Wildobstgehölze zierten einst Bauerngärten und Landschaft, dann wurden sie fast vergessen. Was in den robusten Pflanzen steckt und warum es sich lohnt, sie wieder mehr wertzuschätzen.
Wildobst gilt als Vorform des Kulturobstes, weil es auch ohne menschliches Zutun in der Landschaft wächst, bislang nicht oder kaum züchterisch verändert wurde und sich so seine wilden Eigenschaften bewahren konnte. Je nach Definition verstehen Gärtner unter der Bezeichnung Wildobst nur heimische Arten wie Holunder und Schlehe oder auch seit Langem eingebürgerte wie Felsenbirne und Maulbeere. Wer aufmerksam durch die Landschaft geht, kann die attraktiven Gehölze zwar gelegentlich noch heute an Wald- und Wegesrändern entdecken. Aber nur wenige Menschen erkennen die Pflanzen – und noch weniger wissen, dass sich ihre Früchte zu gesunden Delikatessen verarbeiten lassen.
Dass Wildobst fast in Vergessenheit geraten ist, liegt zum einen an seinem charakterstarken Geschmack, zum anderen an dem hohen Aufwand bei der Ernte. Viele Früchte von Wildgehölzen lassen sich nur verarbeitet geniessen. Roh sind sie nicht gut verträglich und schmecken auch nicht so lieblich wie hochgezüchtetes Kulturobst, sondern eher sauer bis bitter. Da die meisten Wildfrüchte zudem recht klein und die Gehölze oft stachlig sind, fand die Ernte jahrzehntelang überwiegend von Hand statt. Dadurch entwickelte sich während des Kalten Krieges nur in osteuropäischen Ländern die Tradition des Wildobstanbaus weiter: Während im Westen teure Südfrüchte das ganze Jahr über zu bekommen waren, versorgten osteuropäische Regierungen ihre Bürger mit heimischen Vitaminspendern und sparten dadurch Devisen.
Seit Inkrafttreten der Biodiversitätskonvention von 1992 gibt es auch in westeuropäischen Ländern immer mehr Erhaltungsgebiete für Wildobst. Inzwischen wurden für einige Arten auch maschinelle Erntelösungen gefunden, und mit steigendem Gesundheitsbewusstsein wächst die Nachfrage. In Deutschland boomt heute der Handel mit Produkten aus Holunder, Aronia und Sanddorn. In Österreich gibt es eine ungebrochene Tradition bei der Verwendung der Kornelkirsche: Das Pielachtal im niederösterreichischen Mostviertel wirbt mit über 40 000 teils sehr alten Sträuchern, die dort wachsen. Weil die Kornelkirsche im Volksmund «Dirndl» genannt wird, heisst das Tal auch «Dirndltal».
Ausgerechnet in der Schweiz, wo es kaum eine Tradition im Anbau von Wildobst gibt, entstanden in den vergangenen Jahren die vermutlich europaweit grössten Sammlungen. Die Sammlung im Aargauer Seetal entstand 2017 unter der Trägerschaft der Stiftung Kultur Landschaft Aare-Seetal KLAS und der Stiftung ProSpecieRara mit rund 2500 Exemplaren von 500 Sorten Wildobst. Die Landschaftsarchitekten Victor Condrau und Elisabeth Dürig legten in der Hauptsammlung Dürrenäsch den Schwerpunkt auf einheimische Raritäten und wenig bekannte Arten und Sorten. Die zweite Anlage im Seetal befindet sich in Hallwil, wo ein Biobauer die Früchte auf einem Markt mit festen Abonnement-Paketen und an die umliegende Sternegastronomie vertreibt. Hier wurden mehrheitlich Sanddorn, Felsenbirne, Berberitze, Wildrosen und Kirschpflaumen angebaut.
Schlehe, Schlehdorn oder Schwarzdorn: Prunus spinosa hat viele Namen.
Die Stiftung SAVE Foundation, die sich der Rettung der Vielfalt in der Landwirtschaft verschrieben hat, pflanzte 2019 zusammen mit StadtGrün St. Gallen 350 Pflanzen von 100 Wildarten nahe dem Botanischen Garten in St. Gallen. Der zweite und grössere Teil dieser Sammlung steht in Mogelsberg, wo die Erstbestückung aus 1500 Sträuchern und Bäumen von 225 Obstarten inklusive der jeweiligen Wildart bestand. Sowohl im Seetal als auch in St. Gallen werden die Sammlungen kontinuierlich erweitert. Da Wildobst trotz steigender Nachfrage aber noch immer ein Nischenprodukt ist, wollen die Organisatoren nicht nur die alten Arten und Sorten erhalten, sondern auch ihre Bekanntheit steigern. Dies geschieht durch Führungen und Schulungen sowie eine Internet-Plattform der SAVE Foundation, die als erste systematische Übersicht über die Wildobst-Arten und ihre Sorten in Europa gilt. Victor Condrau schreibt ferner gerade ein Buch über Wildobst, das 2024 erscheinen soll, und an beiden Orten wurden Kontakte zu Baumschulen geknüpft, damit neben den gängigen Arten und Sorten auch seltenere weitervermehrt und dann im Handel zu haben sind.
