Weisheitszähne können unterschiedlichste Beschwerden auslösen und werden daher oft vorsorglich gezogen. Doch die Entfernung ist neuerdings umstritten – zur Vorbeugung gegen Probleme mit den Nachzüglerzähnen gibt es auch andere Möglichkeiten.
Autor: Adrian Zeller, 10/15
Die Zahl lässt aufhorchen: rund eine Million Weisheitszähne werden jedes Jahr allein in Deutschland gezogen. Weisheitszähne haben wenig praktischen Nutzen, aber sie können beträchtliche Qualen bereiten.
In den beengten Verhältnissen im Kiefer wachsen Weisheitszähne gelegentlich im schiefen Winkel, was zu schmerzhaften Reizungen führen kann. Die Wurzeln der nebenstehenden Zähne können durch die Fehlstellung verhaken und dabei geschädigt werden. Weisheitszähne können auf Nervenbahnen drücken. Die gequälten Patienten vermuten oft als Ursache ein Kariesloch; beim Zahnarzt wird ein Weisheitszahn als Auslöser der bohrenden Schmerzen erkannt.
Weitere Komplikationen sind Hohlräume, sogenannte Zysten, die das umliegende Gewebe und auch den Kieferknochen schädigen können. Sie entwickeln sich oft über längere Zeit unbemerkt. Bis sie vom Zahnarzt behandelt werden, haben sie ihr zerstörerisches Werk weit fortsetzen können.
Gelegentlich bilden sich um die Weisheitszähne im Zahnfleisch taschenartige Nischen. Darin sammeln sich winzige Speisereste, die Bakterien optimale Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Dann kommt es zu schmerzhaften Entzündungen, die sich bis zu massiven Vereiterungen steigern können. Entzündungsherde können sich vor allem dann bilden, wenn die Weisheitszähne das Zahnfleisch nicht vollständig durchstossen.
Alle Zähne haben auf der unteren bzw. oberen Kieferhälfte einen Gegenzahn. Bei nicht durchgebrochenen Weisheitszähnen kann dieser fehlen. Die durchgebrochenen ihrerseits können dadurch einseitig zu weit in den Mundraum vorragen und in der Folge Beschwerden auslösen. Rund 80 Prozent der jüngeren Menschen in Europa tragen mindestens einen nicht durchgebrochenen Zahn im Mund. Doch nicht alle müssen deswegen mit künftigen Beschwerden rechnen.
Bei den meisten Kindern ist die Entwicklung der zweiten Zähne im Alter von zwölf Jahren vorerst abgeschlossen; die Betonung liegt dabei auf «vorerst». Sozusagen als Nachzügler folgen die Weisheitszähne. Bei vielen Menschen zeigen sie sich zwischen dem 17. und dem 24. Altersjahr; sie können aber auch wesentlich später durchbrechen. Das Altersspektrum an Patientinnen und Patienten, die wegen Beschwerden an einem Weisheitszahn eine Zahnarztpraxis aufsuchen, reicht von 15 bis 85 jahren.
Die Tatsache, dass die Weisheitszähne erst im Erwachsenenalter erscheinen, hat zu ihrem wunderlichen Namen geführt. Der persische Arzt und Gelehrte Avicenna (980-1037) bezeichnete sie als «Zähne des Verstandes». Die frühe westliche Heilkunde wurde von der hochentwickelten orientalischen Medizin inspiriert und bereichert. Die Übersetzung von Avicennas Namensgebung schlug sich in den europäischen Sprachen als Zähne des Intellekts, der Vernunft oder eben der Weisheit nieder. Andere Völker wählten ebenfalls anschauliche Umschreibungen. In Asien werden sie als Zähne benannt, die Mutter und Vater unbekannt seien. Sie würden erst erscheinen, wenn die erwachsenen Kinder das Elternhaus verlassen haben.
Apropos andere Ethnien und Erdteile: Westliche Menschen haben normalerweise auf jeder Kieferseite sieben Zähne. Angehörige einzelner Volksgruppen in Asien und in Afrika tragen jedoch bis zu zehn Zähne in den Kiefervierteln. Im Vergleich zu den westlichen Industriegesellschaften wird in diesen Kulturen zum Teil weit mehr pflanzliche Nahrung verzehrt, auch in Form von Rohkost. Um faserige Blattgemüse, zähe Wurzelknollen sowie harte Nüsse und Körner verdauen zu können, müssen sie bereits im Mund erheblich zerkleinert werden. Dazu sind gut ausgestattete Kauwerkzeuge nötig.
