Ein Gute-Nacht-Kuss und der Wunsch «Träum’ was Schönes» gehören in vielen Familien zum Ritual, wenn ein Kind abends schlafen geht. Doch gut 40 Prozent der Kinder zwischen sechs und elf Jahren bzw. 90 Prozent zwischen 10 und 16 Jahren haben ab und zu Albträume, die sie aus dem Schlaf schrecken lassen. Solche Träume beeinträchtigen den gesamten Tagesablauf des Kindes und darüber hinaus die Stimmung in der Familie.
Samira ist fünf Jahre alt, ihre Eltern leben getrennt. Sie wacht nachts laut weinend auf und ruft nach ihrer Mutter, weil sie schlecht geträumt hat. In ihrem Traum war sie mit vielen anderen im Swimmingpool ihres Vaters gewesen. Unter Wasser war ein Ungeheuer mit «tausend Armen», das jedoch nur sie die ganze Zeit zu packen versuchte, und es war ein sehr langes und sehr beängstigendes Hin und Her. Am Ende kommt ein grosser Bär in das Schwimmbad. Samira schwimmt schnell zu ihm und wird von ihm auf den Arm genommen. «Dann war alles gut», beendet Samira ihre Traumerzählung.
Autorin: Heidi Sonja Ross, 11.02
Es gibt Neurobiologen, die behaupten, Träume seien nichts anderes als Nebengeräusche des Gehirns, zufälliges Flackern von Nervenimpulsen. Die weitaus meisten Wissenschaftler meinen aber, Träume helfen, die Stimmung zu regulieren, Stress zu bewältigen, Sinn zu finden und unser Selbst zu stabilisieren.
Nach C. G. Jung sind nächtliche Träume Ausdruck des Unbewussten, und so scheint die Bedeutung von Samiras Traum augenfällig. Sie fühlt sich bei ihrem Vater nicht sicher, dieTrennung der Eltern scheint sie noch nicht verwunden zu haben. Diese Erkenntnis kann und sollte Thema einer Besprechung zwischen den Erwachsenen sein. Aber was hilft nach einer solchen Nacht dem Kind?
Die Antwort klingt nicht nur simpel, sondern ist es auch: Dem Kind hilft es, seinen Traum einem offenen und liebevollen Zuhörer zu erzählen. Beim Erzählen macht das Kind einen Schritt aus seinem Traum heraus und kann ihn so mit angemessenem Abstand betrachten. Ein Alptraum, der nicht erzählt wird, kann – genauso, wie ein schlechtes Erlebnis, das für sich behalten wird – in einem Kind das Gefühl von Allein- und Verlassensein wachsen lassen.
Wie Mythen, Sagen und Märchen sind auch Träume wichtige Aspekte der Seelenhygiene. Das Träumen und das Erinnern der Träume leis-tet einen grossen Beitrag zur psychischen Verarbeitung, nicht nur bei Kindern. Um mit Hildegard von Bingen zu sprechen, geht es darum, «die dunklen Wasser» abfliessen zu lassen, um Raum für Zufriedenheit und Wachstum zu schaffen. Traummitteilungen – vor allem von Kindern – sollten nicht sofort durch das Sieb des Verstands geschleust und gedeutet bzw. nach dem tieferen Sinn gesucht werden. Sonst könnte es passieren, dass die Traumberichte vor dem Tageslicht und der verstandesmässigen Nachforschung fliehen wie die emsigen Heinzelmännchen, die nur nachts Ordnung in das Durcheinander der Menschen bringen konnten.
Leider ist es in unserer Gesellschaft bisher kaum üblich, mit seelischen Schwierigkeiten offen nach aussen zu treten und sich womöglich Hilfe zu holen. Viele Menschen müssen erst körperlich krank werden, bis sie beginnen, sich bewusst mit ihrer seelischen Energie auseinander zu setzen. Kinder können das leicht und früh erproben, indem sie ihre Träume erzählen und mit ihnen umzugehen lernen.
