Tinnitus gilt nicht als Krankheit. Er ist nicht gefährlich und tut nicht weh. Chronisch geworden, ist er nicht heilbar. Permanente Ohrgeräusche quälen und zermürben viele Menschen. Am schwersten zu ertragen ist Stille, denn dann meldet sich der Tinnitus besonders „vorlaut“.
Autorin: Ingrid Zehnder
Mal ist es ein schrilles Pfeifen oder es klingelt in hohen Tönen, mal hört man ein tieferes Rauschen, Summen oder Brummen. Mal ist nur ein Ohr betroffen, mal beide. Einige hören ihr Ohrgeräusch nur bei Stille, bei anderen wird der Tinnitus durch alltägliche Umgebungsgeräusche gemildert, wieder andere leiden Tag und Nacht unter dem störenden Geräusch. Tinnitusbetroffene werden oft nicht ernst genommen, und es ist ja auch schwer, Aussenstehenden zu erklären, was einen peinigt, wenn weder die Ursache noch die Intensität des Geräuschs richtig vermittelt werden kann.
Neben Hörproblemen im Alter oder nach einem Hörsturz sind Lärm und Stress die Hauptursachen für Tinnitus. Erholen sich die geschädigten Haarzellen im Innenohr in den ersten drei Monaten nicht, verselbstständigen sich die Geräusche im Gehirn und bleiben bestehen. Betroffene, besonders diejenigen, die schon jahre- oder gar jahrzehntelang unter Tinnitus leiden, müssen häufig mit nervöser Unruhe, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, eventuell auch depressiven Phasen zurechtkommen.
Gibt man im Internet «Tinnitus» ein, werden 16,2 Millionen Treffer angezeigt. Man findet Informationen über Symptome, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten – sachliche und dubiose, (zu) viel versprechende und sich widersprechende. Schaut man genauer hin und spricht mit Betroffenen und Experten, lautet – leider – das Fazit: Trotz jahrelanger Forschung sind noch viele Fragen offen.
Ohrgeräusche geben ein sehr komplexes Bild ab. Und weil das so ist, beruhen die Zahlen über die Betroffenen meist auf Schätzungen. «Mehrere Millionen Menschen in Deutschland leiden temporär oder dauerhaft an einem Tinnitus», so die Deutsche Tinnitus-Stiftung an der Berliner Charité. Drei Millionen davon hätten besonders starke Beschwerden. In der Schweiz soll 2014 jeder Zehnte mit einem pausenlosen Geräusch in den Ohren gelebt haben. Andere Schätzungen sprechen von vier Prozent aller erwachsenen Schweizer mit einem chronischen Tinnitus.
Zwar steigt mit dem Lebensalter (und eventuell beginnender Schwerhörigkeit) das Risiko für Ohrgeräusche, doch zeigt sich, dass in den letzten zehn Jahren immer mehr Jugendliche und sogar Kinder wegen Hörschädigung durch Lärm gefährdet sind.
Mit 0,01 Prozent aller Ohrgeräusche ist der objektive Tinnitus sehr selten. Er wird verursacht durch eine Schallquelle im eigenen Körper und kann vom untersuchenden Arzt gehört und gemessen werden. Ursachen können u.a. muskuläre Verkrampfungen im Ohr, im Kiefer oder Gaumen sowie verengte Blutgefässe sein. Wird die zugrunde liegende Erkrankung behandelt, verschwinden die Ohrgeräusche meist.
Im Gegensatz dazu steht der subjektive Tinnitus, bei dem die Geräusche nur vom Betroffenen gehört werden und objektiv nicht nachvollziehbar sind.
Beim subjektiven Tinnitus unterscheidet man zwei zeitlich abgegrenzte Formen. Er wird chronisch genannt, wenn er länger als drei Monate besteht. Kürzer vorliegende Ohrgeräusche gelten als akuter Tinnitus. Diese Unterteilung ist für die Betroffenen insofern von Bedeutung, als sich die Behandlungsweise und die Aussicht auf Heilung unterscheiden.
Erstmals auftretende Ohrgeräusche können verschiedene Ursachen haben: Verstopfungen oder Entzündungen im Ohr, Verspannungen der Halswirbelsäule, anhaltende, starke Lärmbelastung (Konzerte/Discos/laute Musik/ Maschinenlärm), Schalltraumata (Knallkörper/Schüsse/Explosionen), Hörsturz, leistungsbezogener und/oder emotionaler Stress, Menière-Krankheit (siehe auch «Schwindel» in GN 6/2017). Häufig bleibt der Grund völlig unbekannt.
