Knapp zehn Prozent der Bevölkerung in den Industrieländern knirschen im Schlaf mit den Zähnen. Bis zu 30 Prozent der Menschen pressen tagsüber die Kiefer zusammen, so dass Druck auf die Zähne entsteht. Doch es gibt Hilfe gegen diese Arten von Bruxismus.
Bruxen Sie auch? Im Wachzustand oder im Schlaf? Knirschen Sie also mit den Zähnen oder pressen Sie eher? Leider kenne ich diese unangenehme und auf Dauer schädigende Angewohnheit, die von Diskus-, also Knorpelscheibenverlagerung über Zahnschäden bis hin zur Mundöffnungsstörung führen kann, nur zu gut.
Autorin: Angelika Eder
Fast jeder Zehnte knirscht oder presst seine Zähne zusammen in der Nacht, aber auch am Tag. Aber es gibt Tipps und Ratschläge damit man aufhört!
Der Fachbegriff für das – bereits seit der Antike bekannte – unbewusste Zähneknirschen/-pressen lautet, aus dem Griechischen abgeleitet, «Bruxismus». Ich selbst traktiere Zähne und Kaumuskulatur nun schon recht lange. Und zog meinen Zahnarzt leider erst zu Rate, nachdem sich das Ausmass gesteigert und ich mich mit den möglichen unangenehmen Konsequenzen auseinandergesetzt hatte – und dabei auf die «Craniomandibuläre Dysfunktion» (CMD) gestossen war (Cranio: Schädel, mandibulär: den Unterkiefer betreffend). Bedauerlicherweise fand ich nicht auf Anhieb Gehör: Mein damaliger Doktor med. dent. reagierte auf die Frage, ob es eine Behandlungsmöglichkeit gebe, mit dem denkwürdigen Satz: «Soll ich Sie vielleicht zum Seelenklempner schicken?»
Eine Freundin wusste Rat, denn sie litt unter demselben Problem und war bei Dr. Anette Benner-Machel auf offene Ohren gestossen. Die seit 28 Jahren in Rüsselsheim niedergelassene Zahnärztin befasst sich schon lange mit dem Thema und weiss, dass Zähneknirschen bei Kindern oft ein normaler, entwicklungsbedingter Vorgang ist, bei jedem zweiten Erwachsenen dagegen der kurativen oder protektiven Therapie bedarf. Schwer betroffene Erwachsene erkennt die Expertin inzwischen auf den ersten Blick an Gesichtsmerkmalen: Bei ihnen sei das «Untergesicht» aufgrund des verkürzten Musculus temporalis (am Stirnbein) und Musculus masseter (am Jochbogen entspringend) auffallend eckig. Oft verringert sich auch der Abstand zwischen Nasen- und Kinnspitze, die «Knirscher» haben kaum noch Lippen und bekommen schliesslich ein regelrechtes Schnütchen, erklärt die Zahnärztin.
Man muss «durchbeissen». Aber bitte nicht in der Nacht! Faktoren wie Stress bei der Arbeit, in der Schule, zu Hause, in Beziehungen haben Einfluss auf ihr Zähneknirschen.
Als Folge kann sich Speichel in den Mundwinkeln sammeln und eine Entzündung auftreten. Im Mund der Patienten sind unter anderem Abnutzungserscheinungen möglich, also etwa Risse im Schmelz oder keilförmige Schmelz-Defekte, die unter der Fehlbelastung herausbrechen. Manchmal verhornt auch die Wangenschleimhaut an den «verbissenen» Stellen; hinzu können Schwierigkeiten bei der Öffnung des Kiefers kommen.
Erkennt Benner-Machel derartige Symptome oder berichten ihr die Patienten von sich aus über solche Probleme, erkundigt sie sich als Erstes nach deren Stressbelastung aufgrund beruflicher Tätigkeit, möglichen Prüfungssituationen, familiärer Situationen und anderem. Wer wegen eines bevorstehenden Examens sehr angespannt ist, im Job unter Druck steht oder aber im Privatleben Belastendes erlebt, neigt dazu, sich im wahrsten Sinne des Wortes durchzubeissen beziehungsweise die Zähne aufeinanderzubeissen.
Sind die Zähne folglich besonders druckempfindlich oder stellen sich beispielsweise starke Schläfenkopfschmerzen ein, empfiehlt Benner-Machel in der akuten Phase ein muskelentspannendes Präparat und/oder ein entzündungshemmendes Schmerzmittel. Aber auch dann, wenn die Dauer der Stressphase absehbar ist, rät sie zur Anfertigung einer individuellen Schiene, um Folgeschäden vorzubeugen. Im Falle eines nächtlichen Bruxens trägt die Schiene in erster Linie zur Schonung der Zähne bei, tagsüber kann sie Betroffenen etwa bei regelmässiger Arbeit am PC dienlich sein.
