und Grosseltern Kinder immer wieder zum Spielen, zum Herumtollen und auch zum Turnen ermuntern.
Im Zeitalter der Spielkonsolen und der Computergames kommt die Entwicklung der körperlichen Geschicklichkeit bisweilen zu kurz. Wie eine Studie ermittelte, sind z.B. in Deutschland nur gerade 24 Prozent der elfjährigen Mädchen eine Stunde und mehr pro Tag körperlich aktiv.
Da hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges verändert: Die Generation der Grosseltern musste auf dem Land oft noch täglich mehrere Kilometer in die Schule und zurück laufen. Beim Gehen, Laufen, Springen, Hüpfen auf dem Schulweg wurde die Körperbalance automatisch trainiert. Ein chronisch unterforderter Bewegungsapparat jedoch reagiert mit Rückenbeschwerden, mit Haltungsschäden und mit Übergewicht. Langfristig können Bluthochdruck, Herzkrankheiten und Diabetes auftreten.
Der umfassende Gesundheits-Newsletter von A.Vogel erscheint 1 x pro Monat und enthält Informationen, Tipps, Wettbewerbe und vieles mehr – rund um alle Gesundheitsthemen.
Um in jeder Situation die Balance zu halten, liefert das Gleichgewichtsorgan im Innenohr Informationen über die Stellung des Körpers im Raum ans Gehirn. Das Verhältnis zur Lotrechten wird permanent kontrolliert. Dieses Regulationssystem ist so ausgeklügelt konstruiert, dass es selbst unter erschwerten Bedingungen präzise Signale liefert: Wenn ein Flugzeug in eine Kurve fliegt, spüren dies die Passagiere selbst dann, wenn vor den Fenstern nur dunkle Nacht zu sehen ist.
Das Gleichgewichtsorgan registriert auch, ob sich der Körper in Bewegung befindet. Würde beispielsweise in einem Aufzug das Licht ausfallen, spürten die Fahrgäste dennoch, ob sich der Fahrstuhl rasch oder langsam nach oben oder nach unten bewegt. Doch bei aller beeindruckenden Raffinesse – in manchen Situationen versagt das Organ seinen Dienst, etwa auf einem schaukelnden Boot, auf einem wackligen Steg oder einer rasanten Jahrmarktbahn.
Bei Kleinkindern ist das System zum Balanceausgleich im Innenohr noch nicht vollständig ausgebildet und daher besonders leicht zu irritieren. Auf einer Schaukel oder auf einem Karussell kann es ihnen so leicht übel werden.
Das Halten der Körperposition geschieht bei Erwachsenen in der Regel reflexartig; selten erfordert es die volle Aufmerksamkeit. In den Stosszeiten gibt es in der U-Bahn oder im Bus oft nicht für alle Fahrgäste einen Sitzplatz. Um nicht hinzufallen, halten sich die stehenden Fahrgäste mit einer Hand an Haltegriffen fest.
Selbst wenn sie mit der anderen Hand eine Zeitung halten und in die Lektüre vertieft sind, hält der Körper beim Anfahren und beim Anhalten des öffentlichen Verkehrsmittels seine Balance. Meistens bekommen die Passagiere von diesen kleinen Korrekturen kaum etwas mit. Das Festhalten am Griff dient vor allem zur Absicherung gegen zu abruptes Abbremsen.
Bei einigen Sportarten bildet das Spiel mit dem Gleichgewicht den Reiz der Betätigung. Judokämpfer sowie die «Schwinger» des Schweizer Nationalsports versuchen, den Gegner mit geschickten Griffen seiner Standhaftigkeit zu berauben.
Um auch unter erschwerten Bedingungen nicht umgeworfen zu werden, gibt es nur einen einzigen Weg: intensives und ausdauerndes Üben.
Regelmässiges Training der Balance ist aber auch für Personen ohne besonders hohe sportliche Ambitionen sehr wichtig. Um nahezu in jeder Situation das Gleichgewicht halten zukönnen, braucht man eine gestärkte Tiefenmuskulatur.
Bei vielen Freizeitsportarten sowie an den Geräten der Fitnesszentren werden primär die oberen Muskelschichten gekräftigt. Die tiefen Muskelschichten, etwa im Becken oder an der Wirbelsäule, bleiben häufig unterfordert. Die Körperstatik wird dadurch unausgewogen. Manche Bereiche werden zu sehr gefordert, andere werden zu wenig genutzt. Als Folge davon kommt es zu Rückenschmerzen, zu Verspannungen in anderen Körperpartien und zu einer ungünstigen Körperhaltung.
