Ganzheitliche Zahnmediziner lesen am Gebiss viel über unser Gesamtbefinden ab. «Sanfter» behandeln sie zwar nicht, doch mit einem anderen Ansatz, besonders, was die Materialien angeht. Die beste Grundlage für gesunde Zähne ist und bleibt jedoch die gründliche Pflege.
Autorin: Silke Lorenz, 05/17
Die vielen Teilbereiche des menschlichen Organismus sind intensiv miteinander vernetzt und in ihrer Funktion respektive Fehlfunktion voneinander abhängig, weiss die Medizin heute. So betrachten ganzheitliche Zahnärzte denn auch Mund und Zähne nicht als ein vom restlichen Körper isoliertes Gebiet.
«Wir ganzheitlichen Zahnmediziner sind ganz normale Zahnärzte, die jedoch den Menschen in seiner Gesamtheit betrachten. Das hat mit sanfter Methode nichts zu tun. Auch wir müssen einen kaputten Zahn ziehen», sagt Dr. Johann Lechner aus München. Sein Zürcher Kollege Dr. Manfred Klein ergänzt: «Wir sehen den Zusammenhang zwischen Zähnen und dem restlichen Körper über die Meridiane, über die Durchblutung kleinster Gefässe, über das Lymphsystem und über das Immunsystem.» Beide sind sich einig: «Eine gute Schulmedizin muss die Basis sein, auf der man mit ganzheitlicher Zahnmedizin aufbauen kann.
Die ganzheitliche Zahnmedizin nutzt das Erklärungsmodell der Traditionellen Chinesischen Medizin. Demzufolge ist jeder Zahn über die Meridiane – jene Kanäle, in denen die Lebensenergie Qi fliesst – mit einem bestimmten Organ verbunden. Befindet sich nun im Kiefer oder Gebiss ein Störfeld, hat dies Einfluss auf den Körper. Unter Umständen löst es sogar eine Krankheit aus. Solche Störfelder können verschiedener Art sein: alte Operationsnarben, bereits gezogene Zähne, tote oder wurzelbehandelte Zähne, bestimmte unverträgliche Füllungs- und Implantat-Materialien und Bereiche, in denen die Wundheilung gestört ist.
Immens wichtig ist die ausführliche Erstdiagnose, die unterschiedliche Untersuchungen beinhaltet. «Eine dreidimensionale digitale Röntgenaufnahme (DVT) ist nötig, um Zahnersatz planen zu können. Ausserdem spürt man damit etwa einen zurückgelassenen Wurzelrest oder einen Fremdkörper auf. In Ergänzung wird per Ultraschall-Aufnahme die Knochendichte des Kiefers gemessen», erklärt Lechner, der als Zahnarzt und Heilpraktiker vor gut 35 Jahren die Internationale Gesellschaft für Ganzheitliche Zahnmedizin mitgegründet hat. Um zusätzlich die Beziehungen innerhalb des Organismus erkennbar zu machen, greift Lechner auf Biofeedback-Verfahren zurück, wie zum Beispiel verschiedene Muskelreflex-Tests. Wie das in der Praxis abläuft, erzählt Dr. Manfred Klein: «Die Erstdiagnose dauert oft eine Stunde. Ich schaue, wie mir der Patient entgegenkommt, welche Körperhaltung er einnimmt. Sind Narben vorhanden? Welche Allergien oder Unverträglichkeiten hat er, welche akuten Beschwerden oder chronischen Krankheiten?»
Der gebürtige Österreicher praktiziert seit neun Jahren in der Schweiz, führt eine eigene Praxis in Zürich und ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Ganzheitliche Zahnmedizin. Für Klein ist das Übersichtsröntgen entscheidend: «Dabei schauen wir auf chronische unterschwellige Entzündungen, auf wurzelbehandelte Zähne und auf sämtliche Metalle im Mund einschliesslich Titan- Implantate. Bei chronisch Kranken veranlasse ich immer einen Urintest, um die Belastung durch Schwermetalle festzustellen. Es wird jeder Zahn getestet, ob er noch lebt, der Mundraum wird genau inspiziert. Diese erste Untersuchung ist sehr konzentriert.»