Ein akuter Tinnitus kann spontan wieder verschwinden, doch man sollte nicht länger als zwei Tage warten, um einen Facharzt für Hals-Nasen-Ohren (HNO/ORL) aufzusuchen. Nach der Anamnese, diversen Untersuchungen der Ohren, des Hörvermögens, Bestimmung der Frequenz und Lautstärke des Geräuschs sowie nach Ausschluss organischer Erkrankungen (z.B. Mittelohrentzündung) erfolgt meist eine kurzzeitige Therapie mit hochdosiertem Kortison. Diese Behandlung wird nur bei idiopathischer (unbekannter) Ursache des akuten Tinnitus und bei Hörsturz vorgenommen.
Vor 2014 wurde die Kortisontherapie eventuell kombiniert mit Medikamenten zur Gefässerweiterung und zur Verbesserung der Fliesseigenschaften des Blutes. Mangelnde aussagekräftige Studien zur Wirksamkeit haben dazu geführt, dass diese Präparate nicht mehr empfohlen werden – zumindest in der seit 2015 geltenden Leitlinie der deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. Auf der anderen Seite befürworten HNO-Ärzte wie etwa die renommierte Direktorin des Tinnituszentrums der Charité in Berlin, Prof. Birgit Mazurek, in bestimmten Fällen durchaus den Einsatz von Medikamenten, welche die Durchblutung des Innenohrs fördern.
Videospieler, aufgepasst: Wer regelmässig spielt, kann von Tinnitus bedroht sein. Denn der Geräuschpegel bei Spielen liege oft nahe an den zulässigen Grenzwerten oder darüber, warnt ein internationales Team von Hörmedizinern im Fachjournal «BMJ Public Health». Der Geräuschpegel für Shooter-Spiele lag Untersuchungen zufolge im Durchschnitt bei bis zu 91 Dezibel. Das entspricht dem Lärm eines nah vorbeifahrenden Lastwagens. Dauerhafte Auswirkungen können auch sogenannte Impulsgeräusche haben, also kurze Schallstösse, die mindestens 15 Dezibel über dem Hintergrundgeräusch liegen. Einer Studie zufolge erreichten Impulsgeräusche beim Spielen bis zu 119 Dezibel. Ab 100 dB sind Gehörschäden unvermeidbar.
Bei akutem Tinnitus, Hörsturz oder Knalltrauma wird hin und wieder die Hyperbare Sauerstofftherapie (HBO) in Erwägung gezogen. Dabei wird in mehreren Sitzungen reiner Sauerstoff in einer Überdruckkammer eingeatmet. Die Kosten von einigen tausend Franken bzw. Euro werden von den gesetzlichen Krankenkassen nicht erstattet. In der Schweiz gibt es nur in Genf und Basel Druckkammerzentren. Die schon erwähnte HNO-Leitlinie meint: «Ein Nutzen der Behandlung von chronischem Tinnitus mit hyperbarem Sauerstoff ist nicht belegt».
Hat sich das Getöse, Rauschen, Klingeln oder Zischen in den Ohren nach drei Monaten nicht von selbst gelegt bzw. beheben lassen, ist der Tinnitus chronisch geworden. Die übliche medikamentöse Behandlung macht keinen Sinn mehr. Alle Anstrengungen richten sich nun auf die Chance, mit den penetranten Ohrgeräuschen besser klar zu kommen. Denn: «Man sollte … nach dem jetzigen Wissensstand keine Heilung erwarten. Vielleicht sieht das in zehn, zwanzig Jahren besser aus», wird Prof. Birgit Mazurek in DIE WELT 2013 zitiert.
Auch Prof. Gerhard Hesse, Chefarzt der Tinnitus-Klinik in Bad Arolsen (D) und Buchautor, meint: «In naher Zukunft wird es nicht den Schalter geben, der den Tinnitus abschaltet».
Ist die Schädigung der empfindlichen Sinneshärchen im Innenohr durch (Flug-, Verkehrs-, Musik-) Lärm, Stress oder eine schleichende Hörminderung nicht rückgängig zu machen, bleibt der Dauerton. Früher ging man davon aus, dass die Geräusche im Ohr entstehen. Da Tinnitus auch nach Durchtrennung des Hörnervs weiter besteht, wurde diese Theorie widerlegt. Heute weiss man, dass die nervtötenden Töne auf fehlerhaften Verknüpfungen im Gehirn beruhen. Mithilfe bildgebender Verfahren konnten Neurowissenschaftler nachweisen: Tinnitus basiert auf einer Überaktivität bestimmter Nervenzellen in den Hirngebieten, welche die akustischen Informationen verarbeiten. Wenn im Gehirn aufgrund einer Schädigung des Innenohrs weniger Signale ankommen, drehen bestimmte Areale der Hörrinde ihre Empfindlichkeit für erregende Reize hoch. Als Folge produziert das Gehirn Töne, die auch als Phantomgeräusch bezeichnet werden. Die Hörwahrnehmung im Gehirn steht unter anderem in Verbindung mit dem sogenannten limbischen System, das die Gefühlswelt steuert. Dies könnte die Verstärkung des Tinnitus in negativen Stimmungslagen wie Angst oder Stress erklären.
