Eine Million Schweizer und acht Millionen Deutsche müssen sich immer wieder in einen verdunkelten Raum zurückziehen, weil ihr Kopf scheinbar zu zerspringen droht – sie haben Migräne. Viele greifen zur Tablette. Doch auch die Naturheilkunde bietet Hilfreiches.
Autorin: Anja Rech, 12.17
Als chronisch gilt Migräne, wenn man an mindestens 15 Tagen pro Monat darunter leidet. Nach Angaben der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft sind jede sechste Frau und jeder 16. Mann betroffen, insgesamt fast eine Million Schweizer. Um Migräne auf die Spur zu kommen, zählt vor allem die Beschreibung des Patienten; mit bildgebenden Methoden lässt sie sich nicht nachweisen. Der Arzt stellt die Diagnose, wenn es sich um Kopfschmerzen handelt, die zwischen vier Stunden und drei Tagen anhalten und mindestens zwei der folgenden Kriterien erfüllen:
Zwei Drittel der Migräne-Betroffenen haben Familienangehörige, die ebenfalls an Migräne leiden. Dennoch handelt es sich nicht um eine Erbkrankheit. Vielmehr wird eine erhöhte Anfälligkeit für Migräne weitergegeben.
Eine grosse internationale Studie, an der Wissenschaftler aus zwölf Ländern beteiligt waren, deckte genetische Risikofaktoren auf. Dazu wurden DNA-Proben von 375 000 Personen aus Europa, Amerika und Australien verglichen, von denen 60 000 an Migräne leiden. Die Forscher identifizierten 44 Genvarianten, die bei der Entstehung der Migräne eine Rolle spielen. "Interessanterweise ist von etwa zehn dieser Gene bereits bekannt, dass sie in Verbindung mit Erkrankungen der Blut- und Lymphgefässe stehen", sagt Prof. Stefan Schreiber, Institut für Klinische Molekularbiologie an der Uniklinik Kiel (D), und Co-Autor der Studie. Vier weitere der identifizierten Gene steuern die Aufrechterhaltung der Gefässspannung. Die Erkenntnisse stützen die Theorie, dass eine Störung der Blutversorgung im Gehirn Migräneanfälle auslösen kann. "Diese Ergebnisse ermöglichen es jetzt, personalisierte Therapien für Patienten mit Migräne zu entwickeln", erläutert er. Allerdings wird es noch Jahre dauern, bis dazu konkrete Ergebnisse vorliegen.
Bevor die Kopfschmerzen einsetzen, entwickeln zehn bis 15 Prozent der Betroffenen eine sogenannte Aura. Dabei handelt es sich um neurologische Ausfallserscheinungen, meist Sehprobleme wie Lichtblitze oder Zackenlinien. Es können auch Sprachstörungen, ein kribbelndes Gefühl oder Schwindel auftreten. Die Phänomene sind harmlos und bilden sich meist innerhalb einer Stunde zurück.
Forscher wissen inzwischen recht detailliert, wie es zu den Schmerzattacken kommt. Bei Menschen, die zu Migräne neigen, sind die Nervenzellen im Gehirn überempfindlich. Deswegen können sie sich schlechter als andere gegen Reize von aussen abschirmen. Eine Überlastung sorgt für eine Übererregung im Gehirn. Als Folge werden schmerzverarbeitende Zentren aktiviert und schütten Botenstoffe an den Blutgefässen der Hirnhäute aus. Diese rufen die Symptome hervor: Die Adern weiten sich, es setzt eine schmerzhafte Entzündungsreaktion ein. Das Pulsieren der Gefässe nehmen die Betroffenen dann als Migräneschmerz wahr.
