Rebalancing, so heisst eine Massage-Therapie, die auf Langsamkeit, Intensität und Tiefenwirkung setzt. Ich habe mich auf der Behandlungsliege ausgestreckt, um Rebalancing für Sie zu testen.
Ein Mietshaus in der zweisprachigen Schweizer Stadt Biel-Bienne. Zwanzig Namen neben den Klingelknöpfen: afrikanische, arabische, serbische, italienische, französische. Unten rechts der Name «Monika Käser», mit gelbem Leuchtstift markiert. So heisst die Therapeutin, die hier Rebalancing praktiziert, eine in der Schweiz und in Deutschland erst wenig bekannte Massage-Therapie. Laut Broschüre des schweizerischen Berufsverbandes ist die Methode getragen von «Akzeptanz, Präsenz und dem Wissen, dass jeder Mensch alles besitzt, was er für seine Heilung braucht».
Autorin: Petra Horat Gutmann , 09.15
Eine trendige Medizinaloase, wie sie derzeit zu Hunderten aus der Wellnesslandschaft spriessen, braucht es dazu offensichtlich nicht. Monika Käsers winzige Praxiswohnung im ersten Stock ist mit schlichten Holzmöbeln ausgestattet. An den Wänden hängen grossformatige Ausdrucke von zerebrospinalem Nervensystem und Lymphbahnen.
In der Ecke steht ein blauer Paravent, über dem drei flauschige Sockenpaare samt zweisprachiger Verkaufsinformation hängen: «Warme Wollsocken zum Überziehen! Des chaussettes chaudes pour réchauffer vos pieds!» Passend zur nonchalanten Ambiance die Therapeutin: Mit orangefarbenem T-Shirt, blauer Jogginghose, grauem Pferdeschwanz und einem herzlichen Lächeln tritt sie mir entgegen. «Hie geits lang», sagt sie in charmantem Bieler Dialekt und führt mich in den Behandlungsraum.
Die meisten Ratsuchenden, die zur Rebalancing-Therapie kommen, leiden unter muskulären Verspannungen, diffusen Rückenschmerzen, Wirbelsäulenbeschwerden oder Gelenkproblemen an Knien, Hüften oder Schultern. Auch Spannungskopfschmerzen, Hallux valgus (Schiefzeh), Nackenprobleme, Stress- und Burnout-Symptome sind häufige Behandlungsgründe.
Da ich lediglich als Testperson hier bin und obendrein frei von den erwähnten Symptomen, reduziert sich das Vorgespräch auf ein Minimum, und Monika Käser geht gleich zum «Körperlesen» über, einer Besonderheit der Rebalancing-Therapie.
Ich stelle mich mitten im Behandlungsraum hin, während die Therapeutin meinen Körperausdruck und die Haltung betrachtet. Nach ein, zwei Minuten stillen Beobachtens sagt die 58-Jährige: «Ihr rechtes Bein scheint mehr Kraft und Schwung als das linke zu besitzen. Nehmen Sie das auch so wahr?» Ja, das tue ich. Gut beobachtet! Tatsächlich ist mein rechtes Bein das chronisch stärkere und energievollere. «Haben Sie bemerkt, dass Ihre linke Schulter etwas höher liegt als die rechte und Ihre Knie beim Stehen fest durchgedrückt sind?», fährt Monika Kaeser fort.
Was die Schulter betrifft, gebe ich ihr Recht. Doch meine Knie – durchgedrückt wie bei einem Zinnsoldaten? Erstaunt schaue ich an meinen Beinen hinunter. «Möchten Sie probieren, wie es sich anfühlt, wenn Sie die Knie beim Stehen ganz leicht anwinkeln? », fragt Monika Käser aufmunternd. Ich folge der Aufforderung und spüre, dass das Nachgeben in den Kniekehlen ein sofortiges Gefühl der Entspannung und Elastizität bewirkt.
Wenige Augenblicke später ruhe ich auf der Behandlungsliege, rechte Körperseite nach oben, und warte gespannt, auf welche Weise mich Monika Käser wohl Richtung «Balance» befördern wird. Was habe ich nicht schon alles erlebt! Unzählige Varianten von Kopf-bis-Fuss-Massagen, in Öl getränkt und trocken gebürstet, kräftig durchgeknetet wie ein Brotteig, mit heissen Steinen und Kräuterstempeln bearbeitet, mit hauchzarten Schmetterlingshänden oder «rein energetisch» behandelt – ich kenne es. Doch nichts dergleichen geschieht hier.
Monika Kaeser reibt ihre Hände mit Jojoba-Rosenöl ein, stellt sich neben die Liege und legt beide Hände auf mein Becken. Ultralangsam beginnt sie, den äusseren Oberschenkelmuskel zu dehnen, indem sie ihre rechte Hand vom Gesäss Richtung Knie schiebt. Erinnerungen an die Urform der Rolfing-Therapie blitzen in meinem Gedächtnis auf, eine Massageform, bei der die therapeutische Hand so stark und ausdauernd auf verspannte Muskeln drückt, bis diese ihren Widerstand aufgeben und erschlaffen. Rebalancing fühlt sich ähnlich intensiv an – mitc dem Unterschied, dass die Hände im Zeitlupentempo über die Muskulatur gleiten. Eine raffinierte Idee, zumal dieses Vorgehen aufflackernde Schmerzsignale fortlaufend abfedert.