Mit zunehmendem Alter wird eine kräftige Muskulatur – speziell eben auch die Tiefenmuskulatur – immer wichtiger. Ab ungefähr dem vierzigsten Lebensjahr nimmt die Muskelmasse bei Frauen und bei Männern ab. Der Grund dafür liegt in den hormonellen Veränderungen. Mit 70 Jahren ist ungefähr die Hälfte der ursprünglichen Muskelmasse verschwunden.Durch verlorene Muskelkraft steigt das Sturzrisiko; auf Veränderungen der Balance kann weniger rasch und wirkungsvoll reagiert werden. Laut Statistiken stürzen rund 30 Prozent der über 65-Jährigen ein oder mehrmals pro Jahr! Bei den über 80-Jährigen ist es die Hälfte. Gelegentlich sind Knochenbrüche die Folge; einer von zehn Gestürzten über 65 wird ins Spital eingeliefert.
Weitere Übungen finden Sie im Buch "Fit im Alter". (Foto: GU/Fit im Alter)
Wie gut es um die eigene Fähigkeit zum Halten des Gleichgewichts bestellt ist, lässt sich leicht feststellen. Dazu stellt man sich ohne Schuhe auf ein Bein. Der Fuss des anderen Beins wird bis auf Höhe der Waden nach oben gezogen. Kann man so zehn Sekunden ruhig stehen? Als Steigerung schliesst man die Augen für weitere zehn Sekunden. Wenn man in beiden Positionen das Gleichgewicht ohne grosse Anstrengung halten kann, ist man im besten Wortsinn «gut aufgestellt».
In einer Studie der Charite sollten 1'200 Frauen ab 60 Jahren genau diese Gleichgewichtsübungn machen. Das Ergebnis: Frauen, die weniger als zehn Sekunden die Balance halten konnten, hatten ein hohes Risiko, sich bei einem Sturz zu verletzen. Die Forscher empfehlen Frauen nach der Menopause, regelmässig vom Hausarzt ihren Gleichgewichtssinn testen zu lassen.
Gerade bei älteren Menschen ist ein guter Gleichgewichtssinn wichtig, da die Informationsübertragung zwischen Gelenken, Muskeln und Gehirn langsamer abläuft. Gleichgewichtsübungen helfen, die Reaktionsfähigkeit zu trainieren und im Falle eines Sturzes mit einem Auffangschritt zu reagieren.
Wem diese Übung nicht auf Anhieb gelingt; muss sich aber keine Sorgen machen. Schon mit einigen Minuten Training pro Tag verbessert sich die Fähigkeit zum Halten der Balance innerhalb einiger Wochen bis Monate.
Eine ebenso angenehme wie wirkungsvolle Übungsmöglichkeit ist das Tanzen. In Kanada teilten Forscher zuvor gestürzte Senioren in zwei Gruppen. Die eine Hälfte wurde im Tangotanzen unterrichtet, die Vergleichsgruppe spazierte in der gleichen Zeit in einem Park. Nach zehn Wochen wurden die Unterschiede analysiert: Nur die Tänzer hatten ihre Körperhaltung, ihre Balance und ihre Bewegungskoordination deutlich gesteigert.
Nicht immer ist ein Tanzpartner in der Nähe. Dann bieten sich andere Trainingsformen an: Zähne putzen kann man beispielsweise auch auf einem Bein – solch ein tägliches Ritual zeigt bald Wirkung. Auch beim regelmässigen Balancieren auf einer auf dem Fussboden liegenden Schnur steigert sich die Trittsicherheit. Wer regelmässig Bewegungsübungen wie Tai Chi praktiziert, unterstützt ebenfalls seine Fähigkeit zum Halten des Gleichgewichts. Die asiatischen Bewegungsschulen veranschaulichen sehr schön, wie eng Körper und Geist wechselseitig verflochten sind.
In Aufregung und Unruhe fällt es viel schwerer, auf einem Bein zu stehen. Kommt der Geist durch regelmässige tiefe Atemzüge zur Ruhe, nimmt im Gegenzug die körperliche Stabilität zu. Wer nicht auf östliche Techniken setzen will, kann seine Tiefenmuskulatur durch andere Methoden kräftigen. Der Fachhandel für Sportzubehör bietet eine Auswahl an speziellen Geräten die etwa «Bongo Board», «Trim Disc» oder «Fit Disc» heissen. Sie basieren auf dem Prinzip des instabilen Untergrunds. Durch geschicktes Balancieren trainiert man, auf einer wackeligen Fläche zu stehen. Ganz einfache Übungsgeräte sind weiche Steh- oder Ballkissen. Sie sind ebenfalls im Fachhandel erhältlich. Beim Bügeln oder anderen Tätigkeiten im Haushalt oder im Büro werden sie als Stehunterlage eingesetzt. Da sie dem Körper wenig Halt bieten, wird er veranlasst, fortwährend über die Tiefenmuskulatur die Balance zu regulieren. So kommt man wieder ins Gleichgewicht.