Bei vielen Patienten spielen äussere Faktoren eine auslösende Rolle, bezeichnet als Migränetrigger. Häufig genannt werden Stress, bei Frauen die Monatsregel, Änderungen im Schlaf-Wach-Rhythmus, Wetterwechsel oder bestimmte Lebensmittel. Es ist daher eine wichtige Massnahme bei der Migränetherapie, Trigger zu erkennen und künftig zu meiden. Dies lässt sich mit Hilfe eines Schmerz-Tagebuchs (auch als Kopfweh-Kalender bezeichnet) herausfinden, für welches beim Arzt oder im Internet kostenlose Vordrucke erhältlich sind (etwa unter www.headache.ch). Die Aufzeichnungen sind auch für den Arzt hilfreich, denn sie tragen dazu bei, die richtige Diagnose zu stellen und zeigen zudem, ob die Therapie anschlägt.
Bei der Behandlung setzen Kopfschmerzexperten heute auf eine multimodale Therapie, die aus mehreren aufeinander abgestimmten Bausteinen besteht. Neben Schmerzmedikamenten spielen nichtmedikamentöse Verfahren eine wichtige Rolle.
Vielen Patienten mit Migräne-Kopfschmerzen helfen gängige Schmerzmittel mit Wirkstoffen wie Acetylsalicylsäure, Ibuprofen oder Paracetamol. Der Arzt kann zudem sogenannte Triptane verschreiben. Sie bremsen die Ausschüttung von schmerzvermittelnden Botenstoffen und sorgen dafür, dass sich die erweiterten Gefässe im Gehirn wieder verengen. Damit lindern sie die Schmerzen. Sie wirken allerdings nur bei Migräne, nicht bei anderen Kopfschmerzformen. Vorsicht: Der Langzeitgebrauch ist schädlich
Säureblocker, sogenannte Protonenpumpeninhibitoren (kurz PPI), werden häufig bei Magenleiden verschrieben. Die Verwendung hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen, da es diese in niedrigen Dosen auch rezeptfrei gibt. Dabei sind die Folgen einer Langzeiteinnahme nur unzureichend erforscht. Mediziner der University of Maryland konnten in einer Studie den Zusammenhang zwischen der Einnahme von PPI und dem Auftreten von Migräne und starken Kopfschmerzen aufzeigen – das Risiko war für beide Beschwerden um bis zu 70 Prozent erhöht. Personen mit Migräne oder starken Kopfschmerzen sollten darum mit Fachpersonen abklären, ob sie die Einnahme von Säureblockern fortsetzen möchten.
Trotz Leitlinien erhält rund ein Drittel der Leidenden keine adäquate Behandlung, wie eine Studie der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf zeigt. Die Ergebnisse, die sich so auch auf die Schweiz übertragen lassen, machen deutlich, dass die bisherige Therapie nicht ausreicht. Bei der Hälfte der Teilnehmer waren überflüssige Diagnostiken wie Magnetresonanz- und Computertomographien durchgeführt worden, ohne dass dies zu einer Änderung der ursprünglichen Diagnose geführt hätte. Jeder dritte Betroffene hatte keine leitliniengerechte Therapie erfahren, und die Kopfschmerzmedikamente waren oft wenig geeignet oder gar zu hoch dosiert.
Mögliche Gründe könnten eine unzureichende Ausbildung sowie mangelnde Erfahrung in der leitliniengestützten Migränetherapie der Ärzte sein. Das Vergütungssystem setzt mit teuren apparativen Diagnostiken zudem falsche Anreize anstatt konservative Massnahmen auszuschöpfen. Die Patienten erhalten dadurch auch keine vollumfängliche Beratung, denn diese ist wiederum sehr zeitintensiv. Aber auch die Patienten tragen zu der Lage bei: Oft werden geeignete Medikamente aus Angst vor zu starken Nebenwirkungen abgelehnt.
Eine neue Medikamentenklasse namens CGRP-Antikörper steht in den Startlöchern. Diese blockieren das körpereigene Eiweiss Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP), das massgeblich an der Entstehung von Migräneattacken beteiligt ist. Erste Studien brachten laut Prof. Arne May von der Kopfschmerzambulanz am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf vielversprechende Ergebnisse: Die Attackenhäufigkeit ging zurück, bei einigen Patienten verschwanden die Anfälle sogar komplett – und das bei einer geringen Rate an Nebenwirkungen. Der Forscher geht davon aus, dass erste Präparate Ende 2018 auf den Markt kommen.
