Wie macht man aus einem Frosch einen Prinzen? Kinder (und Erwachsene) haben unbegrenzte Fähigkeiten, kreativ zu sein und zu denken – wenn man sie nur lässt.
Laut Kreativitätsforscher Professor Dr. Rainer Holm-Hadulla hängen Lebensglück und Erfolg weitgehend von der Fähigkeit ab, kreativ zu denken. Im Gespräch mit uns erklärt der Forscher und Arzt für Psychosomatische Medizin, wie man das kreative Denken bei Kindern fördern kann.
Autorin: Petra Gutmann
Langeweile, Stumpfsinn, Aggressivität, sinnlose Hektik – diese weit verbreiteten «Markenzeichen» der modernen Gesellschaft sind laut Prof. Holm-Hadulla vor allem ein Zeichen mangelnder Kreativität.
«Das Leben ist eine Gestaltungsaufgabe», sagt der in Heidelberg tätige Forscher, Arzt und Psychotherapeut. «Der Mensch muss sich den Schwierigkeiten des Lebens kreativ entgegenstellen. Ohne eigene kreative Anstrengung bleibt das Dasein farb- und bedeutungslos.»
Die Ansicht, dass Kreativität kein schöner Luxus, sondern eine Notwendigkeit ist, bestätigen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen. Sie attestieren kreativ denkenden Menschen bestimmte glücks- und erfolgsfördernde Eigenschaften, zum Beispiel, dass sie konstruktiver mit anderen Menschen umgehen, herausfordernde Situationen und Schicksalsschläge leichter bewältigen und vor psychischen Erkrankungen besser geschützt sind. Sie leiden seltener unter Langeweile, denn ihr Leben ist reich an neuen Entdeckungen und Erkenntnissen. Auch gegen Alterssenilität sollen kreative Denker besser gewappnet sein, weil sich die Neuronenverbände im kreativen Gehirn bis ans Lebensende ständig neu formieren.
Gesellschaftlich können kreative Köpfe ebenfalls viel bewirken: Ihre Fähigkeit, Bestehendes zu hinterfragen, aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und mit neuen Erkenntnissen zu verknüpfen, bringt neue Lösungsansätze in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik hervor. Es erstaunt daher nicht, dass der US-amerikanische Kreativitätsforscher Richard Flora schreibt: «Kreative Menschen sind für moderne Unternehmen von gleicher Bedeutung wie früher der Zugang zu Kohle und Eisen für die Stahlproduktion.»
Doch wie werden aus Kindern einfallsreich denkende Erwachsene? Was können Eltern tun, um das kreative Denkvermögen ihrer Sprösslinge zu fördern? Dem dreijährigen Sven einen Computer kaufen, die vierjährige Angelina in den Klavierunterricht schicken und der fünfjährigen Nadine Chinesisch beibringen?
«Der Versuch, Genies zu züchten, ist der falsche Weg», ist Rainer Holm-Hadulla überzeugt. «Man weiss nicht, wie man das machen soll und was genau dabei herauskommt.»
Dennoch sei es wichtig, das kreative Denken bereits in den ersten Lebensjahren gezielt zu fördern. Denn zwischen dem ersten und dem zwölften Altersjahr würden wichtige Weichen für das Kreativitätsverhalten gestellt.
Beobachtungen zeigen beispielsweise, dass Säuglinge bereits im Alter von drei Monaten den Blick der Mutter und ihr Mienenspiel verstehen. «Der Säugling sucht nach Zuwendung», erklärt Prof. Holm-Hadulla. «Entdeckt er im Gesicht der Mutter Liebe und Inte-resse, stärkt das sein Neugierde- und Entdeckerverhalten. So entsteht in seinem Gehirn das erste, zarte Fundament für Kreativität.»
Überhaupt sei das Gefühlsklima in der Familie wichtiger als das «Antrainieren» bestimmter Fertigkeiten in frühen Kindheitsjahren, unterstreicht Rainer Holm-Hadulla. Dies auch deshalb, weil ein wohlwollendes Familienklima die Frustrationstoleranz steigere, also die Fähigkeit, aus Widrigkeiten positive Impulse zu gewinnen und bei Enttäuschungen durchzuhalten – eine wichtige Eigenschaft für erfolgreiches kreatives Denken.