Kollege Lechner fügt hinzu: «Wir schauen auch, was an erster Stelle der chronischen Belastungspyramide steht. Es kann sein, dass wir dem Patient sagen: Sanieren Sie erst mal Ihren Darm, dann kommen Sie wieder zu uns. Oder: Stabilisieren Sie sich erst psycho-emotional, dann machen wir die Zähne.»
Lechner will den Patienten bewusst machen: «Kein anderer Arzt arbeitet mit so vielen Fremdkörpern wie der Zahnarzt. Wir wollen niemals etwas verteufeln, aber Metall im Mund ist womöglich eine Antenne für den uns ständig umgebenden Elektrosmog. Kommt zusätzlicher Stress hinzu, reagiert der Körper mit unterschiedlichen Krankheitssymptomen», meint Lechner. Deshalb verzichten er und Kollege Klein in ihren Praxen auf quecksilberhaltiges Amalgam, Metalle für Zahnbrücken und Kronen sowie auf Titan für Implantate. Stattdessen verwenden sie metallfreien, herausnehmbaren Zahnersatz sowie Kronen, Brücken und Implantate aus metallfreier und bioverträglicher Vollkeramik. Als Beispiel: Amalgam kann verschiedene Symptome wie Müdigkeit, Unruhe, Kopfschmerzen oder Schwindel auslösen. Deshalb gibt es auch eine neue Vorschrift der Europäischen Union: Ab Juli 2018 darf Amalgam bei Kindern sowie bei schwangeren und stillenden Frauen nur noch in absoluten Ausnahmefällen eingesetzt werden. Bis 2020 will die EU prüfen, ob auf Amalgam ab 2030 gänzlich verzichtet werden kann.
In der ganzheitlichen Zahnmedizin werden schädliche Zahnfüllungen entfernt und das Amalgam aus dem Körper ausgeleitet. «Die alternativ häufig verwendeten Kunststoff-Füllungen kommen ebenfalls mehr und mehr in die Diskussion. Sie scheinen ein hohes Potential dafür zu besitzen, eine Allergie auszulösen», erklärt Lechner. Auch Wurzelfüllungen stehen die beiden Zahnärzte skeptisch gegenüber, da sie mögliche Störfelder darstellen. «Steht eine Wurzelfüllung an, empfehle ich immer, stattdessen den Zahn zu ziehen», sagt Klein. «Ich denke, dass die Versorgung mit Zirkon-Vollkeramik-Implantaten als Ersatz von wurzelbehandelten Zähnen eine völlig neue Perspektive im Sinne der Ganzheitsmedizin ist. Man kann sofort und in einer Sitzung tote kaputte Zähne herausnehmen und sie völlig entzündungs- und metallfrei wieder aufbauen, sodass das Gebiss funktionell und ästhetisch perfekt wiederhergestellt wird.»
Was beiden wichtig ist: «Wir lehnen den Begriff ‹alternative Zahnmedizin› ab. Wir geben Antibiotika, wenn es medizinisch notwendig ist. Aber wir wollen nicht mit der Pille heilen, sondern die ursächliche Störung im Zahn- und Kieferbereich aufspüren und beseitigen», bringt es Lechner auf den Punkt. Oftmals ist ein gestörtes Immunsystem die Folge der chronischen Stressoren im Mund. Um es wieder aufzupäppeln, werden dem Patienten zusätzlich zur Störfeld-Entfernung biologische Medikamente verordnet. Auch die orthomolekulare Medizin spielt beim Wiederaufbau der körpereigenen Abwehr eine wichtige Rolle. «Bei einer Zahnfleischentzündung treten in den meisten Fällen enorme Mängel an Zink, Magnesium, Eisen sowie weiteren Mineralstoffen und Spurenelementen auf. Bei einer Schwermetallbelastung findet man häufig einen deutlichen Zinkmangel und Übersäuerung», sagt Dr. Klein. Diese Mängel werden mittels einer Vollblutanalyse festgestellt und mithilfe gut dosierter Gaben der fehlenden Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente ausgeglichen.
