Von der Spitzengastronomie entdeckt, macht die Tonkabohne seit kurzem Furore in allen Küchen. Ein neues, raffiniertes Aroma? Bei näherem Hinsehen handelt es sich um ein altes Gewürz – mit einem gewissen Handicap.
Autorin: Ingrid Zehnder, 12.07
Vor einiger Zeit ass ich in einem renommierten Restaurant im vorarlbergischen Dornbirn Tonkabohneneis. Ich hatte nie zuvor etwas von Tonkabohnen gehört, geschweige davon gegessen. Das Aroma mit seinen vielen Nuancen zog mich sofort in seinen Bann: Ein Hauch von Vanille, Butterkaramell, Mandeln und Mokka, vielleicht sogar parfümiertem Tabak, gemischt mit einem zarten Duft nach trockenem Heu und Süssholz.
Die Wiederentdeckung des Gewürzes nimmt der mit drei Michelin-Sternen und 19,5 Gault-Millau-Punkten dekorierte Koch Dieter Müller für sich in Anspruch. Französische Köche und Schweizer Chocolatiers verwenden das aparte Aroma besonders gern. Eine italienische Tomatensauce, aromatisiert mit wenig abgeriebener Tonkabohne, soll himmlisch schmecken. In Venezuela experimentieren begeisterte Spitzenköche neuerdings wieder mit dem einheimischen Gewürz. Selbst in New Yorker Restaurants wird mit Tonkabohne gewürzt, wie die «New York Post» berichtet, obwohl die Bohne auf der roten Liste der US-Food and Drug Administration steht.
Die Tonkabohne ist der Same eines bis zu 30 Meter hohen Baumes, der in seiner Heimat Tonka-, Tonco- oder Tongabaum heisst, noch öfter aber Kumaru oder Coumarou genannt wird (botanisch Dipteryx oder Coumarouna odorata).
Der zu den Schmetterlingsblütlern gehörende, langsam wachsende Baum mit seinem dunkel- bis orangeroten Holz ist im nördlichen Teil von Südamerika zu Hause, in den tropischen Regenwäldern rund um die Flüsse Amazonas und Orinoco, entlang der Atlantikküste von Guyana und auf den karibischen Inseln. Heute sind Venezuela und Nigeria die Hauptproduzenten von Tonkabohnen.
Sind die Früchte reif, fallen sie vom Baum und werden aufgesammelt. Die in der Form mangoähnlichen Früchte haben eine lederartige Haut und wenig geschmackloses Fruchtfleisch. Im Innern bergen sie einen einzelnen, zwischen drei und fünf Zentimeter langen und etwa 1 Zentimeter breiten, mandelförmigen Samen, die Tonkabohne. Nach der Ernte wird sie mehrere Monate getrocknet und hat dann die typisch runzelige, schwarz-bräunliche Haut.
Heilmittel und Wunschbohne
Eingeborene Indianerstämme Nordbrasiliens, Venezuelas und Columbiens verwendeten Coumarou-Extrakte aus den Bohnen oder der Rinde gegen Übelkeit, Husten, Ohrenweh, Asthma, Krämpfe und als (Herz-) Stärkungsmittel.
In Guyana tragen die Eingeborenen Tonkabohnen-Ketten um den Hals, einerseits als Schutz-Amulett gegen Krankheiten, andererseits wegen des Wohlgeruchs. Die Tonkabohne gilt auch als Wunschbohne und Glücksbringer; im Portemonnaie verspricht sie Geldsegen – vielleicht, weil die Samen bis in die 40er Jahre des letzten Jahrhunderts legales Zahlungsmittel der Eingeborenen in Venezuela waren.
Aus den Bohnen wird ein gelb-orange-farbiges Öl extrahiert, das zum Aromatisieren von Pfeifentabak eingesetzt wird.
Cumarin ist der Stoff, der frischem Heu und getrocknetem Waldmeister seinen eigentümlichen, angenehm würzigen Geruch verleiht. Seinen Namen hat er von der spanischen Bezeichnung der Tonkabohne (Coumarou), aus der er 1820 erstmals isoliert wurde. Cumarin liegt in der Pflanze an Glykose gebunden vor und wird erst beim Welken oder Trocknen durch Abspaltung des Zuckers frei, was sich äusserlich an kleinen, weissen Kristallen zeigt. Eine andere Methode, das Cumarin freizusetzen, ist das Einlegen in Rum, wobei sich durch Fermentierung die Cumarin-Kristalle auf der Oberfläche bilden.
Cumarin und verwandte Wirkstoffe werden heute meist synthetisch hergestellt und dann auch in der Medizin als Blutverdünnungsmittel und zur Behandlung von Ödemen eingesetzt.
Cumarin stand lange unter dem Verdacht, leberschädigend und krebserregend zu sein. Diese Wirkung von synthetischem (!) Cumarin trat im Tierversuch nur bei übermässiger Dosierung und langer Verabreichung auf. Trotzdem wurde die Verwendung von Tonkabohnen in Lebensmitteln verboten, in Deutschland z.B. zwischen 1970 und 1991.
Inzwischen ist das Verbot wieder aufgehoben. Die European Food Safety Authority (EFSA) und nationale Behörden stellen fest, dass bei einem täglichen Verzehr von 0,1 Milligramm Cumarin pro Kilo Körpergewicht auch für besonders empfindliche Verbraucher bei lebenslangem Cumarinverzehr kein gesundheitliches Risiko besteht. In der deutschen Aromenverordnung sind für Lebensmittel mit 2 mg/kg vorsorglich Höchstmengen festgelegt. Für Karamell-Süsswaren, alkoholische Getränke und Kaugummi bestehen mit bis zu 50 mg/kg Sonderregelungen. Dabei darf kein chemisch reines Cumarin verwendet werden, sondern nur pflanzliches.
Die Renaissance des faszinierenden Gewürzes hat also auch mit der Erkenntnis zu tun, dass das gesundheitliche Risiko beim Menschen durch den Verzehr von Tonkabohnen als sehr gering einzuschätzen ist – zumal Rezepte damit ja nicht täglich auf dem Speiseplan stehen.
Wegen des kräftigen Aromas wird man sie ohnehin nur sparsam verwenden. Eine Tonkabohne wiegt etwa fünf Gramm, der Cumaringehalt beträgt meist zwischen einem und drei Prozent.
Für Desserts auf Sahne- oder Milchbasis lässt man die ganzen Bohnen ca. 10 Minuten mitkochen und über Nacht ziehen (pro Liter Süssspeise rechnet man mit einer bis zwei Bohnen). Für ein stärkeres Aroma werden die harten Tonkabohnen am besten auf einer Muskatnussreibe gerieben (Dosierung zwischen einem Teelöffel und einem Esslöffel).
In der Schweiz, in Deutschland und Österreich kann man sie in gut sortierten Lebensmittelläden finden. In Frankreich findet man «fèves de tonka», oft in Gläschen abgepackt, in (grossstädtischen) Gewürzfachgeschäften (epicerie). Ganze Tonkabohnen und -pulver findet man z.B. unter der Marke «Le comptoir colonial» in grossen Warenhäusern wie Printemps und Galeries Lafayette. (Bei Bezugsquellen im Internet findet sich aus rechtlichen Gründen häufig der Hinweis «kein Lebensmittel».)
Lust auf ein schnelles Dessert mit Tonkabohnen?