Stress – und nicht nur am Arbeitsplatz – ist heutzutage weit verbreitet. Was soll man dagegen tun? Resignieren? Rebellieren? Die Faust in der Tasche machen? Kündigen? Profis der Stressbewältigung setzen auf eine andere Lösung: auf die Macht der Gedanken, Gefühle und Überzeugungen.
Seit 10 Jahren arbeitet die 48-jährige Lucia M. in einem Detailhandelsunternehmen der Region Bern. Vor zwei Jahren kam ein neuer Chef: ein Marketingexperte, der einen «harschen» Führungsstil pflegt.
Seither hat sich das Betriebsklima um 180 Grad gedreht: «Früher war die Atmosphäre hier herzlich, wohlwollend und kooperativ», erinnert sich Lucia M. «Heute ist die allgemeine Stimmung aggressiv und konkurrenzbetont. Jeder schaut nur für sich, alle fühlen sich chronisch gestresst, Neid und Profitdenken sind an der Tagesordnung.»
Was Lucia beschreibt, ist in Tausenden von Unternehmen normaler Alltag. Gemäss einer Seco-Studie fühlen sich 25 Prozent der Beschäftigten am Arbeitsplatz öfters gestresst. Geschätzte sieben Prozent gelten als Mobbingopfer, werden also regelmässig schikaniert. Was emotionaler Stress am Arbeitsplatz auslöst, ist gut erforscht: Zu den häufigsten Beschwerden zählen Erschöpfung, Angst, hoher Blutdruck, Depressionen, Schlafstörungen, reduzierte Leistungsfähigkeit und schliesslich der «Burnout».
Am Lory-Haus des Berner Universitäts- und Inselspitals beraten die beiden Fachärzte für Innere Medizin Prof. Dr. med. Roland von Känel und Dr. med. Marie-Louise Gander Menschen mit psychischen Schwierigkeiten, darunter viele, die unter chronischem Stress am Arbeitsplatz bis hin zum Burnout leiden.
Um den Betroffenen zu helfen, prüfen die Spezialisten für Psychosomatik als erstes die äusseren Stressursachen: Wie hoch ist das Arbeitspensum der Betroffenen? Wieviel Verantwortung haben sie am Arbeitsplatz? Wieviel Anerkennung und wieviel Unterstützung erhalten sie? Wie stark engagieren sie sich bei der Arbeit?
«Mindestens einer dieser Faktoren liegt bei Stresspatienten im Argen. Weit verbreitet ist beispielweise das Over-Commitment, also ein Überengagement», hat Prof. Dr. med. Roland von Känel beobachtet. «Bei chronisch Gestressten stimmen häufig alle fünf Faktoren nicht.»
Damit die Patienten den Alltag besser bewältigen können, überlegen Arzt und Patient gemeinsam, wie sich die stressverursachenden Faktoren beeinflussen lassen. «Äussere Stressursachen, beispielsweise ein ehrgeiziger Chef oder ein unbefriedigender Lohn, lassen sich häufig schwer beeinflussen», sagt Marie-Louise Gander. «Doch über die inneren Stressoren, also die inneren stressverursachenden Faktoren, können wir Kontrolle gewinnen.»
Genau hier liege ein grosses und oftmals schlecht genutztes Potenzial der Stressbewältigung, erklärt Roland von Känel. Um dieses auszuschöpfen, setzen die Berner Fachleute auf die kognitive Verhaltenstherapie. Kognitiv bedeutet, dass man an seinen «Kognitionen» arbeitet, also an seinen Gedanken, Einstellungen und Überzeugungen. Diese nehmen in aller Regel Einfluss auf den Gefühlshaushalt und damit auch auf das Gefühl, «gestresst» zu sein.
Zurück zu Lucia M. Ihr Chef will zwei Mitarbeiterinnen mehr Verantwortung und Arbeit übertragen. Die beiden Frauen reagieren ganz unterschiedlich auf die «drohende» Zusatzbelastung. «Die eine ist überzeugt: Das schaffe ich nie!», erzählt Lucia. «Die andere sagt: Ich bin bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen, doch der Chef muss mich in eine Weiterbildung schicken, damit ich meine neuen Aufgaben besser bewältigen kann.»
Das Beispiel zeigt: In Stresssituationen sind häufig nicht die äusseren «Sachzwänge» entscheidend, wie man mit dem Stress umgeht, sondern die persönliche Einstellung.
«Es gibt immer mehrere Lösungsmöglichkeiten, um beispielsweise mit Zeitdruck, fehlenden Fachkenntnissen oder Kritik umzugehen», sagt Marie-Louise Gander. So wirke beispielsweise die Gewohnheit, in «alles-oder-nichts-Kategorien» zu denken, stressfördernd, genauso wie die Neigung, über unfreundliche Bemerkungen von Arbeitskollegen oder kleine Vorfälle stundenlang zu grübeln.
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Wer Stress abbauen und sich wohler fühlen will, muss also an seinen Gedanken, Überzeugungen, Einstellungen und den damit verbundenen negativen Gefühlen arbeiten. Doch wie soll das funktionieren? Schauen wir, was bei einer kognitiven Verhaltenstherapie geschieht:
Dass diese kognitive Methode tatsächlich Stress reduziert, ist hinlänglich belegt. «Die meisten Betroffenen lernen durch die Auseinandersetzung mit ihren Kognitionen, chronische Stressprobleme konstruktiver zu lösen», sagt Roland von Känel. «Sie verfeinern ihr Selbstbild, ihre Wahrnehmung der Aussenwelt und entwickeln zusätzliche Bewältigungs-Strategien, um mit Stresssituationen klar zu kommen.»
Profis der Stressbewältigung setzen häufig zusätzliche Hilfsmittel ein. Am Berner Lory-Haus und an weiteren universitären Einrichtungen ist dies beispielsweise die «Mindfulness Based Stress Reduction»-Methode, kurz MBSR. Ein Training, das in der Schweiz relativ neu ist, in den USA jedoch seit über 30 Jahren erforscht und erfolgreich praktiziert wird.
MBSR besteht aus einfach zu erlernenden Übungen zur Steigerung der Achtsamkeit, der Wahrnehmung des «Hier und Jetzt» und der körperlichen Empfindungen, Gedanken und Gefühle.
«Das führt mit der Zeit zu einem solideren Bewusstsein von sich selbst und der Umgebung – eine Voraussetzung für die erfolgreiche Stressbewältigung», erklärt Marie-Louise Gander. Ausserdem fördere MBSR eine achtsame Lebenshaltung, die grundlegend wichtig sei, um mit chronischem Stress besser umzugehen.