Die hinteren Zähne funktionieren ähnlich wie Mühlsteine. In der Fachsprache werden die Backenzähne als Molaren bezeichnet, abgeleitet aus dem lateinischen «molaris» für Mühlstein. Backenzähne haben eine erheblich breitere Kaufläche als die Schneide- und Eckzähne. Die Weisheitszähne zählen zu den Backenzähnen.
Auch bei westlichen Menschen bilden sich hinter den Weisheitszähnen manchmal noch weitere Zähne; Zahnärzte nennen sie Distomolaren. Sie sind allerdings sehr selten. Bei rund drei Prozent der Europäer beiderlei Geschlechts brechen mehr Zähne als beim Durchschnitt der Bevölkerung durch, bei Asiaten kommt dieses Phänomen häufiger vor.
Bei manchen Pflanzenfressern im Tierreich sind die Backenzähne zahlreich und besonders ausgeprägt. Im Gegensatz dazu sind die vorderen Schneidezähne wenig markant ausgebildet. Bei einer widerkäuenden Kuh kann man die leicht kreisenden Kieferbewegungen besonders gut erkennen. Sie lassen tatsächlich an Mahlsteine denken, wenn sie die sehr faserigen Grashalme in eine verdaubare Masse zerreiben.
Was Backenzähne und kräftige Kiefer zu leisten vermögen, veranschaulichen Kamele, die sich unter anderem von stacheligen Akazienästen ernähren. Ohne spezialisierte Kauwerkzeuge könnten sie diese widerspenstige Nahrung kaum verwerten. Ganz anders dagegen die Kaubewegungen der Katzen und Hunde, die als Raubtiere ihr Fressen nur wenig zerkleinern und es eher herunterschlingen.
In puncto Ernährung ist der Mensch ein Mittelding zwischen Pflanzenverwerter und Raubtier. Sein Verdauungstrakt entspricht einem Allesfresser; er kann unterschiedlichste Speisen wie Kalbshaxen, Kirschtorte, Käsefondue und Kohlrabi verdauen. Er braucht demnach ein Gebiss, das diese unterschiedlichen Herausforderungen meistern kann.
Die Fähigkeit, eine breite Auswahl an Nahrungsmitteln verwerten zu können, gehört zu den Ausnahmeerscheinungen unter den Lebewesen. Im Tierreich sind die meisten Arten auf einen sehr kleinen Speisezettel beschränkt.
Im Laufe seiner Geschichte ist es dem Menschen gelungen, durch Züchtung seine Nahrung nährstoffreicher zu machen und den Ernteertrag zu erhöhen. Wenn Gemüse- und Getreidesorten mehr Energie enthalten, bleibt mehr Zeit, die gesellschaftliche Kultur weiterzuentwickeln. Im Vergleich dazu verbringen die meisten Tiere den grössten Teil ihrer Zeit mit der Suche nach Nahrung. Manche Arten müssen sich zusätzlich Reserven anfressen, um den Winter zu überstehen, in dem Nahrungsknappheit herrscht.
Die Fortschritte in der Zivilisation haben nicht nur für hochwertigere Lebensmittel gesorgt, sie haben auch den Backenzähnen viel Arbeit abgenommen. Kochtopf, Backofen, Dampfgarer und Mikrowelle sorgen dafür, dass selbst zähe Speisen leicht kau- und verdaubar werden.
Insbesondere durch die industriell hergestellte Nahrung ist mittlerweile die paradoxe Situation entstanden, dass viele Menschen mit Hamburgern, Pizzen, Powerriegeln und Energydrinks weit mehr Energie aufnehmen als sie im Alltag verbrauchen. Der Körper legt die überschüssige Energie in Form von Fettreserven an. Die kalorienreiche Nahrung hat nicht nur zu einem Dauerkampf gegen unerwünschte Rundungen geführt, sie unterfordert auch den Kauapparat. Bei weichen Frühstücksbrötchen, bei sämigem Joghurt und zartem Kopfsalat müssen die Backenzähne mit ihrer Mahlfunktion kaum Sonderschichten schieben.