Das Corti-Organ ist die Schnittstelle in der Schnecke des Innenohrs zwischen den akustischen mechanischen Schwingungen und den Nervensignalen. (Quelle: wikipedia.org)
Gibt man im Internet «Tinnitus heilen» ein, erhält man noch über 270 000 Treffer, leider auch zahlreiche unsinnige Empfehlungen. Millionen Betroffener reizen natürlich auch unseriöse Anbieter mit hochtrabenden Versprechungen. Und viele leidende Menschen sind bereit, alles Mögliche auszuprobieren – koste es, was es wolle. Wenden Sie sich im Zweifelsfall an Ihre Ärztin, um sich für eine sinnvolle Therapie zu entscheiden und Ihre Nerven und Ihr Portemonnaie zu schonen.
Wohlfeile Empfehlungen wie ein Zimmerbrunnen, ein Ventilator oder leise Musik im Schlafzimmer, die von den Ohrgeräuschen ablenken und beim Einschlafen dienlich sein sollen, können Menschen mit stärkerer Belastung nicht helfen (und kommen nur für Singles oder Paare mit getrennten Schlafzimmern infrage?). Zum besseren Einschlafen werden auch Klangkissen mit integrierten Lautsprechern und Anschluss an Radio, CD-Player etc. mehr oder weniger teuer verkauft. Die Wirksamkeit ist jedoch keineswegs erwiesen. Die umfangreich und mit fragwürdigen «klinischen Studien» beworbene Lasertherapie ist bei Tinnitus medizinisch nicht anerkannt. Angeblich «professionelle» Softlaser für den Hausgebrauch für immerhin ca. 400 Euro/500 Franken werden ganz allgemein als nutzlos bezeichnet.
Die Kombinationstherapie erfordert die Zusammenarbeit verschiedener Spezialisten wie HNO-Ärzten, Psychologinnen, Physiotherapeuten und Hörgeräteakustikerinnen. Die Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) geht davon aus, dass man lernen kann, das chronische Ohrgeräusch weniger intensiv wahrzunehmen und sich daran zu gewöhnen. Das Ziel ist eine Verbesserung der Lebensqualität. Die TRT erfordert eine aktive Mitarbeit, Geduld und den Willen, eine Linderung erreichen zu wollen.
Im Prinzip handelt es sich um eine ambulante Langzeittherapie, die ein bis zwei Jahre dauern, aber durchaus schon nach kürzerer Zeit erste Erfolge zeigen kann. Am Beginn der Therapie steht ein sogenanntes Counseling, d.h. umfassende Aufklärung über die Entstehung des Tinnitus und eine psychologische Beratung, mit dem Ziel «unbegründete» Ängste und eine negative Bewertung des Quälgeists auszuräumen. Die zweite Säule besteht aus verhaltenstherapeutischen Anleitungen. Dabei sollen Tinnitusgeplagte mithilfe eines Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungstrainings (Hörtherapie) sowie Übungen zur Stressbewältigung lernen, besser mit den Ohrgeräuschen umzugehen. Atemübungen und Entspannungsmethoden wie Biofeedback, Progressive Muskelrelaxation, Feldenkrais-Methode oder Autogenes Training sind weitere wichtige Elemente.
Mit einer Retraining-Therapie sollte man nicht zu lange warten. Ist der Tinnitus bereits viele Jahre alt, sinken die Chancen, ihn zu lindern. Soweit die Theorie; in der Praxis ist es gar nicht so einfach, ein Tinnituszentrum oder eine Tinnitusklinik mit einem interdisziplinären Behandlungsangebot zu finden. Die Krankenkassen bezahlen in der Regel die aufwändige TRT nicht, sondern nur die von der zuvor schon genannten Leitlinie empfohlene kognitive Verhaltenstherapie.
Falls eine Hörminderung vorliegt, sollte auf eine gute Versorgung mit Hörgeräten geachtet werden. In vielen Fällen werden auch Rauschgeräte, sogenannte Noiser, in Verbindung mit der TRT benutzt. Noiser müssen vom HNO-Arzt verschrieben und vom Hörgeräteakustiker angepasst werden. Wie bei den Hörgeräten, werden die Kosten von den Krankenkassen nur teilweise übernommen. Die Tongebung des Noisers muss leiser sein als der Tinnitus selbst, und er muss sechs bis acht Stunden täglich getragen werden. Der auch mit Hörgeräten kombinierbare Noiser kann nach einer längeren Eingewöhnungszeit helfen, die Ohrgeräusche in den Hintergrund zu drängen. Dadurch gehen sie nicht weg, doch kann die Methode manchen Betroffenen helfen, den Tinnitus besser zu ertragen. Wieder andere kommen nicht damit zurecht, weil sie den Eindruck haben, der Tinnitus verstärkt sich. Sogenannte Masker, die den Tinnitus vollständig überdecken, gelten inzwischen als veraltet.