Damit die Zähne lange gesund und kariesfrei bleiben, ist auch in der ganzheitlichen Zahnmedizin die sorgfältige Zahnpflege das A und O, genau wie beim «normalen» Zahnarzt. Deshalb schüttelt Lechner nur den Kopf über die Diskussion, die kürzlich durch die Medien ging, dass Zahnseide eigentlich gar nicht helfe. Für ihn ist der Einsatz von Zahnseide oder Interdentalbürstchen ebenso wichtig wie die regelmässige professionelle Zahnreinigung. Eine Sache jedoch lehnt Lechner ab: «Von Fluoridierung oder fluoridhaltiger Zahnpasta halten wir nichts. Für uns ist Fluor ein mögliches Gift.»
Der Münchner Zahnarzt hat eine Vision, die er mit Leidenschaft vertritt: «Wir sind keine Wunderheiler, aber wir wollen Gesundheit mit Hilfe der Zahnsanierung wiederherstellen. Leider kommen viele Patienten zu spät zu uns», sagt Lechner. Etliche hätten schon eine wahre Arzt-Odyssee hinter sich, denn die Schulmedizin finde oft keine Ursache. Die Hilfesuchenden zeigten Erkrankungen wie Tinnitus, Kopfschmerzen, Gesichtsschmerzen, Allergien, Haarausfall, Rheuma, unbewegliche Gelenke, Energielosigkeit – die Liste sei lang. Doch wer davon betroffen ist, achte viel mehr auf sich und seinen Körper und sei dadurch offen für einen neuen Behandlungsansatz – in der Hoffnung auf zumindest eine Linderung der Beschwerden.
Zahlreiche Beispiele aus der zahnärztlichen Praxis belegen ihrer Überzeugung nach diesen Zusammenhang: «Ich hatte einen Patienten, dem nacheinander drei eingesetzte Hüftgelenke wieder herausgeeitert sind. Nach der Kiefersanierung trägt er sein viertes Hüftgelenk bereits seit drei Jahren ohne Probleme im Körper», erzählt Lechner. Auch Klein kennt solche Geschichten: «Zu mir ist ein 30-jähriger Mann gekommen, an die zwei Meter gross, aber völlig schlapp und energielos. Ich habe ihm die Zahnimplantate samt Aufbauten ausgetauscht, nach kürzester Zeit hatte er wieder viel mehr Energie. Sehr häufig gibt es nach Entfernen der Störfelder spontane Heilungen langjähriger chronischer Schmerzzustände, aber leider nicht immer.»
Dr. Lechner räumt aber auch ein, dass Menschen die Belastungen individuell sehr unterschiedlich kompensieren können. «Ein Patient mit 86 Jahren hat zehn Amalgam-Füllungen im Mund, aber er fühlt sich gesund, weil er ein gutes Entgiftungssystem besitzt. Dagegen belasten einen anderen, viel jüngeren Patienten bereits zwei kleine Amalgam-Füllungen, und er wird chronisch krank.» Umso bitterer sei es, dass die Patienten trotzdem eine ganzheitliche Zahnbehandlung aus eigener Tasche bezahlen müssen. In der Schweiz übernehmen die Krankenkassen keine Kosten. Auch in Deutschland sieht es schlecht aus. «Meist lautet die Begründung: medizinisch nicht notwendig», weiss Lechner aus Erfahrung. Seine Erfolge zeigen ihm jedoch das Gegenteil.
Für die Zukunft wünschen sich Dr. Manfred Klein und Dr. Johann Lechner, dass die ganzheitliche Zahnmedizin schon in die Ausbildung an den Universitäten integriert wird. Denn viele chronische Krankheiten können vom Zahn- und Kieferbereich des Patienten ausgehen. «Hier könnte man viel Geld sparen, da die ganzheitliche Zahnmedizin die beste Krankheitsvorsorge ist», meint Klein.