Doch es müssen nicht immer synthetische Medikamente sein; Migräne lässt sich auch mit natürlichen Therapien lindern. In der Schweiz nutzt jeder dritte Kopfschmerzpatient komplementärmedizinische Verfahren und Heilpflanzen. Zur Selbstbehandlung der akuten Migräne empfiehlt Prof. Sigrun Chrubasik-Hausmann aus Bad Ragaz zehnprozentiges Pfefferminzöl. Es wird auf Stirn und Schläfen aufgetragen. «In Studien war die Anwendung ebenso wirksam wie die Einnahme von einem Gramm Paracetamol», erläutert die auf Naturheilverfahren spezialisierte Fachärztin für Allgemeinmedizin, die den Forschungsschwerpunkt «Phytotherapie» am Institut für Rechtsmedizin der Universität Freiburg im Breisgau leitet. «Bereits nach 15 Minuten hatten die Kopfschmerzen erheblich abgenommen. Die Wirkung hielt mehr als eine Stunde an.»
Als wirkungsvollsten pflanzlichen Schmerzhemmer bezeichnet sie einen Weidenrindenextrakt, heute durch den Schmerzwirkstoff Acetylsalicylsäure, etwa in Aspirin, ersetzt. «Im Unterschied zu Aspirin schädigt Weidenrindenextrakt die Schleimhaut des Magen- und Darmtrakts nicht, und er besitzt auch keine klinisch relevante blutverdünnende Wirkung.»
Iranische Wissenschaftler haben in einer Studie Koriander (Coriandrum sativum) näher untersucht, der in der traditionellen persischen Medizin bei neurologischen Leiden verwendet wird. Die Studien-Teilnehmer erhielten einen Monat lang nach dem Zufallsprinzip zusätzlich zu einem Medikament entweder 15 Milliliter eines Sirups aus Korianderfrüchten oder die gleiche Menge eines Placebo-Getränks.
Im Mittel konnte für die Koriander-Gruppe eine um die Hälfte reduzierte Anfallshäufigkeit und eine um 5,7 Stunden kürzere Anfallsdauer festgestellt werden. Auch die Höhe des Schmerzgrades zeigte sich unter dem gemessenen Wert der Patienten, die Placebos erhielten. In keiner der beiden Gruppen berichteten die Probanden über unerwünschte Nebenwirkungen. Der Sirup aus Korianderfrüchten wurde eigens für die Studie hergestellt und ist leider nicht im Handel erhältlich. In der Studie verwendete man für die Herstellung des Sirups das frisch gepresste Öl getrockneter Koriandersamen, das reich an wertvollen Inhaltsstoffen wie Linalool und Geraniol ist.
Auf der Jahrestagung der American Academy of Neurology in Denver wurde eine Studie vom San Diego Center for Pain Medicine vorgestellt, die zeigt, dass die Inhalation der Cannabisdrogen Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) mittels spezieller Kapseln die Dauer von Migräneattacken verkürzt. Die Patientinnen und Patienten wurden auf vier Gruppen aufgeteilt: THC plus CBD; nur CBD; nur THC sowie nur Placebo. Primärer Endpunkt war ein Nachlassen der Schmerzen nach zwei Stunden. Zum Ergebnis: Das Ziel erreichten mit der THC/CBD-Kombination 67,2 Prozent der Patienten sowie 68,9 Prozent in der THC- Gruppe gegenüber 46,6 Prozent in der Placebo-Gruppe. Das CBD-Präparat erzielte bei 52,6 Prozent eine Schmerzlinderung. Eine völlige Schmerzfreiheit nach zwei Stunden erreichten 34,5 Prozent der Patienten in der THC/CBD-Kombination, 27,9 Prozent in der THC-Gruppe, 22,8 Prozent in der CBD-Gruppe gegenüber 15,5 Prozent in der Placebo-Gruppe.
