Soll man am Abend kalt oder warm speisen? Schlaf und Figur
zuliebe ganz auf ein spätes Mahl verzichten? Empfehlungen für ein bekömmliches Nachtessen.
Autorin: Andrea Pauli, 10/18
In puncto abendliches Essen vertreten Experten diverse Konzepte – in einer Sache sind sich fast alle einig: Zu spät zu viel verzehren tut nicht gut. Was so ziemlich jeder Mensch in seinem Leben schon mal mehr oder minder leidvoll selbst erfahren haben dürfte.
Welche Speise in welcher Menge und vor allem wann gegessen werden soll, ist also die Frage. In der Traditionellen Europäischen Naturheilkunde (TEN), in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) und im Ayurveda ähneln sich die Ernährungskonzepte fürs Abendessen. Ansonsten bestimmen gewisse «Moden» die Diskussion: Das «Dinner Cancelling» (abends gar nichts essen) gehört zu den beliebten Ratschlägen für Figurbewusste; aktuell empfehlen Fachleute das intermittierende Fasten (auch Intervallfasten oder Teilzeitfasten genannt).
«Ein ideales Nachtessen sollte leicht verdaulich sein und mindestens zwei Stunden vor dem Schlafengehen eingenommen werden», stellte schon Alfred Vogel fest. Die moderne Ernährungswissenschaft sieht das ähnlich – sonst ist der Körper noch zu sehr mit Verdauungsarbeit beschäftigt und die Nachtruhe dahin. Mittlerweile wird empfohlen, vier Stunden Zeit zwischen der letzten Mahlzeit des Tages und dem Schlafengehen zu lassen. Die Grundregel könnte lauten: Am besten nichts mehr nach 18 Uhr verzehren.
Weshalb?
«Tatsächlich ist es so, dass sich die menschliche Verdauung ändert, wenn man schläft – sie fährt in ein Ruheschema. Es gibt verschiedene Organfunktionen, die sich reduzieren, das betrifft nicht nur den Gastrointestinaltrakt», erklärt Privatdozent Dr. Daniel Pohl, Leitender Arzt an der Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie am Universitätsspital Zürich. «Die Produktion von Speichel und Magensaft nimmt nachts ab, ebenso die Darmbeweglichkeit. Der Darm arbeitet während des Schlafes anders als im Wachmodus.»
Womit man bei dem wäre, was da dann über Nacht im Magen-Darm-Trakt liegt. «Ich ess’ abends nur einen Salat», betonen viele, die sich dennoch wundern, weshalb sie sich mit einem Blähbauch plagen. Auch Obst kann heikel sein, wenn es am Abend roh verspeist wird.
«Alles, was im Dickdarm ankommt und fermentierbar ist, gärt – egal, ob das nun am Tag oder in der Nacht ist. Das gilt insbesondere für fermentierbare Zucker, also für Faserstoffe, auch für Polyalkohole, die in vielen Nahrungsmitteln enthalten sind, vor allem in Getreideprodukten und in faserreichem Gemüse. Die Gärung erfolgt durch die Darmbakterien und diese sind nachts so aktiv wie tagsüber», erläutert Dr. Pohl. «Von gewissen Stoffen wie z.B. Fruktose kann der Körper nur eine gewisse Menge aufnehmen. Fruktose ist ein Einzelzucker und wird nicht aufgespalten – entweder er wird im Dünndarm vollständig resorbiert oder nicht.» Dr. Pohl betont, dass die Verdauungsvorgänge individuell höchst verschieden sind: «Manche können abends problemlos Obst und Salat essen, andere eben nicht. Dies ist auch individuell abhängig von der viszeralen Sensitivität , also der Empfindlichkeit des Magen-Darm-Systems auf Reize. Wenn man das weiss, kann man sich dementsprechend verhalten.»
Die von manchen Ernährungsexperten vertretene These, dass gewisse Nahrungsmittel bestimmte «Verdauungszeiten» haben (Beispiele: Wassermelone 15 min, Nüsse 3 Std., Hartkäse 5 Std.) ist für Dr. Pohl in dieser Bestimmtheit nicht haltbar. «Der Magen vorverdaut Proteine und sorgt dafür, dass Kohlenhydrate weitergeleitet werden in den Dünndarm. Dieser bestimmt eigentlich, wie schnell der Magen sich entleert. Der Dünndarm kontrolliert und analysiert, was aus dem Magen kommt, und setzt einen Feedbackmechanismus in Gang, welcher dem Magen signalisiert: bitte mehr oder es ist genug. Das ist abhängig vom Fettgehalt, vom Kohlenhydratgehalt und generell von der Kalorienanzahl. Insofern gibt es gewisse theoretische Verdauungszeiten. Je kalorienhaltiger eine Mahlzeit ist, umso langsamer wird sie entleert. Punktgenau definieren lässt sich das aber nicht.»
