Eine Odyssee von Arzt zu Arzt, keine oder eine falsche Diagnose: Wer unter einer Unverträglichkeit von Histamin leidet, kennt diesen Leidensweg. Doch steht eine Histaminintoleranz (HIT, auch Histaminose genannt) fest, können Betroffene sie mithilfe einfacher Verhaltensregeln, einer Regenerierung der Schleimhäute und einer angepassten Ernährung gut regeln und ihre Lebensqualität enorm verbessern.
Autorin: Silke Lorenz
Histamin ist ein biogenes Amin und kommt an etlichen Orten in unserem Körper vor, z.B. in Mastzellen, Thrombozyten oder Nervenzellen. Histamin ist also ein körpereigener Botenstoff und an vielen physiologischen Vorgängen beteiligt. Deshalb sind auch die Symptome so vielfältig und treten an verschiedenen Organen auf. Ausserdem wird Histamin zusätzlich über die Nahrung aufgenommen.
HIT ist keine Allergie, auch wenn die Beschwerden ähnlich sind. Die häufig unspezifischen Symptome treten vorwiegend während und nach dem Essen auf, teilweise aber auch erst einige Zeit später. Sie können den ganzen Körper betreffen und sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Typisch sind z.B. plötzliche Hautrötungen, Nesselsucht, Juckreiz, rote Augen, geschwollene Lippen, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, starke Bauchschmerzen, Blähungen, Völlegefühl, Sodbrennen, Blutdruckabfall, Schwindel, Herzrasen, asthmaähnliche Symptome, Kopfschmerzen bis hin zu Migräne. Von einer HIT sind etwa ein Prozent der Schweizer betroffen, zumeist sind es Frauen mittleren Alters. In Einzelfällen ist eine familiäre Häufung bekannt.
«Hält der Betroffene über mehrere Wochen eine histaminarme Diät ein und die Beschwerden bessern sich massiv, kann eine Histaminintoleranz vermutet werden», erklärt Privatdozent Dr. Matthias Möhrenschlager, Chefarzt der Dermatologie an der Hochgebirgsklinik Davos.
Normalerweise sind Histamin und das Enzym Diaminoxidase (DAO) im Gleichgewicht. Ist aber die DAO erniedrigt, ist das Enzym nicht aktiv genug und baut somit nicht schnell genug Histamin ab. Das bedeutet, dass der Histaminabbau bis zu acht Stunden statt 30 Minuten dauern kann. Dadurch erhöht sich der Histaminspiegel im Körper ständig, ein Ungleichgewicht entsteht. «Histaminreiche Nahrung und Getränke sind eine Ursache. Eine andere ist die Einnahme von Nahrungsmitteln und Medikamenten, die Histamin im Körper freisetzen. Man nennt sie auch Histamin-Liberatoren. Als dritte Ursache zählt die Einnahme von Medikamenten, die die Histamin abbauenden Enzyme wie DAO in ihrer Funktion stören», erklärt Dr. Möhrenschlager.
Hilfreich ist, ein Tagebuch über sämtliche Lebensmittel zu führen, die man zu sich nimmt, sowie über die Symptome, die zeitnah nach dem Essen auftreten. Dazu kann man persönliche Faktoren notieren, die ebenfalls unter Umständen Einfluss haben. Nach und nach kristallisiert sich dann heraus, welche histaminhaltigen Lebensmittel individuell vertragen werden und wo mögliche Auslöser zu finden sind. Gut zu wissen: Es gibt Fälle, in denen Betroffene während ihrer histaminarmen Diät eine Tomate essen, und nichts passiert. Oftmals ist es nämlich die Kombination von Lebensmitteln, die das «Essenshistamin» kumuliert und damit das Fass zum Überlaufen bringt.
Dr. Möhrenschlager rät zur Einnahme von H1- und H2-Blockern. Diese Antihistaminika (zum Teil frei verkäuflich) reduzieren die Wirkung des Histamins im Körper. Wenn sich die Symptome hierunter nicht rasch zurückbilden, sollte man unverzüglich den Rettungsdienst rufen.
Trotz zahlreicher Angebote der Analytik gibt es gegenwärtig keinen validen Test im Blut, Stuhl oder Urin, der eine Diagnosesicherung erlaubt. Die Hochgebirgsklinik Davos bietet – gemäss der Empfehlung der Schweizer Gesellschaft für Allergologie und Immunologie – jedoch einen viertägigen Aufenthalt mit interdisziplinärer allergologischer Abklärung einer Histaminunverträglichkeit und Ernährungsberatung an.
«Die Leitlinie zur Histaminintoleranz von 2021 empfiehlt zur Diagnosesicherung eine doppelblinde, nocebokontrollierte, titrierte, körpergewichtsadaptierte orale Provokationstestung», erläutert Dr. Möhrenschlager. Dies entspricht dem sogenannten Goldstandard, wie er auch in der Diagnostik von Nahrungsmittelallergien zur Anwendung kommt. Nach einer festgelegten Periode, in der Histamin streng gemieden wird, trinkt der Patient im Rahmen der stationären Provokationstestung entweder his-taminhaltige oder histaminfreie Lösungen, welche optisch und vom Geschmack nicht unterscheidbar sind. Dabei wird er ärztlich überwacht.
Bei Verträglichkeit der angebotenen Histaminmenge steigert man bei weiteren Gaben vorsichtig die Menge an Histamin. Weder Arzt noch Patient wissen dabei, wann histaminhaltige und wann histaminfreie Gaben erfolgen. Die Nachbeobachtungszeit nach der jeweiligen Gabe ist ausreichend lange, um auch verzögert ablaufende Reaktionen zu erfassen.
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Anfangs sollte Histamin nach Möglichkeit gemieden werden. Später hat sich eine Kombination von his-taminarmen mit histaminreichen Nahrungsmitteln in einer Mahlzeit bewährt. «Natürlich sind mehr Mahlzeiten mit frischen Zutaten zu Hause besser als Menüs aus dem Restaurant oder Fast Food. Achten Sie auf guten Schlaf und ausreichend Bewegung, reduzieren Sie den Stresspegel, auch emotional», rät Ernährungsberaterin (BSc BFH) Martina Heierle, die ihre Praxis in Aathal ZH hat.
Nur zu verzichten, ist aber auch keine Lösung auf Dauer. Anstatt eines starren Wochenplans passt Heierle deshalb mit ihren Patienten die Mahlzeiten mithilfe der Liste der Schweizerischen Interessengemeinschaft Histaminintoleranz (SIGHI) an. «Wichtig ist es, in dieser Liste eine passende Alternative zu finden und damit Mängeln vorzubeugen. Nach vier bis sechs Wochen lockern wir die histaminarme Ernährung und fangen mit einem Aufbau an.»
Zusätzlich achtet Martina Heierle darauf, die Darmschleimhaut zu verbessern. Hier werden Enzyme wie Diaminoxidase produziert, die Histamin aus der Nahrung abbauen. Denn ist die Darmschleimhaut beschädigt, werden die darunterliegenden Mastzellen irritiert und schütten unkontrolliert Histamin aus, erklärt die Expertin.
Jedes histaminfreie Nahrungsmittel kann durch eine unterbrochene Kühlkette, durch schlechte Lagerung und mangelnde Hygiene rasch histaminreich werden. Damit das nicht passiert, hat Martina Heierle Tipps parat: «Fleisch und Fisch sollte man erst zum Schluss einkaufen. Am besten nutzt man eine Kühltasche, um die Kühlkette nicht zu unterbrechen, und bringt alles schnell nach Hause. So muss man auch keine Angst vor Tiefkühlkost haben. Leicht verderbliche Nahrungsmittel bewahrt man unten im Kühlschrank auf und braucht sie rasch auf. Überhaupt ist es zu empfehlen, stets frisch einzukaufen und zeitnah zu verarbeiten.
Bei der Zubereitung sollte man auf eine einwandfreie Hygiene achten, Hände gründlich waschen, Arbeitsfläche und Messer sauber halten. Reste besser nicht aufwärmen, sondern nach kurzer Abkühlzeit einfrieren, später schnell auftauen und sofort verbrauchen. Oftmals werden sie dann gut vertragen.»