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Ich versuche, sie beim Schreiben zu nutzen, denn wenn ich einen Artikel verfasse und etwa bei Tageszeitungsaufträgen unter Zeitdruck stehe, merke ich oft, wie sich meine Zähne unwillkürlich in Gang setzen, so, als könne ihre Aktivität meine journalistischen Ergebnisse beschleunigen. Tatsächlich wird in der Fachliteratur diskutiert, ob das Bruxen im Wachzustand ähnlich wie das Kaugummikauen Aufmerksamkeit sowie kognitive Leistungsfähigkeit steigern kann.
Doch ich gestehe, dass ich den Fremdkörper häufig auch wieder ausziehe oder nach dem Telefonieren einfach erneut einzusetzen vergesse. Deshalb verstehe ich völlig, dass Dr. Benner-Machel die Schiene immer nur unter einer Voraussetzung befürwortet: «Der Patient muss den Zweck verstehen und er muss sie auch tragen wollen. Andernfalls macht sie überhaupt keinen Sinn!» Wie wichtig sie über die Schonung des Gebisses hinaus sein kann, erklärt die Zahnärztin mit Hinweis darauf, dass man immer nur einseitig knirsche oder presse. «Dann kann die Muskulatur derart falsch belastet werden, dass sogar ein Bandscheibenvorfall drohen kann.»
Stellen Sie sich vor: Bis zu 100 Kilogramm Druck lasten beim Knirschen auf Ihren Zähnen!
Neben einer Schiene befürwortet Benner-Machel in bestimmten Fällen die manuelle Therapie gegen CMD, die natürlich nicht nur aus dem Bruxen resultiert, sondern auch Folge von Fehlstellungen, Operationen oder Unfällen sein kann. Sie verschreibt diese Therapie bei Bedarf sowohl Privatpatienten als auch gesetzlich Krankenversicherten, sofern massive Symptome wie Tinnitus/Schwindel/Myopathie der Kaumuskulatur vorliegen.
Damit gehört sie noch zu einer Minderheit von Zahnärzten, denn die CMD wird in Fachkreisen bisher kontrovers diskutiert, weil die Ursachen nicht eindeutig geklärt sind. Ausserdem berufen sich Gegner unter den Schulmedizinern auf das Fehlen wissenschaftlich untermauerter Erfolge.
Es gibt laut Benner-Machel aber auch Kollegen, die sich überhaupt nicht mit der Thematik befassen.
Viele würgten das Thema lieber mit dem Hinweis ab, das lege sich schon wieder oder der Patient solle sich diese Art von Stressabbau aus eigener Kraft abgewöhnen. «Denn sonst müssten sie reden, und das Reden bekommen wir nicht bezahlt», ärgert sich Benner-Machel über manchen Vertreter ihres Berufsstandes.
Tatsächlich führt auch sie Bruxismus in erster Linie auf Stress zurück und berichtet von einer besonderen Erfahrung: Die Zahl der erforderlichen Schienen steigt regelmässig vor Weihnachten und vor den Schulferien. «Aber wenn der Patient mit diesem Problem zu mir kommt, muss ich ihn doch ernst nehmen.» Deshalb kombiniert sie in vielen Fällen Schiene und CMD-Therapie.
Gesundheitliche Probleme mit den Zähnen können sich auf den ganzen Körper übertragen, weshalb es sich lohnt, bei einer CMD Behandlung die Ursachen ganzheitlich zu untersuchen.
Für mich erweist sich diese bei dem Wiesbadener Physiotherapeuten Ronald Dünow tatsächlich als sehr hilfreich. Der 30-Jährige musste für diese Art von Behandlung eine Zusatzausbildung absolvieren. «Ich lernte sowohl bei einem Zahnarzt, der bei CMD alle anatomischen Ursachen von der Fussfehlstellung bis zum Beckenschiefstand auslotete. Tatsächlich habe es hin und wieder schon Einzelfälle gegeben, in denen eine CMD-Therapie jahrelang vergeblich behandelte Knieprobleme verbesserte. Er befürworte jedenfalls vor einer manuellen Behandlung eine orthopädische Abklärung, zumal viele seiner diesbezüglichen Patienten auch Halswirbelsäulen (HWS)-Probleme hätten, so dass die Behandlung der oberen HWS zu einer deutlichen Verbesserung führe.