Womit man wieder bei der Tatsache wäre: Ein opulentes Mahl zu später Stunde ist angesichts einer «heruntergedimmten» abendlich-nächtlichen Verdauungstätigkeit kein Gefallen, den man seinem Körper tut. Für Dr. Pohl ist das vor allem im Hinblick auf die Schlafqualität zu sehen.
Als «gefährlich» stuft er späte Mahlzeiten jedoch nicht ein. Im Gegensatz zu Forschern des Barcelona Institute for Global Health. Ihnen zufolge deute eine Vergleichsstudie darauf hin, dass spätes Essen mit Prostata- und Brustkrebs in Zusammenhang gebracht werden könne. «Die Forschungslage zu Ernährung und Schlaf ist noch dünn», gibt Dr. Pohl zu bedenken, da seien viele Prozesse erst ungenügend untersucht.
Das bestätigt auch Karin Mauritz, Leiterin der Abteilung Ernährungsberatung am Immanuel Krankenhaus Berlin. «Es gibt nicht so viel Forschung speziell zum Abendessen, doch es gibt Erfahrungen, die sich bewährt haben.»
Sie empfiehlt den Patienten, am Abend auf leichtverdauliche Speisen zu achten: gegarte Gemüsegerichte, Suppen, Backofengemüse, Oliven, Avocado, nur kleine Mengen Milchprodukte, z.B. eine kleine Portion geriebenen Hartkäse auf einem überbackenen, mit Gemüseaufstrich bestrichenen feinkrumigen Brot, alles in kleinen Portionen. Wichtig seien kaltgepresste Öle dazu, gerne 1 bis 3 EL pro Portion, z.B. Lein- oder Walnussöl und zum leicht erhitzen Oliven- oder Rapsöl. Was den Verzehr von Salat angeht, «so raten wir nicht grundsätzlich zum Verzicht, sondern empfehlen, dies auf die eigene Bekömmlichkeit abzustimmen». Empfehlenswert seien auch Nüsse oder Ölsaaten leicht geröstet über einer kleinen Menge Obstsalat oder warmem Getreidebrei, «auch aus geschmacklichen Gründen».
«Eine der wichtigsten Grundregeln in der ayurvedischen Ernährungslehre ist ein warmes, frisch gekochtes Abendessen», sagt Ernährungsberaterin Silvia Niederberger, Mitglied im Verband Schweizer Ayurveda-Mediziner und -Therapeuten (VSAMT). «Abends ist das Kapha-Dosha mit seinen kalten und schweren Eigenschaften vorherrschend. Das Verdauungsfeuer Agni brennt dementsprechend schwach», erklärt sie. Ein leichtes Abendessen könne aus gekochtem Gemüse und Getreide oder Kartoffeln bestehen. «Auch leichte Hülsenfrüchte wie zum Beispiel die halbierten Mungbohnen können ein gute Ergänzung sein. Eine würzige Randensuppe (Rote Bete) erdet und beruhigt den Geist. Wer einen guten Appetit hat, isst noch Brot dazu. Ein ayurvedischer Klassiker ist das Kitchari, ein Reis-Linsen-Gemüseeintopf. Es ist sehr schnell zubereitet und äusserst bekömmlich. Ofengerichte sind ebenfalls praktisch. Knusprige Ofenkartoffeln mit Sesam zu einem marinierten Kürbis nähren auf allen Ebenen. Das Wichtigste sind hochwertige, natürliche Zutaten, die frisch und mit Liebe zubereitet werden. Ein solches Abendessen belebt Körper und Geist und ist die perfekte Antwort auf einen anstrengenden Tag», so Niederberger.
Die ideale Abendessenszeit gemäss Ayurveda liegt zwischen 18 und 19 Uhr.
«Ganz allgemein gesagt, sollte das Abendessen aus Sicht der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) die leichteste Mahlzeit am Tag sein, da besteht erst mal kein grosser Unterschied zur klassischen Ernährungslehre», erklärt Naturheilpraktikerin Bettina Basile, Mitglied des TCM-Fachverbandes Schweiz. Eine grosse Rolle indes spielt die Thermik. Die TCM unterscheidet zwischen heiss – warm – neutral – erfrischend/kühlend – kalt, was die Wirkung bestimmter Nahrungsmittel auf den Organismus angeht. «Ideal am Abend ist es, sich neutral bis erfrischend zu ernähren und so den Körper in den Yin-Zustand für erholsamen Schlaf zu bringen» (Yang ist dem Tag zugeordnet). Werde zu viel Wärmendes verzehrt, könne es zu Schlafstörungen kommen.