Lange bevor gesunde Ernährung zum Trendthema wurde, war Alfred Vogel der Meinung, dass die Ernährung die Basis für unsere Gesundheit bildet – und dass, ohne dabei auf den Genuss zu verzichten.
Die Rezeptideen von Assata Walter sind deshalb nicht nur saisonal, frisch und leicht umzusetzen, sie enhalten auch immer einen Ernährungstipp, der Ihnen hilft, sich natürlich und gesund zu ernähren.
Einen direkten Eindruck von den vielfältigen Aromen der Früchte können Besucher in Mogelsberg und Hallwil im Rahmen von Führungen gewinnen, z.B. bei einer Degustation mit Spezialitäten wie Schneeballmarmelade und kandierte Vogelbeeren. Entgegen landläufiger Meinung sind die Beeren der Eberesche (auch: Vogelbeeren) keineswegs giftig, sondern mit ihren Vitaminen und zahlreichen Antioxidanzien sogar sehr gesund, sagt Waltraud Kugler, Landschaftsökologin und Senior-Beraterin der Save Foundation in St. Gallen. In Osteuropa sei Vogelbeermarmelade ein gängiges Produkt, und in der Volksmedizin gelte die Beere als ein Mittel gegen Skorbut.
Gewöhnlicher Schneeball (Viburnum opulus) (Foto: WikimediaCommons/Lestat)
Dass die Vogelbeere als giftig gilt, hat mit dem Inhaltsstoff Parasorbinsäure zu tun, die in grösseren Mengen Verdauungsbeschwerden hervorrufen kann, jedoch durch Kochen zur ungefährlichen Sorbinsäure, einem gängigen Konservierungsmittel für Lebensmittel, umgewandelt wird. Roh werden die bitteren Vogelbeeren wahrscheinlich sowieso kaum in grösseren Mengen gegessen, denn nur gekocht und kandiert entfalten sie ihr unverwechselbares, süss-fruchtiges Aroma.
Die Parasorbinsäure, die der rohen Vogelbeere ihren bitteren Geschmack verleiht, gehört zur Stoffgruppe der cyanogenen Glykoside. Diese sind weit verbreitet in der Pflanzenwelt und kommen zum Beispiel auch in Leinsamen, Weinbeeren, Aprikosen- und Mandelkernen vor. Sie schützen die Pflanze vor Frassfeinden und dienen den Samen als Keimhemmer, können aber im menschlichen Körper durch die Verbindung mit einem Enzym giftige Blausäure freisetzen. Da diese jedoch schon bei sehr niedrigen Temperaturen zerstört wird, rät Waltraud Kugler, die Früchte von Arten wie Aronia-, Holunder- und Vogelbeeren in grösseren Mengen verarbeitet zu essen und beim Holunder eventuell nach dem Kochen die Samen auszusieben.
Wildobstfrüchte sind auch reich an Gerb- und Bitterstoffen. Um deren herben Geschmack abzumildern, werden z.B. Schlehen, Hagebutten, Berberitzen und Mispeln erst nach dem ersten Frost geerntet, da Kälte die Bitterstoffe abbaut und die Süsse verstärkt. Geschmacksvorlieben seien auch kulturell bedingt, sagt Waltraud Kugler. Während in Russland aus den Beeren des Schneeballs ein gängiger Erkältungstee hergestellt werde, empfänden viele Mitteleuropäer den Geschmack als befremdlich. Weil noch immer viel zu wenige Menschen wüssten, welch kulinarischer Reichtum in den wilden Früchtchen steckt, hat die SAVE Foundation eine Broschüre mit Rezepten erstellt.
