An Form, Farbe und Belag unserer Zunge lässt sich einiges über unseren Gesundheitszustand ablesen. Veränderungen können durchaus Vorboten von Erkrankungen sein. Die eigene Zunge sollte man folglich im Blick behalten.
Autorin: Silke Lorenz,1-2/21
Gleichmässig, rosa bis rötlich, transparenter Belag, keine Risse oder Flecken: So sieht unsere Zunge aus, wenn alles in Ordnung ist. Da sie über Nervenbahnen mit verschiedenen inneren Organen vernetzt ist, gibt die Zunge Auskunft über Körper und Geist. In der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) wie auch in der ayurvedischen Lehre spielt die Betrachtung der Zunge eine wichtige Rolle bei der Anamnese. Doch auch Schulmediziner wie Haus- oder Zahnärzte werfen einen Blick auf die Zunge. Je nach Ansatz lassen sich verschiedene Informationen ablesen.
Der TCM-Therapeut beispielsweise kann Farbe, Form, Belag und Vitalität der Zunge betrachten, wenn der Patient bei guter Beleuchtung seine Zunge möglichst locker herausstreckt und dabei den Mund öffnet. «Wichtig ist immer das Zusammenspiel dieser verschiedenen Kriterien. Sie müssen in ihrer Gesamtheit beurteilt werden, auch sind weitere Symptome zu beachten. So ist zum Beispiel eine rote Zunge ohne Belag, aber mit Rissen ganz anders zu deuten als eine rote Zunge mit verdicktem, gelbem Belag», erklärt Olivia Steiner, Vorstandsmitglied im TCM Fachverband Schweiz.
Grundsätzlich wird die Zunge in drei Zonen, die sogenannten drei Erwärmer, eingeteilt. Das hintere Drittel entspricht dem Unteren Erwärmer mit Niere, Blase und Darm. Das mittlere Drittel entspricht dem Mittleren Erwärmer mit Magen, Milz, Leber und Gallenblase. Das vordere Drittel dem Oberen Erwärmer mit Herz und Lunge. Zudem wird der Zungenkörper betrachtet, vergleichbar mit dem Gesamteindruck der Augen. «Geht es einem Menschen gut, glänzen die Augen. Auch die Zunge ist vital, glänzend, hell, biegsam und lebendig. Sie hat Geist (Shen), sagt man. Wenn der Mensch jedoch insgesamt sehr krank oder erschöpft ist, erkennt man das auch an der Zunge. Ohne Shen ist sie steif, dunkel, matt und leblos. Das kann darauf hindeuten, dass eine Erkrankung schwieriger zu behandeln ist», führt Steiner aus.
Ein übermässig dicker Belag an der Zungenwurzel kann eine Erkrankung von Niere, Blase oder Darm anzeigen. Ein weisser, schleimiger Belag könnte auf ein Problem mit Feuchtigkeit und Kälte hinweisen, etwa auf eine chronische Blasenentzündung. Ist der Belag gelb und schleimig, kann ein Problem mit Feuchtigkeit und Hitze bestehen, was sich beispielsweise in einer Darmentzündung äussert. Neben der Zunge werden aber auch weitere Symptome einbezogen.
In der ayurvedischen Lehre spielt die Zunge bei der Diagnostik eine wichtige Rolle – neben der Untersuchung von Puls, Augen, Urin, Stuhl, Stimme, dem allgemeinen Eindruck und dem Abtasten. Nur wird das Ergebnis in ein anderes System eingeordnet als bei der TCM, doch die Ähnlichkeit ist nicht zu übersehen. So ist die Zunge im Ayurveda nach den drei Ayurveda-Prinzipien in drei Zonen eingeteilt: Das vordere Drittel wird dem Kapha-Prinzip zugeordnet und entspricht dem oberen Drittel unseres Körpers mit Kopf, Herz und Lunge. Das mittlere Drittel wird dem Pitta-Prinzip zugerechnet, entspricht also dem mittleren Körperdrittel mit Magen, Leber, Galle und Milz. Das hintere Drittel wird dem Vata-Prinzip zugeteilt, was sich mit dem unteren Körperdrittel mit Dünndarm, Dickdarm und den Extremitäten deckt.