Kinder haben eine natürliche Freude am Erzählen und am Zuhören, und so kann der Zeitpunkt für ein Traumgespräch beliebig gewählt werden. Es bietet sich an, z.B. morgens beim Frühstück mit der versammelten Familie alle nach ihren Träumen zu fragen. Beim malayischen Inselvolk Senoi sind solche Traumrunden z.B. üblich. Dort wird das Verhalten des Kindes im Traum wohlwollend besprochen, und es erhält Tipps, wie es sich beim nächsten Mal in einer solchen Situation verhalten könnte. Kinder werden ermutigt, sowohl «gute» als auch «schlechte» Gefühle auszuhalten. Durch derlei Traumgespräche verstärkt sich das Verhältnis von Erwachsenen zu Kindern, aber auch der Kinder untereinander. Denn unter dem Deckmantel des Träumens kann mit Ängsten und Differenzen offener und leichter umgegangen werden als es sonst vielleicht üblich ist. Und selbst wenn ein Kind sich über den Traum eines anderen mokieren sollte, so sorgt schon die Bemerkung «das hat sie geträumt, da kann sie doch nichts dafür» für Frieden in der Runde.
Zu beachten ist bei diesen Traumrunden zunächst nicht wirklich viel; jeder kann ohne weiteres mit Kindern deren Träume besprechen. Das Wichtigste ist, neugierig, spielerisch und vorurteilsfrei an die Erzählungen der Kinder heranzugehen. Eher Fragen zu stellen als zu bewerten und zu deuten, das Kind in seinen positiven Verhaltensweisen zu bestärken. Das kann manchmal schwierig sein, so könnte sich Samiras Vater durch den Traum der Tochter abgelehnt und gekränkt fühlen. Er könnte aber auch dankbar diese wichtige Information, die im Alltag sonst nicht so ohne weiteres zu Tage tritt, annehmen, und nachfragen, wie Samira sich gefühlt hat, was sie sich in der Situation gewünscht hat. Und er könnte sie dafür loben, dass sie sich so wacker gehalten hat und letztlich das getan, was für sie gut war: Nämlich zu dem Bären zu schwimmen.
Eltern haben häufig Angst, durch die Traumerzählungen der Kinder entlarvt oder belastet zu werden. Wer aber offen an diese Erzählungen herangeht, wird feststellen, dass die Anteilnahme an der Traumwelt eines anderen eine ungemeine Bereicherung darstellt. Auch der Zugang und das Vertrauensverhältnis zum Kind intensiviert sich ungemein. Wie häufig hat man schon die Gelegenheit, so offen und direkt derart Persönliches miteinander zu bereden? Es wird da etwas geteilt, was sonst jeder nur für sich behält oder behalten muss. Und die Kinder wiederum fühlen das Interesse an ihnen, was ihren Selbstwert ungemein erhöht.
Die Pädagogin und Autorin Gertrud Ennulat weiss aus ihrer Erfahrung als Lehrerin nur zu genau, wie schwer es für Kinder oft ist, morgens in der Schule die nötige Aufmerksamkeit aufzubringen. «Der nächtliche Traum wirkt oft lange nach», so die Pädagogin, «und so lange diese Energie nicht positiv umgewandelt wird, hängt das Kind ihm mit seiner Aufmerksamkeit nach und kann sich nicht auf anderes konzentrieren».
So begann die mittlerweile 61-jährige in ihrer Grundschulklasse so genannte Traumstunden einzuführen, in denen jedes Kind von seinem nächtlichen Träumen erzählen konnte. Das Ergebnis war eine kaum zu beschreibende Befreiung der Kinder: Viele scheinen zu glauben, dass nur sie träumen und dass womöglich nur die eigenen Träume nicht «okay» seien und dass deshalb mit ihnen selbst etwas nicht stimme. Das Reden in der Gruppe und die damit verbundene Feststellung: «Die träumen ja auch! Und womöglich gar nicht weniger komisches Zeugs als ich!» führt dazu, dass die Kinder sich wieder in Ordnung finden können und damit ihre reale Belastung, die ja oft im Traum «nur» ihren Ausdruck findet, stark abnimmt. Oft sorgt schon die schlichte Feststellung «Auch solche Träume gibt es» seitens eines Erwachsenen für Beruhigung bei dem Kind.