«Ganz wichtig ist der Zeitpunkt des Abendessens, am besten vier Stunden vor dem Schlafengehen», so Basile. Denn auch die Verdauung sei eine Yang-Phase. Werde unmittelbar vorm Zubettgehen gegessen, wisse der Körper nicht, ob er nun schlafen oder verdauen soll. Einen dauerhaften Verzicht aufs Abendessen hält Bettina Basile nicht für geboten. «Phasenweise ist es okay, doch besser ist es, einfach generell wenig zu essen am Abend. Der Körper soll nicht leerlaufen, er benötigt auch Kraft zur nächtlichen Regeneration.»
Wohltuend ist reichlich Gemüse, «das sollte den Hauptanteil am Abendessen ausmachen». Aus TCM-Sicht empfehle es sich, lieber gekocht zu speisen. Also keine grosse Portion Rohkost, sondern gedämpftes, gekochtes, gegrilltes oder gebackenes Gemüse. Jegliches bereits zubereitetes Gemüse eigne sich auch gut als eine Art Salat, «dazu kann man Samen, Keime oder Sprossen geben, das ist mineralstoffhaltig und gut für die Körpersäfte», so Basile. Fisch oder Fleisch könne es gelegentlich geben, von der Menge her besser weniger als ein Drittel der Gesamtportion. Ab und an seien auch Kohlenhydrate in Ordnung, z.B. Hirse, Gerste oder Buchweizen, «aber sicher kein riesiger Pastateller».
Zur kalten Jahreszeit hin ist auch mal ein Eintopf gut, gerne mit Hülsenfrüchten. Zum Würzen sollte man von Frühling bis Herbst auf frische Kräuter zurückgreifen. «Gewürze wie z.B. Chili sind eher für den Winter empfohlen, im Sommer wirken sie zu erhitzend», erklärt die Ostschweizer Naturheilpraktikerin.
Wie sieht es mit Milchprodukten zum Nachtessen aus? «In Form von Schafs- oder Ziegenkäse ist das ein- bis zweimal pro Woche in Ordnung.» Und was ist mit der Lust auf Süsses am Abend? «Wer ausgewogen gegessen hat, bekommt erst gar kein Verlangen.» Wen dennoch ein «Schmacht» packt, kann Früchte in Form von Kompott verzehren (ohne Zucker!) oder allenfalls getrocknete Früchte oder Nüsse naschen. «Aber nur zwei bis drei, nicht die ganze Packung.»
Besonders wichtig aus Sicht der TCM sei, «wirklich nur das zu essen, was saisonal bei uns wächst», betont Bettina Basile, «das kann auch Lagergemüse sein».
Leicht verdaulich, gerne warm, nicht zu spät: Das «richtige», im Sinne von: dem Körper dienliche Abendessen ist kein Geheimrezept, aber für viele vermutlich eine Umstellung. Die einen sind seit Kindheitstagen daran gewöhnt, zum «Znacht» ein Plättli mit Brot, Käse und Wurst vor sich stehen zu haben, die anderen kommen berufsbedingt mit der Familie erst am Abend zur eigentlichen Hauptmahlzeit. Letzteres ist aus Sicht des Gastroenterologen Dr. Daniel Pohl kein Grund, sich Sorgen zu machen: «Es gibt keine wissenschaftlichen Beweise dafür, dass die zelluläre Regeneration weniger gut funktioniert, wenn man am Abend reichlich isst.»
Wenn man allerdings durch allzu reichliches Nachtessen schlecht schläft, hat das sehr wohl negative Auswirkungen – mental, muskulär und auch zellulär, denn guter Schlaf ist essenziell für die Reparaturmechanismen unseres Organismus. Der Körper produziert im Tiefschlaf die meisten Proteine und auch den grössten Teil der täglichen Menge an Wachstumshormonen. Diese aktivieren unter anderem auch die Bildung spezieller Immunzellen.
Die dritte Variante nennt sich 1: 1 (in Österreich auch 10in2 genannt). Das heisst: Man fastet 24 Stunden lang mit 500 Kilokalorien für Frauen und 600 für Männer und isst am folgenden Tag normal – und dies im Wechsel. Zu dieser Art des Fastens ist seit 2016 eine umfassende Studie im Gang, deren Ergebnisse noch 2018 veröffentlicht werden sollen. Die Studie „InterFAST“ entsteht in Zusammenarbeit von Prof. Frank Madeo von der Karl-Franzens-Universität und Prof. Dr. med. Thomas Pieper von der Medizinischen Universität Graz.
Jeden zweiten Tag aufs Essen zu verzichten, kostet vermutlich die grösste Überwindung und wird nicht leicht auf Dauer durchzuhalten sein.
Prinzipiell sollte man sich an das gewählte Ernährungskonzept halten – besonders in der Anfangszeit. Fanatisch muss man aber nicht sein. Ausnahmen, welche das soziale Miteinander und die Lebensfreude fördern, sind hin und wieder gestattet. Mit anderen Worten: Ist man in einer eigentlich dem Fasten vorbehaltenen Zeit zum Brunch oder Abendessen eingeladen, muss man nicht unbedingt absagen.