Der Lenden-Darmbein-Muskel sorgt als Verbindung zwischen Ober- und Unterkörper für Stabilität und Beweglichkeit zugleich. In ihm steckt beachtliches Potenzial im Hinblick auf Gesundheit, Fitness und sportliche Leistung. Höchste Zeit, ihn zu aktivieren!
Text: Andrea Pauli
Er ist der einzige Muskel, der den Oberkörper direkt mit den Hüften und Beinen verbindet. Er liegt tief im Körperinneren und ist mit der Hand nur schwer zu ertasten, weil er sich unter anderen Muskeln befindet: der Musculus iliopsoas, kurz: Psoas. Gerne auch als «Kampf- oder Fluchtmuskel» bezeichnet, denn «er ist wesentlich am Stressgeschehen beteiligt», so Prof. Ingo Froböse, Leiter des Zentrums für Gesundheit durch Sport und Bewegung an der Deutschen Sporthochschule Köln. Der Psoas springt sozusagen an, sobald Gefahr im Verzug ist – ein Funktionsschema, das seit Urzeiten gleich geblieben ist. Dank ihm können wir uns ducken, wegrennen oder uns verteidigen.
Der Psoas reagiert im Zusammenspiel mit der Ausschüttung von Botenstoffen. Sobald unser Gehirn eine Situation (unbewusst) als gefährlich wahrnimmt, setzen zahlreiche körperliche Reaktionen ein: Das Nebennierenmark schüttet die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin aus, die Nebennierenrinde produziert Glukokortikoide. Ergebnis: tiefere Atmung, schnellerer Herzschlag, mehr Energie aus dem Stoffwechsel und eine stärker durchblutete Muskulatur. Die Muskeln spannen sich an, und unser Organismus könnte nun Höchstleistungen vollbringen. Dabei nimmt der Psoas eine bedeutende Funktion ein: «Er ist wichtig für unsere Bewegungen und den Schutz unserer inneren Organe durch die Vorkrümmung des Oberkörpers», so Prof. Froböse.
Unsere frühen Vorfahren bauten diese muskuläre Anspannung bei Kampf oder Flucht ab. Der Stress, der uns heutzutage zusetzt, «sammelt» sich in der Tiefe des Körpers, weil wir die damit verbundene Spannung in der Regel nicht aktiv genug loswerden (Sofa statt Sport). Der Psoas (und die übrige Muskulatur) gerät in der Folge unter eine Dauerspannung – und die drückt sich irgendwann durch mehr oder minder grosse Schmerzen aus.
Der Psoas major ist mit dem zwölften Brustwirbel und allen fünf Lendenwirbeln verbunden. Er verläuft durch das Becken und endet am Schenkelring der beiden Oberschenkelknochen. Stress und auch Angst wirken auf den Psoas. Manche Experten wie die US-Autorin und Trainerin Liz Koch gehen auch von einer Wirkung aus, die sich andersherum vollzieht: Ist der Psoas funktionell verkürzt, etwa durch permanentes Sitzen im Alltag, löst er seinerseits Angstgefühle aus. Vielfach wird deshalb auch vom «Muskel der Seele» gesprochen, der unsere Gefühle beeinflussen könne und darum gezielt trainiert werden sollte.
Der Musculus iliopsoas ist eigentlich eine Muskelgruppe und besteht aus drei Teilen: dem grossen und kleinen Lendenmuskel sowie dem Darmbeinmuskel. Der Psoas ist sehr eng mit den Knochen der Wirbelsäule, des Beckens und der Beine und mit den zugehörigen Sehnen und Knorpeln verbunden. «Die langen Muskelfasern des Psoas verlaufen nahezu senkrecht. Deswegen verfügt dieser Muskel über eine ausgesprochen gute Hebelwirkung und wird damit zum wichtigsten und kräftigsten Beweger zwischen Ober- und Unterkörper», erläutert Prof. Froböse. «Der Psoas ist der einzige Beinbeuger, der den Oberschenkel im Hüftgelenk um mehr als 90 Grad anheben kann!»
