Streit unter Geschwistern ist in den meisten Familien an der Tagesordnung und gehört zur Entwicklung der Kinder. Allzu häufige Auseinandersetzungen können jedoch für das Familienleben zur Belastung werden. Wie können Eltern darauf reagieren?
Wenn sich die vier Kinder von Carmen Rütsche aus Eschlikon streiten, fällt es der Mutter manchmal schwer, sich herauszuhalten. Oft geht es bei den Streitereien um Eifersucht und Machtkämpfe unter den Geschwistern im Alter von einem, dreieinhalb, fünfeinhalb und sieben Jahren. «Mein Ziel ist es, dass die Kinder wenn immer möglich selbst eine Lösung für ihren Konflikt finden. Das ist für mich nicht immer einfach, denn oft kocht es auch in mir. Gleichzeitig bedeutet es für mich aber auch eine Entlastung, wenn ich mich heraushalten kann», sagt Carmen Rütsche.
Autor: Fabrice Müller
Hänseleien und Streit zwischen Geschwistern, dicke Luft und Rempeleien im Kinderzimmer – es gibt wohl kaum eine Familie, die solche Szenen nicht kennt. Die Familie ist der erste Platz im Leben, an dem Kinder lernen, mit anderen Menschen umzugehen und mit ihnen auszukommen.
Sie können im Streit miteinander viel erfahren: die eigenen Bedürfnisse durchzusetzen und sich abzugrenzen, aber auch, die Wünsche anderer zu respektieren, mit Niederlagen klar zu kommen und Kompromisse zu schliessen. Sie erleben, wie man einander verzeiht, sich entschuldigt und versöhnt.
Je geringer der Altersunterschied von Geschwistern, desto heftiger wird in der Regel gezankt. Der eine setzt körperliche Macht ein, der andere seine sprachliche Überlegenheit, List oder Hinterhältigkeit.
Geschwistergewalt ist laut Ron Halbright vom «National Coalition Building Institute» (NCBI) Schweiz, das ein Projekt zum Thema «Bis jemand weint …» entwickelt hat, eine häufige Form häuslicher Gewalt. Wegen einer Tabuisierung bzw. mangelnder gesellschaftlicher Akzeptanz wurde sie jedoch bisher kaum untersucht. «Eskalierende Geschwisterstreitigkeiten werden häufig bagatellisiert oder nicht ernst genug genommen. Kinder leiden manchmal täglich über mehrere Jahre darunter, denken jedoch, dass es normal ist, von älteren Geschwistern gequält zu werden. Betroffene Kinder und Eltern haben Hemmungen, in solchen Fällen Hilfe zu holen, da sie nicht zugeben möchten, überfordert zu sein.»
Ob Kleinkind oder Teenager, die Streitlust zwischen Geschwistern ist in der Regel keine Frage des Alters. Wird der Streit jedoch zum Dauerzustand, kann er für die ganze Familie zur Belastung werden, wie Susanna Vogel-Engeli, Beraterin für Eltern sowie Erwachsenenbildnerin in Dussnang, erklärt.
«Es zerrt an den Nerven und nimmt einem die Kraft, wenn man als Eltern den ständigen Streit der Kinder aushalten muss. Darunter können das Familienleben und auch die Partnerschaft leiden.» Männer und Frauen nehmen den Streit unter Geschwistern offenbar unterschiedlich wahr, vor allem, wenn sich der Streit von der verbalen auf die körperliche Ebene verlagert und in einer Keilerei endet. «Männer kommen damit meist besser klar, da sie den Streit mit ihren eigenen Kindheitserinnerungen verknüpfen. Frauen hingegen reagieren in solchen Situationen meist empfindlicher», stellt Susanna Vogel-Engeli fest.
Nimmt der Streit zwischen Geschwistern ein Ausmass an, das für alle Familienmitglieder zu einer Belastung wird, macht sich bei vielen Eltern Rat- und Hilflosigkeit breit. Verstärkt wird dieses Gefühl durch Reaktionen ausserhalb der Familie, beispielsweise von der Schule, wenn die Kinder durch auffälliges bzw. aggressives Verhalten aus dem Rahmen fallen.
Familienberatungsstellen und andere Fachpersonen bieten betroffenen Familien Unterstützung. In persönlichen Gesprächen mit Erziehungsberaterinnen und -beratern etwa setzen sich die Eltern intensiv mit Fragen zur Streitkultur und zum Familienleben auseinander. Andere tauschen sich zum Beispiel im Rahmen von Elternkursen mit anderen Vätern und Müttern in einem geschützten Rahmen aus und erhalten wertvolle Impulse. So erfahren die Eltern zum Beispiel mehr über die Ursachen von Streitereien zwischen Geschwistern und welche Rolle Vater und Mutter dabei spielen.
«Die Ursache von Streit zwischen Geschwistern ist eng mit der Streitkultur innerhalb der Familie verbunden», betont Susanna Vogel-Engeli. Wenn die Eltern selbst eine offene, konstruktive Streitkultur pflegen, bedeute dies für die Kinder eine Entlastung. Wird hingegen vieles totgeschwiegen oder indirekt ausgedrückt, reagieren manche Kinder beispielsweise über den Streit darauf.