Gleichzeitig betont der Physiotherapeut, dass nicht jedes Beissen oder Pressen behandlungsbedürftig sei, ebensowenig jedes Knacken oder Knirschen im Kiefer: «Aber ich hatte auch schon Patienten, die es extrem belastete, weil sie es für so laut hielten, dass sie aus Scham nicht mehr in ein Lokal gingen.» In meinem persönlichen Fall nun liegen als Folge einer angeborenen Hüftdysplasie Probleme in meiner kompletten Statik von Fussfehlstellung angefangen bis hin zur HWS vor, und die ständige Computerarbeit trägt nicht zur Besserung bei. Beim ersten Therapietermin weist Dünow darauf hin, dass die Therapie nur mit entsprechender Eigenleistung des Patienten zu Erfolgen führen könne: «Die beste Therapie ist es, sich tagsüber immer wieder darauf hin zu kontrollieren, ob man knirscht, und zur Unterstützung möglichst überall entsprechende ‹Warnhinweise› zu verteilen, etwa Zettel mit der Aufforderung ‹Aufhören!›.»
Mit Behandlung und Selbstdisziplin kriegt man das Zähneknirschen in den Griff - ansonsten kann man sich den Rat des Frankfruter Professors zu Rate ziehen: «Daumenlutschen kann helfen, weil es die Zähne auseinander hält.»
Folglich malte ich mir mehrfach ein rot durchgestrichenes geschlossenes Gebiss und klebte sie rund um meinen Arbeitsplatz. Der Empfehlung von Entspannungstherapien wie die Muskel-Relaxation nach Jacobsen folgte das Erlernen von Übungen, die ich selbst immer wieder durchführen soll, sobald ich merke, dass ich zum «Beisser» werde. Dünow: «Für die sogenannte Rollbewegung legen Sie die Zungenspitze an ihren Ruhepunkt hinter den Zähnen im Gaumen, öffnen so weit wie möglich den Unterkiefer und schliessen ihn wieder. Das Öffnen kontrollieren Sie am besten vor dem Spiegel. Eine 30- bis 40-malige Wiederholung täglich trägt zur Entspannung bei. Zur Therapie struktureller Abweichungen muss man das so oft wiederholen, bis es dank motorischen Lernens unwillkürlich abläuft.»
Darüber hinaus empfahl Ronald Dünow Lockerungsübungen durch das seitliche Hin- und Herbewegen des Unterkiefers sowie das Kreisen der Zunge beziehungsweise Drücken gegen die Zähne. «Denn auch die Zungenmuskulatur ist oft betroffen!» Dieser Hinweis erleichterte mich sehr, hatte ich doch schon an meinem Verstand gezweifelt, als ich manchmal im wahrsten Sinne des Wortes bei der Aussprache «einen Knoten in der Zunge» hatte.
Im Übrigen könne man von aussen die Muskulatur des Unterkiefers ausstreichen. Genau das tat Physiotherapeut Dünow dann auch im Laufe seiner Behandlung und widmete sich anschliessend dem Gelenk selbst. In schweren Fällen arbeitet er zusätzlich – natürlich mit Handschuhen – im Mundinnenraum, um beispielsweise das Gelenk auseinanderzuziehen oder zusammenzuschieben. «Das ist
für Patienten eine Umgewöhnung, zumal bisher nur Zahnärzte oder Kieferorthopäden intraoral gearbeitet haben.»
Besonders effizient widmet sich Dünow den Faszien. Beispielsweise habe er mit einer einzigen Behandlung des Triggerbands vom Ansatz des Kiefergelenks bis zur Kinnspitze – also eines verdrehten Faszienbands, wie es überall im Körper in Längsrichtung der Faszien entstehen kann – eine bemerkenswerte Verbesserung erzielen können: «Vor der Behandlung konnte die Betroffene den Mund infolge eines Traumas nur 25 Millimeter öffnen, danach bereits um 40 Millimeter.»
Nach zwölf Behandlungen bin ich beim Arbeiten spürbar weniger «verbissen», weil meine Hals- und Kaumuskulatur entspannter ist, ich das Pressen viel schneller wahrnehme und für immer längere Zeiträume einstelle. Ich beginne, den Bruxismus aktiv zu bekämpfen, seit ich mir bewusst bin, dass ich selbst entsprechende Schäden in der Hand habe. Genauer gesagt in Kopf und Kaumuskulatur. Und wenn es ganz hart kommt, beherzige ich den Rat eines Frankfurter Professors, der seinen Studenten für «Beisser», «Knirscher» oder «Presser» mit auf den Weg gab: «Daumenlutschen kann helfen, weil es die Zähne auseinander hält.»