Nach einem kurzen Seitenwechsel gleiten Monika Käsers Hände warm und energievoll über meine Flanken. «Rebalancing-Therapeuten arbeiten im Rhythmus des Gewebes», erklärt die Fachfrau. Gemeint ist das Fasziengewebe, jenes Bindegewebe, das jede Muskelfaser vom Kopf bis zu den Fussspitzen umhüllt. Damit liegt Rebalancing ganz auf der Linie der modernen Faszienforschung, welche die Bedeutung des Bindegewebes für die Gesundheit des ganzen Körpers naturwissenschaftlich belegt. Laut Erkenntnissen der Faszienforschung beruhen die meisten unerklärlichen Schmerzsymptome am Bewegungsapparat auf verhärteten oder verklebten Faszien. Werden die Faszien gelöst, können selbst chronische Schmerzsymptome verschwinden, beispielsweise am Rücken.
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Monika Käser hat ihre myofasziale Arbeit inzwischen auf meinen Rücken und die Schultern ausgedehnt. Sie massiert schweigend, von Zeit zu Zeit sagt sie leise «jaaa». Ich begreife, dass sie nicht mit mir, sondern mit meinen Faszien und Muskeln redet, die sich unter ihren Händen zunehmend entspannen.Eine Rebalancing-Sitzung dauert 90 Minuten. Zeit genug, um sich auf die dabei entstehenden Empfindungen einzulassen. Die Intensität und Bedächtigkeit der Massagestriche verlangsamt den Gedankenfluss und lenkt die Aufmerksamkeit ganz ins Hier und Jetzt ...
Autsch! Ein heftiger Schmerz schiesst durch mein Brustbein, als die therapeutische Hand darüberfährt. Chronische Spuren einer zurückliegenden Magenerkrankung. Monika Käser schweigt und ... setzt erneut am Brustbein an! Mein Atem stockt, doch kaum ist die neuralgische Stelle erreicht, zeigt sich: Der Schmerz hat sich verändert, ist sanfter geworden, ich kann ihm standhalten! «Das ist ein wichtiger Punkt beim Rebalancing», erklärt die Therapeutin, die seit über 25 Jahren massiert. «Die Langsamkeit der Massagestriche ermöglicht dem Patienten, Schmerz anders wahrzunehmen und ihn umzuwandeln.»
Die unerwartete Entdeckung gibt mir Auftrieb, ich fühle mich stark! Wie ein zufriedener Riese liege ich auf dem Schragen, getragen von Hunderten Empfindungen der Leichtigkeit, des Wohlgefühls und der Weite. Derweil streicht Monika Kaeser meine Hals- und Nackenmuskeln aus. Noch einige Massagestriche an Knien und Füssen, gefolgt vom Ausstreichen der seitlichen Wirbelsäulenmuskulatur im Sitzen, dann ist die Rebalancing-Behandlung vorbei.
Als mich die Therapeutin wenig später aus der Sitzung entlässt, sagt sie fröhlich: «Denken Sie daran, die Knie immer mal wieder weich zu lassen!» Diesen Tipp werde ich beherzigen – genauso wie einige weitere Erkenntnisse der Rebalancing-Therapie, die mich tatsächlich mit einer subtilen Form der Balance in Kontakt gebracht hat.
Der Grundstein für die Rebalancing-Therapie wurde in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts gelegt, als eine Gruppe internationaler Therapeuten mit einer neuen Massagemethode experimentierte, die Erkenntnisse aus dem sogenannten «Rolfing» und der Psychosomatik verbindet.
Die heutige Form des Rebalancing ist die Frucht einer jahrzehntelangen Entwicklung, die auch Aspekte aus Alexander-Technik, Trager, Feldenkrais, Osteopathie, Polarity, Shiatsu und Akupressur integriert. Rein körperlich mechanisch betrachtet, ist Rebalancing eine Faszienmassage nach aktuellem Stand der Wissenschaft.
Der psychophysische Ansatz spiegelt sich im intuitiven Arbeiten der Rebalancing-Therapeutinnen wider: Gemeinsam mit dem Patienten spüren sie in das Gewebe hinein und bringen auftauchende «Empfindungsbilder» zur Sprache. Ratsuchende erhalten bei Bedarf auch Anweisungen für Achtsamkeits- oder Entspannungsübungen. Rebalancing-Therapie kann sowohl indikationsbezogen als auch in Form von zehn aufeinander aufbauenden Sitzungen gebucht werden, bei denen jeweils unterschiedliche Körperbereiche und Themen im Vordergrund stehen.
Eine Rebalancing-Behandlung dauert in der Regel 90 Minuten und kostet zwischen 130 und 180 Franken bzw. Euro. Viele Schweizer Krankenkassen bezahlen einen Beitrag zur Behandlung (z.B. als «Bindegewebemassage»), wenn der Patient komplementär versichert ist. In Deutschland werden nach unserer Kenntnis Rebalancing- Behandlungen nicht erstattet (werden von privaten Krankenkassen erstattet, sofern der Therapeut Heilpraktiker, Physiotherapeut oder Arzt ist - Angabe ohne Gewähr).
In der Schweiz gibt es geschätzt 80 Rebalancing-Therapeutinnen und -Therapeuten. Die meisten von ihnen sind dem Rebalancer-Verband Schweiz angeschlossen. Adressen und weitere Informationen über:
Rebalancer-Verband Schweiz, 3000 Bern
Tel. 079 361 34 43
E-Mail: info@rvs-rebalancing.ch
Internet: www.rvs-rebalancing.ch
Weitere:
Deutschland und Österreich:
Adressen von Therapeutinnen und Therapeuten finden Sie übers Internet unter: