Bläh- und Verdauungsbeschwerden können verschiedene Ursachen haben. Eine davon ist die bakterielle Fehlbesiedlung des Dünndarms. Häufig gleichen die Beschwerden denen des Reizdarmsyndroms.
Billionen Bakterien tummeln sich in unserem Darm. Gemeinsam bilden sie die Darmflora bzw. das Mikro-biom. Ein Grossteil dieser Bakterien lebt normalerweise im Dickdarm, also jenem Teil, der die letzten eineinhalb Meter unseres Darms ausmacht. Doch es kommt vor, dass sich Bakterien aus dem Dickdarm im Dünndarm ansiedeln. Das sorgt für erhebliche Beschwerden. Fachleute sprechen dann von «small intestinal bacterial overgrowth», daraus leitet sich die gebräuchliche Abkürzung SIBO ab (zu deutsch: Dünndarmfehlbesiedlung, kurz DDFB). Was ist da los?
Forscher haben Dutzende möglicher Risikofaktoren im Visier. Wir werfen einen Blick auf die häufigeren unten ihnen. Normalerweise ist eine Art «Türchen» dafür zuständig, dass die Bakterien da bleiben, wo sie hingehören und nicht einfach von einem Darmteil in den anderen übersiedeln: die Ileozökalklappe. Sie hat einen ventilartigen Aufbau: Der Speisebrei gelangt in den Dickdarm und kann von dort nicht mehr zurück. Schliesst diese Klappe aus verschiedenen Gründen jedoch nicht richtig, können Bakterien aus dem Dickdarm in den normalerweise bakterienarmen Dünndarm wandern. Und halten dort eine Art Festschmaus ab: «Sie bedienen sich fleissig an den noch unverdauten Nährstoffen, fermentieren sie und bilden dabei munter Gase», beschreibt Dr. Martin Wilhelmi, Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie in Zürich den Vorgang.
Letzteres ist für Betroffene eine Pein, denn der Dünndarm kann gar nicht gut mit Gasen umgehen und reagiert sehr empfindlich auf Dehnung. Die Folgen: schmerzender Blähbauch, heftiges Aufstossen, Übelkeit, Durchfall und/oder Verstopfung. Typisch ist, dass SIBO-Patienten im nüchternen Zustand beschwerdefrei sind. Die Beschwerden beginnen in der Regel ein bis zwei Stunden nach der ersten Mahlzeit und nehmen im Lauf des Tages zu. Lässt man Mahlzeiten aus und reduziert die Essmenge, bessert sich die Symptomatik. Vermehrte Beschwerden werden Gastroenterologen zufolge häufig nach kohlenhydratreichen Mahlzeiten (z.B. Pasta) geschildert.
Zu einer Bakterienüberwucherung im Dünndarm trägt auch eine fehlende Darmbewegung bei, Fachleute sprechen von einem ungenügend arbeitenden motorischen Komplex bzw. verringerter Darmmotilität, einer zu langsamen Fortbewegung des Nahrungsbreis. Der verbleibt dann länger im Dünndarm als er sollte und gibt den ansässigen Bakterien reichlich Zeit, die Nährstoffe aus dem Darminhalt zu vergären (inklusive Gasbildung) und sich dabei munter zu vermehren. Zugleich unterbleibt der zügige Weitertransport in den Dickdarm, welcher auf das Vorhandensein von Bakterien ja erheblich besser eingerichtet ist.
Ein weiterer Faktor für eine Dünndarmfehlbesiedlung kann ein Mangel an Magensäure sein. Ist der pH-Wert des Magens zu hoch (also nicht sauer genug), werden zu wenige in der Nahrung befindliche Mikroorganismen abgetötet; der schlecht verdaute Nahrungsbrei füttert emsig unerwünschte Bakterien an, und diese können sich dann unbeschwert im Dünndarm breitmachen.
Nicht zu unterschätzen ist auch der regelmässige Konsum von Alkohol. Eine schwedische Studie zeigte eine Prävalenz (Kennzahl für Krankheitshäufigkeit) von 90 Prozent SIBO-Betroffenen unter Alkoholikern. Sind Bauchspeicheldrüse, Leber oder Nieren beeinträchtigt, kann das SIBO begünstigen und zu einer Schwächung der lleozökalklappe beitragen.
Häufig gleichen die Beschwerden einer Dünndarmfehlbesiedlung (SIBO) denen des Reizdarmsyndroms (RDS). Zugleich kann SIBO aber auch eine Ursache der Reizdarmbeschwerden sein. Eine diagnostische Abgrenzung ist oft schwierig.
Dass die Ileozökalklappe «schlapp» macht, kann diverse Gründe haben, z.B. Entzündungen des Dünn-, Dick- und Blinddarms. Mitunter wird infolge bestimmter Erkrankungen (z.B. Morbus Crohn) auch eine Entfernung der Klappe notwendig. Bei diesen Patienten kommt es deutlich häufiger zu Dünndarmfehlbesiedlungen.
Bewegungsstörungen des Magen-Darm-Trakts können durch mehrere Gründe ausgelöst werden. Steht man z.B. unter hohem emotionalen Druck (Stress), schüttet der Körper vermehrt Stresshormone aus. Diese Botenstoffe bewirken, dass die Verdauung pausiert – die Durchblutung der Magenschleimhaut und die Magenentleerung nehmen ab. Auch die Ernährung (zu kalt, zu heiss, zu fettig, zu scharf, allergieauslösend, unverträgliche Nahrungsmittel) kann zu verminderter bzw. fehlender Darmbewegung beitragen. Arzneien, z.B. Antidepressiva oder Opiate, gelten ebenfalls als Auslöser von Motilitätsstörungen.
Gründe für eine zu geringe Produktion von Magensäure können sein: falsches Essverhalten und Nährstoffmängel, fortgeschrittenes Alter, Medikamente wie z.B. antiallergische Wirkstoffe (Antihistaminika) oder der langfristige Einsatz von Magensäureblockern (Protonenpumpeninhibitoren, PPI).
Die Erhöhung der Bakterienmenge im Dünndarm kann zu Schäden an der Dünndarmschleimhaut beitragen. Das führt dazu, dass Nährstoffe wie Fette, Proteine und Mikronährstoffe nicht mehr richtig durch die Darmwand passieren können. Die Folge: Mangelerscheinungen, etwa infolge fehlender fettlöslicher Vitamine wie Vitamin A, D, E, K und an B12.
Die Erkrankung ist leider schwer nachzuweisen. Atemtests sind als diagnostisches Instrument zwar gängig, aber offenbar nicht der Weisheit letzter Schluss: «Die Aussagekraft der Tests ist umstritten, da die Grenzwerte der Gasmengen willkürlich festgelegt sind», gibt Dr. Wilhelmi zu bedenken. Gemessen werden sollten Wasserstoff (H2) und Methan (CH4). Das sind die beiden hauptsächlich vorkommenden Gase, die von Bakterien gebildet werden, welche an SIBO beteiligt sind.
Und so funktioniert es: Die betroffene Person trinkt eine Testsubstanz (Glukose und Laktulose); danach wird in regelmässigen Abständen die Konzentration von Wasserstoff und Methan in der Ausatemluft gemessen. Lässt der Glukose-Atemtest den Hydrogenspiegel (H2) ansteigen, geht man davon aus, dass im oberen Teil des Dünndarms Bakterien sind, die sich die Glukose vor dem eigentlichen Verdauen einverleiben. Ein Laktulose-Atemtest, der Methan (CH4) anzeigt, lässt ein bakterielles Wachstum auch im mittleren und unteren Teil des Dünndarms vermuten. Eine andere, aufwendige Methode ist, mittels einer endoskopischen Untersuchung flüssiges Material aus dem unteren Teil des Dünndarms, dem Jejunum, zu gewinnen. Daraus werden dann Bakterienkulturen angelegt und die Anzahl der vorhandenen Bakterien durch Zählen bestimmt.
Um möglichst aussagekräftige Testergebnisse zu erzielen, raten Experten Folgendes:
Zur Diagnose von SIBO werden auch Selbsttests angeboten, also Atemgasanalysen zur Bestimmung von bakterieller Aktivität im Dünndarm. Von den Anbietern erhält man Testkits mit Vakuumröhrchen für die Atemluft, Mundstück, Laktulose und Testanleitung. Die mit Atemluft gefüllten Teströhrchen werden dann eingeschickt und im Labor auf Wasserstoff (H2) und Methan (CH4) getestet. Im Ergebnisbericht werden die Gaskurven dargestellt; der behandelnde Arzt übernimmt deren Auswertung. «Die Selbstests empfehle ich nicht, da das Thema komplex ist, häufig eben doch andere Diagnosen vorliegen und die Testinterpretation immer nur im Kontext gesehen werden sollte, am besten mit einem Arzt oder der Ernährungsberatung», so die Einschätzung des Zürcher Gastroenterologen und Buchautors Dr. Martin Wilhelmi.
An erster Stelle steht nachzuprüfen, ob und welche Grunderkrankungen vorliegen könnten, z.B. Diabetes oder Bauchspeicheldrüsenschwäche (Pankreasinsuffizienz) und diese gezielt zu behandeln. Anatomische Gründe wie Divertikel oder Fisteln müssen eventuell chirurgisch entfernt werden.
Gehen mit der Dünndarmfehlbesiedlung Mangelerscheinungen einher, wären spezielle Präparate einzunehmen, um z.B. einen Vitaminmangel auszugleichen. Die Einnahme verdauungshemmender Präparate (z.B. Opiate) oder säurehemmender Medikamente (Protonenpumpeninhibitoren, PPI) sollte vorübergehend eingestellt werden.
Vielfach verordnen Ärzte zur diagnostischen Therapie ein Antibiotikum. Nachteil: Bei einer antibiotischen Therapie werden auch gesunde Darmbakterien gestört. Nicht selten kommt es zudem schon wenige Wochen nach Ende der Therapie zu einer neuerlichen Fehlbesiedlung des Darms.
Dr. Martin Wilhelmi verweist auf längerfristige Therapien mit pflanzlichen Antibiotika wie Oreganoöl oder Knoblauchextrakt (Allicin), die helfen könnten. Eingesetzt werden auch Zimt, Neem, Berberitze und Pau d‘Arco (Lapachobaum-Rinde).
Für viele Therapeuten steht indes die Ernährung im Vordergrund einer SIBO-Behandlung. Ziel dabei ist, den Bakterien durch eine ausgeklügelte Lebensmittelauswahl die Nahrungsquelle zu entziehen. Da Kohlenhydrate das wichtigste Substrat für die Bakterien darstellen, halten Ernährungsspezialisten eine Reduktion von fermentierbaren Kohlenhydraten, vor allem von Polysacchariden, für sehr effektiv. Auch das Reduzieren stärkehaltiger Lebensmittel hat sich in der Praxis als sehr wirksam erwiesen. Da dieser diätetische Ansatz allerdings mit einem potenziellen Energiedefizit einhergeht, sollte die Fett- und Proteinmenge entsprechend angepasst werden. Prophylaktisch wird zudem eine laktose- und fruktosearme Ernährung empfohlen. Die Ernährungsform, die all das berücksichtigt, ist die spezifische Kohlenhydrat-Diät, auch «Specific Carbohydrate Diet» (SCD) genannt.
Von eigenmächtigem Experimentieren wird dabei abgeraten; es empfiehlt sich, eine solche Ernährungstherapie mithilfe einer Fachperson durchzuführen. Wissenschaftler empfehlen die SCD im Zusammenhang mit einer antibiotischen Therapie. Als alleinige therapeutische Massnahme im Sinne eines «Aushungerns der Mikroorganismen» ist sie offenbar nicht geeignet.
Vielfach liest und hört man im Zusammenhang mit der Dünndarmfehlbesiedlung von «guten» respektive «bösen» Bakterien – doch diese Zuordnung verstellt den Blick auf das Geschehen. Es sind schlicht zu viele und vor allem die falschen Bakterien am betreffenden Ort. Einer Dünndarmfehlbesiedlung mit Probiotika zuleibe zu rücken, kann kontraproduktiv sein. Denn es ist möglich, dass die Einnahme der Zubereitungen aus lebenden Mikroorganismen (z.B. in Form von speziellem Joghurt, Nahrungsergänzungs- oder Arzneimitteln) das Problem eher verschlimmert statt verbessert, warnen Experten. Wer Probiotika trotzdem einsetzen möchte, sollte auf Präparate achten, die frei von laktatproduzierenden Bakterienstämmen sind bzw. Produkte auf Hefebasis wählen.