Als wirksame Massnahme empfehlen Ayurveda-Spezialisten, die Zunge morgens mit einem speziellen Schaber zu reinigen, der nicht allzu breit ist und keine scharfe Kanten hat. «Nur so werden Schlacken wirksam entfernt. Mundwasser und Zahnpasten zerstören ja auch die von Natur aus guten Wächterbakterien. Diese sind aber sehr wichtig, da sie die vorderste Abwehrlinie des Immunsystems bilden», erklärt Hans R. Rhyner, Präsident des Verbandes Schweizer Ayurveda-Mediziner und -Therapeuten. Der Belag zeige hauptsächlich den Zustand des Stoffwechsels im Magen-Darm-Trakt an. Lässt er sich mittels Zungenschaber und Mundspülen leicht entfernen, besteht der Belag aus den natürlichen Ausscheidungsprodukten, die sich im Mundraum über Nacht angesammelt haben. Lässt sich der Belag jedoch nicht entfernen oder ist nach ein paar Stunden wieder vorhanden, dann ist der Stoffwechsel gestört durch entzündliche Prozesse, Übersäuerung, falsche Ernährung oder chronische Erkrankungen. «Bei einer Kapha-Störung beispielsweise ist die Zunge klebrig, feucht, rau und hat einen weisslichen Belag. Übermässig viel Speichel wird abgesondert, der vorherrschende Geschmack ist süss und salzig. Das bedeutet, dass der Körper Abfallstoffe ansammelt, Verdauung und Stoffwechsel sind verlangsamt, man ist müde und träge. Es gilt, diese Überschüsse über verschiedene Verfahren auszuleiten», sagt Rhyner. In diesem Fall solle man einen Ayurveda-Spezialisten aufsuchen. In der Mehrheit der Fälle genüge eine Anpassung der Ernährung. Kommen zu einer veränderten Zunge andere Symptome hinzu wie Fieber oder starker Fäulnisgeruch im Mund, rät Rhyner zu einem Besuch beim Arzt.
Früher hat der Hausarzt stets die Zunge betrachtet, doch das ist heutzutage seltener geworden. Dennoch orientiert sich auch die Schulmedizin daran. Etwa wenn der Belag erst weiss ist und nach ein paar Tagen die Zunge himbeerfarben wird – typische Anzeichen für Scharlach. Eine kräftige Gelbfärbung könnte eine Störung von Galle oder Leber anzeigen. Dicker, weisser Zungenbelag lässt auf Magen-Darm-Probleme schliessen, oder auf eine Erkältung. Bei einer Mittelohrentzündung kann der Belag einseitig auftreten.
Wissenschaftler der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie haben jetzt herausgefunden, dass Patienten mit Herzinsuffizienz eine rötlichere Zunge mit gelbem Belag haben als gesunde Menschen. Die Mikroorganismen auf der Zunge haben daran wohl einen entscheidenden Anteil. Ebenso verändert sich die Zunge bei Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs, wie bereits frühere Studien ergeben haben.
Nicht jeder befindet sich regelmässig in einer TCM- oder Ayurveda-Therapie. Neben der Selbstbeobachtung ist deshalb die jährliche Vorsorgeuntersuchung beim Zahnarzt besonders wichtig. Dieser kontrolliert dabei auch Zunge, Mundboden und Mundschleimhaut auf abnormale Veränderungen. «Das ist Standard und im Zahnarzttarif auch explizit aufgeführt», erklärt Markus Gubler von der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft. Einige Zahnärzte lassen ihre Patienten die Zunge herausstrecken und prüfen diese sorgsam von allen Seiten; bei anderen kann der Check nahezu unbemerkt und nebenbei ablaufen. Wem das zu wenig ist, der kann und darf nachfragen und seinen Zahnarzt gerne um eine genauere Kontrolle bitten.
Grundsätzlich gilt: Praktisch jede Zunge weist gewisse pathologische Anzeichen auf. Wir sind Menschen und keine Maschinen, das spiegelt sich in unserer Zunge. Man solle also nicht erschrecken, wenn man gewisse Anzeichen bei sich erkenne, beruhigt Olivia Steiner.
Ihr Tipp: ausgeprägte Veränderungen von einem gut ausgebildeten TCM-Spezialisten anschauen lassen. Er wird den Betroffenen bei einem auffälligen Gesamtbefund, der auf eine ernste Erkrankung hindeutet, zur hausärztlichen Abklärung schicken.