«Sie machen unbewusst auf diesen für sie unerträglichen Zustand aufmerksam, weil sie ohnmächtig sind und oft nur über den Streit diesem Unmut Ausdruck geben können», erklärt die Elternberaterin. Deshalb sei es umso wichtiger, dass die Eltern in der Familie eine Vorbildfunktion übernehmen, auch wenn es ums Streiten geht.
Ein weiterer Grund für die Streitlust bei Kindern ist der Wunsch nach mehr Aufmerksamkeit. Wenn ein Kind die Aufmerksamkeit und Liebe der Eltern mit einem anderen Geschwister teilen muss, ist meist Eifersucht mit im Spiel. «Ist der Altersunterschied zwischen den Kindern sehr klein, fehlte dem älteren Geschwister womöglich die Zeit, genügend Zeit mit seinen Eltern alleine zu verbringen und die nötige Aufmerksamkeit zu erlangen», so Susanna Vogel-Engeli.
Kinder streiten sich offenbar auch, weil sie sich nach Anerkennung und Sicherheiten sehnen. Wenn Eltern immer wieder bestätigen: «Du bist genau richtig, so wie du bist», nährt es das Vertrauen und den Selbstwert und es entspannt auch die Beziehung unter den Geschwistern.
Kinder, die über ein geringes Selbstwertgefühl verfügen, neigen dazu, sich über den Streit in Szene zu setzen und Aufmerksamkeit zu erregen. Sie fühlen sich laut Susanna Vogel-Engeli eher angegriffen, weil sie mit sich selbst nicht im Reinen sind.
Manchmal ist auch Langeweile die Ursache für Streitereien. Gerade am Wochenende, wenn mehr Zeit und weniger Verpflichtungen da sind, geraten sich Kinder besonders häufig in die Haare. Hier können Eltern dafür sorgen, dass die Streithähne nicht immer zusammen sind. Einzelaktivitäten und Verabredungen mit Freunden sowie Hobbys entschärfen die Wochenendproblematik.
Auch überspitzte Erwartungen der Eltern an die älteren Geschwister können Ursache für Unstimmigkeiten sein. «Das schürt den Geschwisterstreit, denn das ältere Kind hat oft sozusagen die Zwei auf dem Rücken, indem es dem jüngeren Geschwister den Vorrang geben muss», berichtet Susanna Vogel-Engeli und schlägt vor, etwa beim Essen schöpfen oder mit der Hilfe beim Anziehen mit dem ältesten Kind zu beginnen. «Kleine Kinder können durchaus warten lernen. Für das ältere Kind bedeutet dies eine Stärkung seiner Position. Und die Eltern können dieses Verfahren ohne grosse Diskus-sionen zur Regel werden lassen.» Klare Regeln, in denen festgelegt ist, welche Rechte und Pflichten jedes Kind hat, helfen, Streit und Eifersucht zu vermeiden.
Gerecht behandeln bedeutet jedoch nicht, alle gleich zu behandeln. Es dürfen je nach Alter schon Unterschiede bestehen. Der Achtjährige darf abends länger aufbleiben als seine fünfjährige Schwester. Er hat allerdings auch schon andere Aufgaben zu erledigen.
Streit zwischen Geschwistern ist jedoch nicht per se schlecht. Streit bedeutet Reibung, und Reibung erzeugt Wärme. «Streit in einem gewissen Rahmen ist durchaus wertvoll für die Entwicklung des Kindes. Schliesslich wird es später mit anderen Menschen ebenfalls Streitsituationen erleben», gibt Susanna Vogel-Engeli zu bedenken.
Wird der Streit von den Eltern bewusst unterdrückt bzw. verboten, könne dies zur Folge haben, dass die Kinder später mit ihren Aggressionen nicht adäquat umzugehen wissen und diese falsch dosieren. «Man kann die Streitenergie nicht einfach unterdrücken und wegschliessen. Sonst richten die Kinder die diese gegen sich selbst oder gegen die Eltern», warnt die Elternberaterin. Es sei deshalb besser, sich im Falle eines Streits zwischen Geschwistern nicht sofort einzumischen, sondern später, wenn sich die Gemüter wieder beruhigt haben, beide Parteien zur Lösungsfindung einzubeziehen. In diesem Gespräch kommen beide zu Wort und können ihre Gefühle ausdrücken.
Die Kinder ihrerseits erwarten von den Eltern, so Vogel-Engeli, eine klare Sprache und Einfühlungsvermögen. Kinder brauchen Vorbilder und wollen nicht mit anderen Kindern verglichen werden. «Wer als Eltern gelernt hat, die verbalen und nonverbalen Zeichen der Kinder zu verstehen und zu übersetzen, verfügt über einen wichtigen Schlüssel zu mehr Harmonie und einer guten Beziehung», ist Susanna Vogel-Engeli überzeugt.