Das Kraut aus der Familie der Korbblütler ist besonders in der französischen Küche beliebt, galt früher aber auch als Heilmittel.
Autorin: Katja Chmelik, 06/19
Manche Pflanzen machen im Lauf der Geschichte regelrecht „Karriere". Estragon, lateinisch „Artemisia dracunculus", gehört zweifellos dazu. Gegen Pest solle die Pflanze helfen, Würmer austreiben oder vor Schlangenbissen schützen, glaubte man von der Antike bis ins Mittelalter. Den Franzosen war das Kraut bereits 812 geläufig und ist seither unverzichtbar in der feinen Küche. Er ist sogar entsprechend benannt: Französischer Estragon ist aromatisch mit leichter Anisnote. Er gilt im Anbau jedoch als empfindlich und ist nicht leicht zu kultivieren, weshalb er durch Stecklinge oder Teilung des Wurzelstocks vermehrt wird.
Der wildere Bruder, der Russische respektive Sibirische Estragon, ist deutlich von dem vornehmen Franzosen zu unterscheiden: Er ist schlicht weniger aromatisch und obendrein eher grasig-bitter. Im Gegenzug punktet er mit weniger Anfälligkeit, lässt sich leicht aus Samen ziehen, ist anspruchslos und klimabeständig (wahrscheinlich ist die russische Art die ursprüngliche Wildform) und eine passable Würze in getrockneter Form (z.B. für Bratkartoffeln).
Estragon verfeinert gewieft Saucen, Marinaden, Suppen, Kräuterbutter, Quark und gibt Fisch, Geflügel und Gemüse das gewisse «je ne sais quoi». Gerade in Frankreich, aber auch in Italien begegnet einem das «aristokratische Gewürz» besonders häufig. Bisweilen kommt es, je nach Vorliebe der Hersteller, in der traditionellen aromatischen Kräutermischung «Herbes de Provence» vor. Ebenfalls adelt Estragon als Zutat die berühmte Kräutermischung «Fines Herbes», denn in Gesellschaft von Dill, Kerbel und Petersilie blüht er zusätzlich auf. Eingelegte Gurken und Fleischfüllungen gewinnen durch Estragon. Er überrascht in grünen Salaten und zu Frischobst und lässt beide interessanter erscheinen.
Die Kaukasier lieben ihren Estragon nicht weniger als die Franzosen. Sie wickeln u. a. als Vorspeise Estragonblätter mit Eivierteln in knuspriges Fladenbrot. Selbst mit Beeren zeigt sich Estragon in Bestform, besonders mit Brombeeren und Himbeeren.
Die Sauce Béarnaise, eine warm aufgeschlagene Buttersauce, hat weltweite Berühmtheit erlangt. Ein offenes Küchengeheimnis ist, dass sie am besten gelingt, wenn ein Drittel getrockneter und zwei Drittel frischer Estragon hineingegeben werden.
Estragonessig und -senf sind beliebte französische Exportgüter. Je nach Lust und Kreativität, kann man seinen eigenen Senf mit Estragon herstellen: Dazu muss man Senfkörner fein zerhacken und einige, ebenfalls klein gehackte, Pfefferkörner dazugeben; danach kommen gehackte, frische Estragonzweige in die Masse. Weinessig, Salz und Zucker nach Belieben beifügen und gut verrühren!
Eine einfache kalte Kräutersauce soll hier verraten werden, die Salate und Gemüse zu veredeln vermag: Man mischt 3 EL Öl, 2 EL Weinessig, 1 rohes Eigelb, 1 Prise Salz und Pfeffer und 1 EL feingehackte, frische Estragonblättchen.
Artemisia dracunculus macht sich auch in Getränken gut: In Georgien erfrischt die populäre Estragonlimonade Tarchuna. Erfunden hat sie der Apotheker Mitrophane Laghidse 1887: Er kam auf die prickelnde Idee, Estragonextrakt mit kohlensäurehaltigem Wasser zu mischen. Auch viele moderne Drinks gewinnen an Geschmack, wenn Estragon ins Spiel kommt und dekorativ schaut's auch noch aus.
Über die Jahrhunderte bediente sich auch die Volksheilkunde des Estragons. So wurde er als anregend für die Verdauung beschrieben, dazu glaubte man an seine harntreibende Wirkung. Estragon setzte man ein bei Wassersucht, Nierenträgheit, Appetitlosigkeit, Magenschwäche und Blähungen. Er wirke auch als leichtes Beruhigungs- und Schlafmittel, heisst es. Das enthaltene Delorazepam, eine chemische Verbindung aus der Gruppe der Benzodiazepine, ist bekannt für diese beruhigende Wirkung. Es kommt jedoch nur in geringen Mengen vor, so dass es pharmakologisch nicht wirklich von Belang ist.
Heute wird Estragon nur noch vereinzelt als appetitanregendes und auch verdauungsförderndes Mittel eingesetzt.
Empfohlen wird Estragonöl mitunter zur Linderung von Rheuma- und Gichtschmerzen und bei Muskelkrämpfen – die enthaltenen ätherischen Öle sind durchblutungsfördernd und erwärmend, wenn sie äusserlich aufgetragen werden.
Als frisches Blatt gekaut, soll die Gewürzpflanze lästigen Schluckauf beruhigen.