Wer fürchtet, Kinder wären sprachlich nicht in der Lage, ihre Träume in Wort zu fassen, wird selbst bei jüngeren Kindern eine positive Überraschung erleben, denn das Gegenteil ist der Fall: Die Sprach- und Ausdrucksfähigkeit von Kindern entwickelt sich ausnehmend kreativ, nicht zuletzt, weil es immer wieder gilt, Ungewöhnliches aus dem Traumgeschehen in Worte zu fassen. «Spiel und Traum dienen im starken Mass dem Werdeprozess des Kindes», so Gertrud Ennulat. Wie Märchen entspringen auch Träume der sogenannten Bilderschicht des Bewusstseins, zu der Kinder ein wesentlich ungebrocheneres Verhältnis haben als Erwachsene. Es ist zu beobachten, wie die Ausdrucksfähigkeit und das kreative Sprachvermögen der Kinder, die ihre Träume regelmässig erzählen, stark zunimmt, was sich letztlich auch positiv auf die Gestaltung von Schulaufsätzen auswirkt.
Sollte es doch mal vorkommen, dass ein Traum so schwer war, dass ein Kind nicht die passenden Worte zu finden vermag, kann man das Kind seinen Traum auch erst mal malen lassen. Dabei lösen sich zumeist die Barrieren. Wichtig ist, auch solche Barrieren zu respektieren und seine Neugier nicht zu verlieren. Wenn das Kind heute nicht erzählen mag, dann vielleicht ja morgen wieder.
Dennoch gibt es vermutlich Situationen, in denen man mit dem Erzählen des Traumes nicht mehr weiter kommt. So zum Beispiel, wenn nicht nur die Nächte, sondern auch noch der Alltag des Kindes und der Familie sehr leidet, wenn es sich andeutet, dass das Kind sehr tiefliegende Schwierigkeiten hat. Insbesondere bei Kindern können seelische Prozesse auch sehr lange dauern: So hatte Samira ihren Traum, als ihre Eltern bereits über zwei Jahre voneinander getrennt lebten. Und das kann für die Eltern oft schwerer zu tragen sein als für die Kinder, denn Kinder sind zumeist «nur» die Träger eines Symptoms, in den seltensten Fällen aber die Ursache selbst. In schweren Fällen sollte die Familie professionelle Hilfe suchen; das können (Schul-)Psychologen oder Psychotherapeuten sein, aber auch erfahrene Pädagogen.
Oft ist die Ursache für schlechtes, bedrückendes Träumen auch in übermässigem Konsum von Fernsehen und Computerspielen zu finden. Das Kernproblem beider Medien für Kinder ist, dass sie weder von einem Computerspiel noch von einem Fernsehfilm echte Reaktionen auf ihr Verhalten bekommen. Temporeiche Wechsel müssen geleistet werden, und so bleibt keine Zeit für Emotionen, da im PC-Spiel das Aussen meist schnell bedient werden muss. Es entsteht eine emotionale Verkümmerung, da ein Bildschirm kein Echo gibt.
Das erklärt z.B. auch, warum Kinder nach dem Konsum wesentlich aggressiver agieren als vorher, sie Konflikte nahezu zu suchen scheinen: Durch die einsame Zeit am PC oder Fernseher lädt sich in ihnen eine Spannung auf, die Entladung braucht. Kinder wollen dann nichts anderes als eine Reaktion provozieren.
Was kann man also tun, um schweren Träumen vorzubeugen? Wo Erwachsene sich oft nach Neuem und nach Abwechslung sehnen, brauchen Kinder Vertrautes und Einschätzbares: Regelmässige Mahlzeiten, feste Bettzeiten, Rituale. Ein sehr hilfreiches Ritual kann besagte Traumrunde sein, in der Tipps und Tricks für den Umgang mit schwierigen Situationen in Träumen gegeben werden. Möglichst geringer Computer- und Fernseh-Konsum gehört ebenso zu den wichtigen Massnahmen zur Vorbeugung von bedrückenden Träumen.
Wem ein Kind seinen Traum erzählt, dem schenkt es Vertrauen und Zugang zu einem Teil seines Wesens, der sonst im Verborgenen liegt. «Wer ein Kind in seine Traumwelt begleiten darf, erfährt Nähe und Vertrauen für das Eigene und das so Andere des kindlichen Gegenübers», so Gertrud Ennulat. «Du, ich will dir meinen Traum erzählen», sagt das Kind. Die Antwort des Erwachsenen darauf kann nur heissen: «Und ich will dir gerne zuhören!»