Einige Substanzen, die in Wildobst mehr als in Zuchtformen vorkommen, sind auch verantwortlich für die vielfältigen gesundheitlichen Vorteile. Zu den nachgewiesenen Inhaltsstoffen gehören vor allem bioaktive Verbindungen wie Anthocyane und Flavonoide , ein hoher Vitamin-C-Gehalt sowie viele Vitamine und Mineralstoffe. Bezüglich der gesundheitlichen Qualitäten von Wildfrüchten sind insbesondere antioxidative, antimikrobielle und entzündungshemmende Effekte wissenschaftlich belegt. Eine bereits 2016 in dem Fachjournal «Molecular «Science» erschienene chinesische Übersicht, bei der Studien weltweit ausgewertet wurden, bescheinigt einigen Arten und Sorten von Wildobst sogar ein pharmazeutisches Potenzial zur Vorbeugung von chronischen Krankheiten. Eine wichtige Rolle dabei spiele die starke antioxidative Wirkung der sekundären Pflanzenstoffe, denn oxidativer Stress sei massgeblich an zahlreichen chronischen Krankheiten beteiligt. Beispielsweise wurden in verschiedenen wilden Blaubeer-Arten, in Schlehen, Kornelkirschen und Elsbeeren Phenolverbindungen nachgewiesen, in Himbeeren und den Früchten der Schmalblättrigen Ölweide Phenole und Flavonoide. Analysen von Walderdbeeren, wilden Himbeeren und Blaubeeren wiesen nach, dass die Wildformen eine viel höhere antioxidative Wirkung entfalten als ihre Kulturformen.
Gewöhnliche Berberitze (Berberis vulgaris) (Foto: WikiemdiaCommons/Sabenica)
Eine Übersichtsarbeit aus Südafrika von 2017 betont ebenfalls die Reichhaltigkeit und genetische Vielfalt von wild wachsenden Obst- und Gemüsesorten und kommt zu dem Schluss, dass diese eine wichtige Rolle für die weltweite Ernährungssicherheit und Gesund-erhaltung der Menschheit spielen könnten. 2022 bestätigten chilenische Wissenschaftler die vorliegenden Befunde und bescheinigten Wildobst ein hohes gesundheitliches Potenzial in Gestalt einer Vielzahl an Nährstoffen und bioaktiven Verbindungen. In der Volksmedizin werden einige Wildobst-Arten schon seit Langem als Heilmittel genutzt: Darunter Weissdorn als bekanntes Herzmittel, Holunder- und Sanddornbeeren als traditionelle Mittel gegen Erkältung, Heidelbeeren gegen Entzündungen und Schlehen gegen Verdauungsbeschwerden. Hagebutten und Sanddornbeeren enthalten ein Vielfaches an Vitamin C von Zitronen, weshalb Sanddornbeeren auch als «Zitronen des Nordens» bezeichnet werden. Sanddorn gilt ferner als eine der wenigen nichttierischen Quellen für Vitamin B12 und soll sowohl innerlich als auch äusserlich angewendet die Hautgesundheit fördern.
Laut Waltraud Kugler und Victor Condrau punkten Wildobstgehölze aber nicht nur mit den gesundheitlichen Vorteilen ihrer Früchte. Sie sind zudem robust und dekorativ und könnten als ökologisch besonders wertvolle Pflanzen Parks, Privatgärten und Landschaft aufwerten. Denn Wildobstgehölze bieten Nahrung, Nistgelegenheiten und Rückzugsorte für viele Tiere. Da viele der Pflanzen dornenbewehrt sind, schützen sie vor allem heckenbrütende Vögel. Dies sei insbesondere in Siedlungen von Vorteil, wo streunende Katzen zu den wichtigsten Feinden der Nestlinge gehörten, sagt Victor Condrau.
Anstatt also den Gartenzaun mit einer Hecke aus ökologisch nutzlosen Forsythien oder Photinien zu bestücken, könne man diesen besser mit Gehölzen wie Berberitzen, Kornelkirschen, Schwarzdorn und Wildrosen bestücken. Die meisten seien gut schnittverträglich und mindestens genauso attraktiv wie gängige Ziergehölze. Zudem seien Wildgehölze anspruchslos und robust und weniger krankheits- und schädlingsanfällig als hochgezüchtete Obstsorten. Nur nasse, staunasse, verdichtete Böden seien bei der Pflanzung zu vermeiden, rät Victor Condrau. Zur optimalen Bestäubung und Befruchtung seien immer mindestens zwei Pflanzen pro Art/Sorte zu setzen.
Mit der Erderhitzung könnte Wildgehölzen noch eine weitere wichtige Funktion zukommen: Viele Arten sind Waltraud Kugler zufolge sehr trockenheitsresistent. Weissdorngehölze zum Beispiel würden gerne als Strassenbaum gepflanzt, weil sie tiefe Wurzeln machten. Mit ihrer genetischen Vielfalt böten Wildgehölze möglicherweise Alternativen zu bisherigen Arten und Sorten, denen die sich ändernden Klimaverhältnisse immer mehr Probleme bereiten.
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