Beim Essen im Restaurant ist die Auswahl der Gerichte wichtig. Martina Heierle rät zu histaminärmeren Varianten wie weissem Fisch oder magerem Fleisch (Geflügel, ohne Haut), dazu Pasta oder Salzkartoffeln sowie ein Nüsslisalat mit Ei und einer Sauce aus Öl und Apfelessig. Kräuter, Knoblauch und Zwiebeln sind okay. Alkohol gilt als Übeltäter Nummer eins, also besser ganz darauf verzichten. «Wem das zu kompliziert ist, der kann ein Enzympräparat zum Histamin-abbau etwa 15 Minuten vor dem Essen nehmen. Sollten Symptome auftreten, hilft ein Antihistaminikum», so die Ernährungsberaterin.
Betroffene sollten früher oder später vieles essen können, ohne Beschwerden zu entwickeln. Dazu empfiehlt die Ernährungsberaterin gezielte Massnahmen für Darm und Darmschleimhaut. «Denn in einer intakten Schleimhaut gibt es genügend Enzyme wie DAO, die das von aussen zugeführte Histamin abbauen. Zudem lässt eine intakte Schleimhaut kaum Irritationen bis zu unseren Histaminzellen, den Mastzellen, durchdringen. Die Symptomatik wird milder und tritt seltener auf. Manchmal verschwindet sie ganz», erklärt Heierle.
Der Hausarzt oder ein Facharzt kann eine Verordnung zur Ernährungsberatung ausstellen. Sie umfasst mindestens sechs Einheiten. Damit kann eine diplomierte Ernährungsberaterin (HF oder BSc FH) die Beratungskosten durch die Grundversicherung abrechnen.
«Die Naturheilkunde hat einige Möglichkeiten, die auch teilweise mit schulmedizinischen Konzepten kombinierbar sind», erklärt Peter Germann, Heilpraktiker und Leiter der Heilpflanzenschule PhytAro in Dortmund. Pauschal möchte er keine Therapieanweisungen benennen, nur einzelne Pflanzen, die Betroffene unterstützen können. Wie zum Beispiel Hamamelis, die virginische Zaubernuss: Sie setzt eine Grenze für die körpereigene Ausschüttung von
Histamin. Omega-3-Fettsäuren sowie Zedernöl oder die Zypresse können verabreicht werden, ebenso wie das fette Öl vom Schwarzkümmel oder Leinöl.
Auch die Dosierung entscheidet Peter Germann je nach Fall. Dazu sollten vorher diese Fragen geklärt werden: «Welcher Patiententypus sitzt vor mir? Ist es ein Kind oder ein Erwachsener? Wie ‹gereizt› ist er bereits durch sein Krankheitsbild? Ist er in einem akuten Schub oder in einer Latenzphase? Welche Medikamente nimmt er parallel ein?» Homöopathische Mittel können ebenfalls helfen, angepasst an die persönlichen Beschwerden.
Durchschnittswerte zur Orientierung gebe es keine, da insgesamt der Symptomkomplex der HIT zu vielschichtig sei, betont Germann.
Heilbar im eigentlichen Sinne ist eine Histaminintoleranz (bislang) nicht. Ist sie einmal diagnostiziert, sollte man stets gut auf seinen Körper achten. Oberstes Gebot: Entzündungen reduzieren, die Mastzellen nicht unnötig reizen und besonders die Darmschleimhaut pflegen. Dann muss man keinesfalls lebenslang auf histaminhaltige Lebensmittel verzichten, sondern kann seine Ernährung bewusst und unter bestimmten, individuell unterschiedlichen Gesichtspunkten auswählen.
Die beiden Heilpraktiker Kyra und Sascha Kauffmann sehen eine histaminarme Ernährung auf Dauer kritisch. Damit würde ihrer Meinung nach das eigentliche Problem, z.B. die dringend notwendige Darmsanierung oder die Regulation der Schilddrüse, nicht angegangen werden. Somit komme es vermehrt zur Ausschüttung von Mastzellenhistamin. Ausserdem würden sich auf der Basis eines kranken Darms weitere Nahrungsmittelunverträglichkeiten bilden. Die Lösung liegt für sie in der «Umprogrammierung» des Stoffwechsels. Der Körper soll damit Schritt für Schritt wieder lernen, mit Histamin zurechtzukommen.
Kauffmanns Empfehlung: Für die ersten drei Monate eine histaminarme und zugleich entzündungsreduzierende Ernährung. Danach erhalten die Patienten keine Verbote, sondern Gebote nach der TAFF-Regel.
Zuletzt aktualisiert: 09-01-2024