Kinder können nur kreativ denken lernen, wenn ihre engsten Bezugspersonen Geduld und Einfühlungsvermögen beweisen. Mit letzterem hapere es nicht selten, hat Rainer Holm-Hadulla beobachtet: «Viele Eltern konfrontieren ihre Kinder zu früh mit rationalen Überlegungen. Es hat beispielsweise keinen Sinn, einem Zweijährigen lang und breit zu erklären, warum er nicht auf die Strasse laufen soll. Auf ein so kleines Kind sollte man einfach gut aufpassen und das Erklären für später aufheben.»
Einfühlungsvermögen bedeute auch, dass man seinen Kindern viel inneren Freiraum lasse. «Statt ein Kind pausenlos auf Trab zu halten oder in freien Minuten vor den Fernseher zu setzen, sollte man es viel über seine Eindrücke nachsinnen lassen», rät Holm-Hadulla. So sei es beispielsweise keine «verlorene Zeit», wenn ein Kind eine halbe Stunde lang zum Fenster hinaus in den Himmel schaue. Solche «Auszeiten» würden dem Kind helfen, ein Gespür für eigene Ideen zu entwickeln.
Was nicht bedeutet, dass man Kinder in einem Elfenbeinturm aufziehen sollte. Rainer Holm-Hadulla: «Das kreative Denkvermögen profitiert von einer Umgebung, die reich an unterschiedlichen Reizen und Erlebnismöglichkeiten ist. Genau so wichtig sind Ruhepausen, um das Erlebte zu verdauen und mit den bereits vorhandenen Eindrücken zu verknüpfen.»
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Auf dem Weg zum kreativen Denken lauern auch einige Bremsen, beispielsweise elterliche Vorurteile. Ein Beispiel: Freudig erzählt der sechsjährige Marc beim Frühstück, dass er in der Nacht mit seinem Teddybär über das Dorf geflogen und auf einer Wiese gelandet sei, wo er zusammen mit anderen Kindern und deren Teddybären ein grosses Fest gefeiert habe.
Die Reaktion von Marcs Papa: «Träume sind Schäume, mein Junge. Du solltest nicht über solchen Unsinn nachdenken.» Ende der Unterhaltung.
«Eine solche Reaktion ist schade», findet Rainer Holm-Hadulla. «Es ist wichtig, Kinder zu ermutigen, auch über ihre Träume frei nachzudenken. Träume sind wunderschöne kreative Gebilde. Sie können das Leben bereichern, unter anderem weil sie Unbewusstes bewusst machen.»
Fazit: Wer kreativ denkende Kinder will, muss selbst offen bleiben und ein Leben lang dazulernen. In diesem Sinne sei es auch hilfreich, meint Rainer Holm-Hadulla, seinen Kindern früh die Einstellung zu vermitteln, dass andersartige Menschen keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung seien und dass man sich über die kreativen Leistungen anderer freuen solle: «Der in unserer Gesellschaft weit verbreitete Neid ist eine starke Kreativitätsbremse. Viele Kinder unterdrücken ihre Kreativität, weil sie sich vor dem Neid der anderen fürchten.»
Wenn es ums kreative Denken geht, kommt das Gespräch früher oder später auf Fernseher und Computer. Bill Gates antwortete auf die Frage, ob er seinen Kindern Computer gebe: «Ich verweigere ihnen diese nicht. Aber vorher sollen sie viele gute Bücher lesen.»
Das empfehlen auch Kreativitätsforscher wie Rainer Holm-Hadulla. Denn: «Fernseher und Computer lassen Kindern zu wenig Raum. Sie füttern das Gehirn mit einer Flut von Geräuschen, Tönen und Bildern. Das Gehirn versucht, sich zu wehren, und stellt auf Apathie oder Selbstlähmung.» Auf diese Weise zerstörten häufiges Computerspielen und Internetsurfen kreative Prozesse.
Anders sei dies beim Lesen und Schreiben, so Rainer Holm-Hadulla: «Das lesende und schreibende Kind muss kreativ denken, um aus den schwarzen Zeichen eine innere Welt zu komponieren.»
Null Fernseher und Computer – das ist in den meisten Familien eine illusionäre Zielsetzung. Wie können Eltern den Medienkonsum dennoch angemessen dosieren? Rainer Holm-Hadulla empfiehlt folgende Lösung: «Unterbinden Sie nach Möglichkeit das freie Herumzappen und das ‹Entspannen› vor dem Fernseher. Stellen Sie für sich und die Kinder ein festes Fernsehprogramm zusammen. Es sollte Sendungen enthalten, die geistig wertvoll sind und das kreative Denken fördern, bespielsweise spannende Tierfilme, Dokumentationen über fremde Länder und anregende Diskussionen.»