Ein Schmerztagebuch ist ein wichtiges Instrument bei der Behandlung chronischer Schmerzen. Doch manchmal kann es kontraproduktiv sein. Dann hilft eher ein Wohlfühltagebuch weiter.
Autorin: Anja Rech
Hört der Schmerz denn nie auf? Ob Rückenschmerzen, Migräne oder Fibromyalgie – manche Menschen quälen solche Beschwerden ständig oder immer wieder. Mediziner sprechen dann von chronischen Schmerzen. In der Regel probieren die Patienten verschiedene Therapien aus. Ein Werkzeug, das ihre Behandlungen begleiten sollte, ist das Schmerztagebuch oder der Schmerzkalender. Genau dieses Instrument hilft ihnen zu erkennen, ob die Pein durch die Therapie vielleicht doch besser geworden ist. Denn ein Problem ist, dass man Schmerzen nicht nachweisen, nicht sichtbar machen, nicht messen kann. Auch der Arzt ist auf die Beschreibung des Patienten angewiesen. Hat dieser ein Schmerztagebuch geführt, liefert das dem Behandler einen guten Überblick.
«Ziel eines Schmerztagebuches ist es unter anderem, Zusammenhänge besser zu erkennen», erklärt Sabrina Moll, Psychologin (M.Sc.) und Heilpraktikerin für Psychotherapie aus Frankfurt am Main. Folgende Faktoren werden dabei festgehalten:
«Die Angaben aus dem Schmerztagebuch erleichtern dem behandelnden Arzt die Diagnosestellung und geben ihm eine Übersicht über die Möglichkeiten der Schmerzbehandlung», ergänzt Moll, die in der Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein im Taunus jahrelang mit Schmerzpatienten gearbeitet hat.
Bei Migräne kommt noch dazu, dass die Kopfschmerzattacken durch Auslöser wie Stress, zu wenig Essen oder die Monatsregel hervorgerufen werden können.
«Hier lässt sich mithilfe der Aufzeichnungen herausfinden, in welchen Situationen sie auftreten und ob sich dabei Regelmässigkeiten zeigen», sagt Moll. Dadurch kommt man den Auslösern, den sogenannten Triggern, auf die Spur. Handelt es sich um beeinflussbare Faktoren, kann der Betroffene selbst dazu beitragen, dass die Kopfschmerzattacken seltener werden, indem er etwa regelmässig Pausen macht oder etwas isst.
«Oft reichen zwei, drei Wochen, um Entwicklungen und Zusammenhänge zu erkennen», schreibt die Rheumaliga Schweiz auf ihrer Website. Geht es darum zu kontrollieren, ob regelmässig eingenommene Medikamente wirken und in welcher Dosierung der beste Effekt eintritt, können die Aufzeichnungen auch mehrere Monate lang nötig sein.
Das Tagebuch zu führen, habe zudem einen psychologischen Vorteil, so Expertin Moll. «Durch die Beschäftigung mit Auslösern, Zusammenhängen und unterschiedlich starkem Auftreten der Schmerzen entwickelt sich bei vielen ein neues Bewusstsein für sich selbst.» Dies kann auch motivieren, Verhaltensänderungen umzusetzen. So können regelmässige Entspannungsübungen oder Ausdauersport bei vielen Schmerzerkrankungen helfen, die Beschwerdehäufigkeit zu reduzieren. «Dies einzutragen und daraus folgende positive Effekte festzuhalten, fördert das Erleben von Selbstwirksamkeit: Die Betroffenen erkennen, dass sie sich selbst effektiv helfen können.»
Umgekehrt deckt das Schmerztagebuch auch schädliche Verhaltensweisen auf. So erlebt die Therapeutin immer wieder, dass Menschen sich etwa durch überhöhte Anforderungen an sich selbst unnötig Stress aussetzen und so Migräne-Anfälle provozieren. Die regelmässigen Aufzeichnungen fördern die Selbstbeobachtung und verhelfen manchen zu wichtigen Erkenntnissen.
«Problematisch wird das Führen eines Tagebuches allerdings, wenn sich dadurch eine starke Fokussierung auf den Schmerz entwickelt», warnt die Psychologin. «Manche Betroffene neigen dazu, von früh bis spät ängstlich in den Körper hineinzulauschen und regelrecht auf den ansteigenden Schmerz zu warten.» Dadurch könne ein Teufelskreis aus Erwartungsangst und Schmerzverstärkung, eine «sich selbst erfüllende Prophezeiung» entstehen. In einem solchen Fall sollte das Tagebuch unbedingt nur für einen begrenzten Zeitraum geführt werden – oder durch ein Wohlfühl-Tagebuch ersetzt werden.
Dieses hilft, die Aufmerksamkeit vom Schmerz wegzulenken auf schöne Erlebnisse. Denn selbst an Tagen mit Schmerzen gibt es etwas Positives zu berichten: Jemand hat sich liebevoll um den Patienten gekümmert oder der Himmel ist aufgerissen und hat einen tröstenden Sonnenstrahl durchs Fenster geschickt.
«Tragen Sie jeden Abend wenigstens ein positives Ereignis des Tages, eine schöne Erinnerung ein», schlägt Moll vor. «Der Vorteil des Aufschreibens liegt darin, dass man sich mit der Zeit eine Sammlung individueller Glücksrezepte schafft, auf die man insbesondere in schwierigen Zeiten zurückgreifen kann.»
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Nicht nur Schmerzpatienten profitieren von einem Wohlfühltagebuch. Es kann auch bei der Behandlung seelischer Erkrankungen ein wertvolles Instrument sein. «Schreiben entfaltet von sich aus eine heilsame Wirkung», betont Peter Bögli, Fachpsychologe für Psychotherapie an der Klinik Südhang in Kirchlindach, «das ist klinisch nachgewiesen.» Er setzt das Wohlfühltagebuch bei Patienten ein, die er auf dem Weg aus einer Suchterkrankung begleitet. Dazu hat der Spezialist für Achtsamkeit und Resilienz ein Therapieangebot entwickelt, zu dessen Elementen es zählt, das Augenmerk im Alltag intensiver auf Wohlfühl-Erlebnisse zu lenken.
Die Patienten treffen sich dreimal pro Woche mit Bögli für ein Vier-Punkte-Programm, das «Selbstfürsorge», «Selbstwirksamkeit», «Soziale Netzwerke» und «Sinnorientierung» umfasst. Das Wohlfühltagebuch kommt im Themenblock Selbstwirksamkeit zum Tragen. Dabei regt er beispielsweise Gedanken über die eigene Wertschätzung an. «Nur die wenigsten würden über sich selbst eine Lobrede halten», erklärt der Psychologe, «zu viel Selbstbewusstsein erntet in der Regel keine Sympathien. Wenn Menschen jedoch den Bezug zu ihren eigenen Stärken verloren haben, kann es heilsam sein, die Wertschätzung sich selbst gegenüber zum Thema zu machen.» Eine Aufgabe, die er dazu stellt: «Schreibe zehn Dinge auf, die du gut kannst. Suche drei aus, in denen du dich weiterentwickeln willst.» Hier dient das Tagebuch dann auch der Erfolgskontrolle.
Zuletzt aktualisiert: 24-11-2023