Wie genau das komplexe Zusammenspiel des grossen Lendenmuskels mit dem Darmbeinmuskel funktioniert, beschäftigt Wissenschaftler nach wie vor. «Nach dem aktuellen Stand der Forschung Anfang 2017 ist der Darmbeinmuskel dafür zuständig, das Becken und damit auch den Oberkörper nach vorne zu kippen.» Das tut er im Verbund mit weiteren Muskeln. Der grosse Lendenmuskel wirkt dem entgegen. Doch dazu muss er kräftig und elastisch genug sein, ansonsten kommt es zum Hohlkreuz.
Der Lendenmuskel stützt bei der Beugung und Streckung auch die Lendenwirbelsäule. «Er sorgt mit dafür, dass die Lendenwirbelkörper mit ihren Gelenken und die Bandscheiben dazwischen bei Bewegungen an ihrem Platz bleiben und sich nicht verschieben oder verkanten», so Prof. Froböse. Im unteren Teil der Lendenwirbelsäule überwiege wohl aber die Aufrichtungsfunktion, wie neuere Studien belegen.
Ganz durchdrungen hat die Forschung die Wirkweise des Psoas indes noch nicht; bislang ungeklärt ist, ob verschiedene Fasern des Lendenmuskels einander entgegengesetzte Funktionen erfüllen können.
Sitzen prägt unseren Alltag, ob im Büro, per Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, daheim auf der Couch – und permanent ist dabei die Hüfte gebeugt. Für den Psoas bedeutet das ständige, monotone Arbeit: (zu) viel beugen, wenig (oder nie) strecken – eine fortwährende Anspannung, auch wenn wir das gar nicht so empfinden.
«Wenn Ansatz und Ursprung des Muskels zu selten mitarbeiten müssen, verharren sie dauerhaft im zusammengedrückten Zustand», erklärt Prof. Froböse. Folge: Es stellt sich ein «Hypertonus des Muskels ein, ein Zuviel an Spannung» und dies bewirkt eine eingeschränkte Beweglichkeit des Hüftgelenks.
Fascia iliaca wird die Faszie des Psoas genannt. Sie bildet eine Verlängerung der Zwerchfellfaszie und ist im Becken mit dem Leistenband verbunden. Kann das Zwerchfell nicht richtig arbeiten und sind dadurch die Durchtrittsstellen von Speiseröhre und Aorta verengt, beeinträchtigt das den Lymphfluss und die Durchblutung des gesamten Körpers.
Da die Faszien, feine weisse Häute aus Bindegewebe, die u.a. alle Muskeln und Muskelfasern umgeben, extrem dicht mit Sensoren für die Übertragung von Reizen ausgestattet sind und selbst auf Reize reagieren können, sind sie auch für den Psoas von Bedeutung. Sind die Faszien verklebt oder spröde, schmerzen sie – und das durchaus intensiv.
Atemtechniken, die das Zwerchfell unterstützen, wirken sich positiv auf den Psoas aus.n«Ein gesunder Psoas ist ein weiches, geschmeidiges und dynamisches Gewebe, das die Reaktionsfähigkeit des ganzen Körpers unterstützt», resümiert die amerikanische Psoas-Trainerin Liz Koch.
Beim Sport spielt der Psoas eine zentrale Rolle, denn er ist, wie bereits erwähnt, der für die Stabilisation der Lendenwirbelsäule hauptverantwortliche Muskel. Wer Pilates treibt, tut viel für die Funktion dieses Muskels, weil er bei den entsprechenden Übungen oft gedehnt wird und über seine ganze Länge arbeiten muss. Andere beliebte Sportarten wie Joggen, Radfahren oder Schwimmen jedoch vernachlässigen den Psoas, so die Erkenntnis von Prof. Froböse.