Zur Vorbeugung haben sich ebenfalls Heilpflanzen bewährt, z.B. Mutterkraut (Tanacetum parthenium), auch als «Falsche Kamille» bezeichnet. «In England essen Betroffene drei Monate lang zur Prophylaxe täglich zwei bis drei frische Blätter auf einem Sandwich», erklärt Prof. Chrubasik-Hausmann. Dies führe oft dazu, dass sie monatelang anfallsfrei seien oder ihre Kopfschmerzen weniger intensiv und ohne begleitende Übelkeit auftreten. Die Blätter enthalten Parthenolid, das unter anderem entzündungshemmend wirkt. In der Apotheke ist ein Extrakt der Pflanze erhältlich (In der Schweiz gibt es kein zugelassenes Präparat.).
Die zweite laut Studien zur Prophylaxe geeignete Pflanze ist die Pestwurz (Petasites hybridus). Sie hat ebenfalls entzündungshemmende Eigenschaften, zudem wirkt sie muskelentspannend. Allerdings können die oft enthaltenen Pyrrolizidinalkaloide als Nebenwirkung Leberschäden hervorrufen. Daher wurden mehrere Präparate in der Schweiz vom Markt genommen. Erhältlich ist jetzt nur noch ein pyrrolizidinfreier Pestwurzblatt-Extrakt, der eigentlich gegen Heuschnupfen zugelassen ist. In ihrer Praxis setzt die Ärztin diesen erfolgreich bei Patienten mit Migräne ein. Prof. Chrubasik-Hausmann weist darauf hin, dass die gleichzeitige Einnahme von pflanzlichen und synthetischen Medikamenten zu Wechselwirkungen führen kann. Patienten sollten daher immer ihren Arzt informieren, wenn sie beides nutzen.
Zu den nichtmedikamentösen Verfahren, welche die Arzneimittel-Therapie ergänzen sollten und eine nachgewiesene vorbeugende Wirkung haben, zählen Entspannungstechniken, wenn man sie regelmässig nutzt. In Studien besonders bewährt hat sich die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson, da sie sich leicht in den Alltag integrieren lässt und z.B. zwischendurch am Schreibtisch angewendet werden kann. Auch Achtsamkeitstraining oder QiGong erfüllen den Zweck, eine erhöhte Anspannung zu reduzieren. Ausserdem zeigte sich, dass sich damit schmerzhemmende Hirnregionen aktivieren lassen.
Zusätzlich raten Schmerzexperten ihren Patienten zu Ausdauersportarten wie Joggen, Nordic Walking, Fahrradfahren, Schwimmen oder Wandern. Sie erzielen – ebenfalls unter der Voraussetzung, dass man sie regelmässig ausübt – eine vorbeugende Wirkung. Man sollte sich dazu mindestens dreimal pro Woche 40 Minuten lang bewegen. Um sich zu motivieren, kann es sinnvoll sein, Gleichgesinnte zu suchen und in einer Gruppe zu trainieren.
Daneben helfen vielen Migränepatienten alternative Verfahren wie Homöopathie, Reflexzonenmassage, Neuraltherapie, Eigenblutbehandlungen oder Osteopathie. So wird im Kopfwehzentrum Hirslanden in Zürich die Craniosacral-Therapie eingesetzt, die aus der Osteopathie entwickelt wurde. Dabei beeinflusst der Therapeut über spezielle Handgriffe verschiedene Gewebe, die zwischen den beiden Polen Schädel (Cranium) und Kreuzbein (Sacrum) liegen. Ziel der Therapie ist es, Regulationsprozesse anzustossen und die Selbstheilung zu fördern. Ebenfalls ausgleichend wirken Methoden der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) wie Akupunktur oder die Akupressur. Nach Angaben der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft gibt es zur Akupunktur eine positive Evidenz, sie hat sich also in Studien bewährt.
Jeder Migränepatient muss selbst ausprobieren, mit welcher Strategie er seine Attacken in den Griff bekommt. Auch wenn die Krankheit nicht heilbar ist, so gibt es doch kaum eine andere neurologische Erkrankung, die sich so gut behandeln lässt.