Ständig unterforderte Muskeln bilden sich allmählich zurück. Ähnlich verhält es sich mit dem Kiefer: Im Vergleich zu früher lebenden Menschen ist unser Kiefer heute weniger ausgeprägt. Als Konsequenz davon wird es bei manchen Menschen für die Weisheitszähne als Nachzügler ziemlich eng –im wahrsten Sinne des Wortes. Wo ein Gedränge entsteht, kann es leichter zu Schäden an den Zähnen und zu Beschwerden kommen. Deshalb gelten Weisheitszähne vor allem als Störfaktoren.
Bis vor wenigen Jahren wurden viele Weisheitszähne ohne lange Diskussion vorsorglich entfernt. Mittlerweile sind Zahnärztinnen und Dentisten mit dem Ansetzen der Zange zurückhaltender geworden. Grund dafür sind neuere Studien: Diese konnten nicht zweifelsfrei nachweisen, dass die möglichen Vorteile die Risiken rechtfertigen. Zu letzteren zählen Verletzungen von Nerven sowie vorübergehende Empfindungseinschränkungen in den Lippen oder in der Zunge. Andere mögliche Komplikationen sind Wundinfektionen, Verletzungen des Kieferknochens oder des Gaumens.
Selbst wenn keine unerwünschten Nebenwirkungen auftreten, ist die Entfernung der Weisheitszähne eine ziemliche Tortur, die einen längeren Heilungsprozess verlangt, speziell dann, wenn aus praktischen Gründen mehrere Weisheitszähne gleichzeitig gezogen werden. In den ersten drei Tagen nach der Entfernung darf die Patientin oder der Patient möglichst keine Fruchtsäfte trinken. Auch heisse Getränke und Speisen müssen gemieden werden. Die Nahrung soll weich und nicht krümelig sein, damit sich keine Fremdkörper in der Wunde ansammeln können, die Entzündungen begünstigen. Am besten eignen sich neben Suppen weiche Speisen, die sich mit der Zunge zerdrücken lassen, z.B. Kartoffelpüree, Fisch und sehr weich gekochte Nudeln. Sport, Saunieren und andere anstrengende Tätigkeiten können zu Nachblutungen führen, sie sollten daher vorübergehend vermieden werden. Auch Kaffee, Schwarztee und Energydrinks können Nachblutungen verursachen.
Wenn die Entfernung eines Weisheitszahns zum Thema wird, sollten Patient und Zahnarzt die Vor- und Nachteile gemeinsam abwägen. Folgende Kriterien sollten diskutiert werden:
Im Zweifelsfall sollte eine Zweitmeinung eines anderen Zahnmediziners eingeholt werden.
Es geht nicht nur um den Entscheid für oder gegen die Entfernung, es müssen auch verschiedene Begleitfaktoren geklärt werden. Mit zunehmendem Alter können sich die Wurzelspitzen um einen Nerv krümmen. Beim Ziehen des Zahns kann dieser verletzt werden, es kommt zu den oben erwähnten Empfindungsstörungen in Lippen oder Zunge.
Eine Analyse mit einem bildgebenden Verfahren (Röntgenbild, Panoramaschichtaufnahme, Computertomografie oder digitale Volumentomografie) kann vor einem allfälligen Eingriff die Situation im Kiefer veranschaulichen. Öfters wachsen Weisheitszähne in einer so ungünstigen Position, dass ihre Entfernung einiges Geschick sowie Erfahrung erfordert. Unter Umständen müssen sie beispielsweise im Mund zersägt und als Einzelteile gezogen werden. Bei einer sehr komplizierten Stellung muss eventuell ein spezialisierter Kieferchirurg den Eingriff ausführen.
Vorab muss auch die Wirkung einer eventuellen Zahnentfernung auf die Kräfteverhältnisse der beiden Kiefer analysiert werden. Ungleichgewichte in der Muskelspannung können sich fortpflanzen und unter Umständen Schmerzen im Kopf, im Nacken oder sogar im Rücken auslösen. Die Zahnärzte sprechen dabei von Craniomandibulärer Dysfunktion oder kurz CMD.
Zu Zurückhaltung bei der Entfernung gesunder Weisheitszähne mahnen auch die ganzheitlich arbeitenden Kieferorthopäden. Als Alternative empfehlen sie das Wachstum der Zähne in die richtigen Bahnen zu lenken. Dabei helfen Spezialschienen, die das Kieferwachstum anregen und dadurch für mehr Platz sorgen.
In seltenen Fällen kann ein Weisheitszahn nach der Entfernung als Ersatz für einen anderen fehlenden Zahn eingesetzt werden. Diese Möglichkeit kann ebenfalls nur eine Fachperson beurteilen.