Damit er vom Lauftraining profitieren kann, braucht es eine kräftige Muskulatur in den hinteren Oberschenkeln und im Gesäss. Das lässt sich mit einer «Bulgarischen Kniebeuge» (Mischform von Kniebeuge und Ausfallschritt), Beinlift- und Beinheberübungen trainieren. Eifrige Radler (besonders Rennradfahrer) klemmen den Psoas, seine Faszien, Gefässe und Nerven durch die vorgeneigte Haltung des Oberkörpers regelrecht ab. «Das kann den Psoas dauerhaft schwächen», so Prof. Froböse.
Gegensteuern lässt sich mit Dehnübungen wie z.B. dem Katzenbuckel oder dem Überstrecken im Stand mit hochgereckten Armen. Kraul- und Rückenschwimmen sind im Allgemeinen gut für den Psoas, da er recht gleichmässig über seine ganze Länge belastet wird. Anders sieht es beim Brustschwimmen aus, vor allem, wenn man es nicht richtig macht und mit dem Kopf über Wasser bleibt. Das überlastet die Hals- und Lendenwirbelsäule. Hobby- und Profischwimmer tun ihrem Psoas Gutes mit Übungen wie der «Sumo-Kniebeuge» (breitbeinig mit den Händen neben den Kopf) oder Seitstütz-Varianten (die allerdings ganz schön viel Kraft verlangen und eher was für Geübte sind).
Das Wissen um die Bedeutung des Psoas ist keineswegs ein heutiges Modethema. Bereits in den 1990er-Jahren untersuchten französische Wissenschaftler die präventive Wirkung von gezieltem und vor allem kontinuierlichem Psoas-Training auf Osteoporose im Lendenwirbelbereich bei Frauen nach der Menopause. Sie kamen zu dem Schluss, dass sich durchaus ein Effekt erkennen lässt. Schaden kann es auf keinen Fall.
Testen Sie Ihren Psoas – so geht's: Mit zwei einfachen Übungen können Sie herausfinden, ob Ihr Psoas zu schwach oder zu kurz ist. Zugleich können Sie mit regelmässigen Wiederholungen Ihren Psoas trainieren.
Stellen Sie sich mit dem Rücken zur Wand, am besten einem grossen Spiegel gegenüber. Ziehen Sie ein Knie über 90 Grad an. Der restliche Körper soll sich dabei nicht bewegen. Das Steissbein bleibt im Kontakt zur Wand. Halten Sie diese Position 30 Sekunden lang. Gelingt das nicht, ist es ein Zeichen dafür, dass Ihr Psoas zu schwach ist. Fällt das Ergebnis auf beiden Seiten unterschiedlich aus, weist das auf eine Dysbalance Ihrer Psoasmuskeln hin.
Ziehen Sie in Rückenlage mit beiden Händen ein Knie an die Brust. Hebt sich dabei das andere, ausgestreckte Bein vom Boden ab, ist der Psoas funktionell verkürzt.
Ausfallschritt
Machen Sie aus dem aufrechten Stand einen grossen Schritt nach vorn und winkeln Sie langsam das hintere Bein ab. Liegt dessen Unterschenkel etwa in der Waagerechten, halten Sie mit dem Knie über dem Boden einen Moment inne. Das darf vom Oberschenkel zur Leiste hin gern ein bisschen ziehen – dann wissen Sie, dass Sie den richtigen Bereich dehnen.
10 x auf jeder Seite ausführen
Schulterbrücke
Legen Sie sich auf den Rücken, die Arme neben den Körper. Stellen Sie die Füsse auf und spannen Sie die Bauchmuskeln an. Einatmen. Mit dem Ausatmen Becken hochkippen und die Wirbelsäule vom Becken aus langsam Wirbel für Wirbel vom Boden hochrollen, bis die Körperachse von den Knien bis zu den Schultern eine Gerade bildet. Ausatmen. Einatmen und langsam mit dem Ausatmen Wirbel für Wirbel wieder auf den Boden abrollen.
10 x ausführen