Zum sogenannten CR-Neuromodulator (zuvor: Neurostimulator) schreibt die deutsche Tinnitus-Liga: «Wir vertreten … die Auffassung, dass für dieses Gerät bislang kein Wirksamkeitsnachweis vorliegt. Die derzeit uns vorliegenden Daten reichen unseres Erachtens nicht aus, um eine gültige Aussage zur Wirksamkeit und zur Sicherheit dieser Behandlungsmethode zu treffen.» Die Neuromodulation eignet sich, wenn überhaupt, nur für bestimmte Tinnitusarten mit Klingeln oder Pfeifen. Neben dem ziemlich grossen erforderlichen Zeitaufwand strapaziert ein Neurostimulator mit nahezu 3800 Franken das Budget so mancher Betroffenen.
Bei der repetitiven (wiederholten) Transkraniellen Magnetstimulation (rTMS) wirken äusserlich angebrachte Magnetimpulse durch den Schädel hindurch. Dabei sollen übererregte Gehirnareale in ihrer Aktivität gehemmt werden. Die Chancen für eine Verbesserung sind umso grösser, je weniger lang das Ohrgeräusch besteht. Bei Tinnitus lassen sich für die rTMS positive Effekte bisher für ca. 40 Prozent der Fälle und eine kurze Zeitspanne nachweisen; Langzeitfolgen und Nebenwirkungen sind noch nicht ausreichend untersucht.
Ein Verfahren im Experimentierstadium ist die äusserlich angewandte oder mit unter der Haut angebrachten Implantaten elektrische Vagusnervstimulation. Dabei wird der Nervus vagus (der zehnte von zwölf Hirnnerven) mittels elektrischer Impulse angeregt.
Bei der (passiven) neuronalen Musiktherapie, die Forscher in Münster entwickelten, wird zunächst die genaue Frequenz des Tinnitusgeräuschs ermittelt. Mithilfe des kommerziellen Angebots namens «Tinnitracks» (das nicht von den Forschern stammt) hört man Musikstücke, aus denen die entsprechende Frequenz herausgefiltert wurde. Die Kosten liegen bei 539 Euro pro Jahr. Ist der Account freigeschaltet, kann man beliebig viele Musikstücke herunterladen, die therapiegerecht umarrangiert werden. Seit Oktober 2015 gibt es bei HNO-Ärzten in verschiedenen deutschen Bundesländern die App auf Rezept; die Kosten werden von der Techniker Krankenkasse erstattet. Die Benutzer müssen ein Jahr lang täglich für 90 Minuten die ausgesuchte Musik hören. Eine im April 2016 veröffentlichte Studie der Uniklinik Münster besagt, dass «Tinnitracks» und ähnliche Nachahmer-Apps keinen Effekt auf die Tinnitus-Belastung haben.
Vor einigen Jahren entwickelten Forscher am Deutschen Zentrum für Musiktherapieforschung in Heidelberg die Neuro-Musiktherapie. Es handelt sich um eine fünftägige Behandlung, bei der neben Stressmanagement und Counseling musikalische Übungen im Vordergrund stehen. Die Teilnehmer lernen, Töne zu singen oder zu summen, die knapp unterhalb ihrer Tinnitus-Frequenz liegen. Weil dabei gleichzeitig Ober- und Untertöne mitschwingen, soll das Gehirn den fehlenden Ton rekonstruieren. Ziel ist, die veränderten Gehirnregionen positiv zu reaktivieren und zu «normalisieren». Mit den fünf Tagen ist es nicht getan: Zuhause muss man drei Monate lang täglich konsequent weiter üben.
Viele Tinnitus-Experten und die Deutsche Tinnitus-Stiftung sehen die Musiktherapie eher als einen Therapie-Baustein; als alleinige Massnahme sei die Wirkung noch nicht ausreichend bewiesen.
Jeder Tinnitus ist anders. «Die allgemeingültige Therapie wird es nicht geben», meint Prof. Berthold Langguth vom Zentrum für Neuromodulation an der Uni-Klinik Regensburg. So müssen Tinnitus-Betroffene nach wie vor auf eine Behandlung bei erfahrenen und mitfühlenden Therapeuten hoffen und sich vor zweifelhaften Angeboten mit ungesicherten Heilsversprechen hüten.