Die «Opiod-Krise» in den USA zeigt deutlich, wie stark bestimmte Substanzen unsere Fähigkeiten zur Selbstkontrolle einschränken können. Vor allem Nikotin, Alkohol und Heroin wirken sich nachteilig auf unser Gehirn aus.
Tino Richter 4.19
Der eher negativ besetzte Begriff Sucht geht auf das germanische suhti- zurück, was «siechen», also das Leiden an einer Krankheit bezeichnete. Heute werden die Begriffe Sucht und Abhängigkeit in der Alltagssprache teilweise synonym verwendet. In der Fachsprache wird von stoffgebundenen (z.B. Alkohol, Nikotin, Cannabis etc.) und stoffungebundenen Abhängigkeiten (z.B. Glücksspielsucht, Internetabhängigkeit, exzessives Sporttreiben) unterschieden. Unter Abhängigkeit wird das zwanghafte Verlangen nach bestimmten Substanzen oder Verhaltensweisen verstanden, die Missempfindungen vorübergehend lindern und erwünschte Empfindungen auslösen. Die Substanzen oder Verhaltensweisen werden konsumiert bzw. beibehalten, obwohl negative Konsequenzen für die betroffene Person und für andere damit verbunden sind.
Nikotin, ist ein natürlich in den Blättern der Tabakpflanze sowie in geringerer Konzentration auch in anderen Nachtschattengewächsen vorkommendes Nervengift. Die überwiegend aus Südamerika stammende Pflanze gelangte im 15. Jahrhundert nach Europa, wo sie zunächst als Heilpflanze angebaut wurde. Tabakblätter legten Ärzte beispielsweise auf offene Wunden oder verabreichten Tabaksaft bei Magenbeschwerden.
Tabak hat jedoch von allen geläufigen Drogen das höchste Suchtpotenzial: 20 bis 30 Prozent der Menschen, die regelmässig rauchen, werden abhängig, gefolgt von Heroin und Kokain. Wenige Zigaretten können ausreichen, um eine Abhängigkeit hervorzurufen. Wird Nikotin durch Tabakrauchen aufgenommen, kommt es innerhalb von 10 bis 20 Sekunden nach dem Inhalieren im Gehirn an.
In niedrigen Mengen wirkt es stimulierend, beschleunigt kurzfristig den Herzschlag sowie eine Verengung der Blutgefässe. Oral eingenommen, ist das Abhängigkeitspotenzial deutlich geringer, Pflaster haben fast kein Abhängigkeitspotenzial. Nur durch eine starke Selbstmotivation oder professionelle Verhaltenstherapien lässt sich das erlernte Muster durchbrechen. Dementsprechend hoch ist die Rückfallwahrscheinlichkeit bei Rauchern, die ohne Hilfsmittel mit dem Tabakkonsum aufhören: 97 Prozent greifen innerhalb von sechs Monaten nach dem Rauchstopp wieder zur Zigarette. In der Schweiz raucht ein Viertel der Bevölkerung ab 15 Jahren Tabak. Auch wenn in den vergangenen Jahrzehnten der Anteil Rauchender abgenommen hat oder stabil geblieben ist: Tabak bleibt weltweit der wichtigste Risikofaktor für nichtübertragbare Krankheiten.
Europaweit gehört Zürich zu den Städten mit dem höchsten Kokain-Rückständen im Abwasser an Wochenenden, gefolgt von Barcelona und St. Gallen sowie weiteren drei Schweizer Städten in den Top 10. Nach Cannabis ist Kokain die am häufigsten konsumierte illegale Droge. «Der Preis ist über die Jahre immer mehr gesunken, Kokain ist keine Ausnahme mehr, sondern Teil des Alltags», erklärt Jürg Niggli, Geschäftsleiter Stiftung Suchthilfe St. Gallen in einem Beitrag der «Rundschau». Rund 4 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung ab 15 Jahren haben schon einmal in ihrem Leben Kokain konsumiert, 17 Prozent werden abhängig. Kokain wird aus den Blättern des Cocastrauchs gewonnen, der 1750 aus Südamerika nach Europa gelangte. Im Erfrischungsgetränk Coca-Cola befand sich bis zum Jahr 1906 noch ein Extrakt aus Cocablättern: ein Liter Coca-Cola enthielt damit rund 250 Milligramm Kokain.
Wilder Cocastrauch (Erythroxylum cuneatum)
Während das Abhängigkeitspotenzial leicht höher als das von Alkohol ist, ist das Schadenspotenzial insgesamt jedoch deutlich tiefer. Das ist mit ein Grund, warum Vertreter einer Liberalisierung von illegalen Drogen eine Abgabe in kontrollierter Form durchaus für vertretbar halten, denn eine Verbotspolitik hat bisher nicht zu einer Verringerung des Konsums geführt. Aber auch Kokain hat negative gesundheitliche Auswirkungen: Es wirkt gefässverengend und erhöht das Risiko für Herzinfarkt und Hirnschlag. Ausserdem schädigt Kokain bei exzessivem Konsum die Nasenschleimhaut.
Die Andenbevölkerung nutze Cocablätter seit jeher als Genuss- und Nahrungsergänzungsmittel sowie für kultische und medizinische Zwecke. Untersuchungen haben gezeigt, dass dabei jeweils auch Kalk zugesetzt wurde. Das hatte den Effekt, dass das in den Blättern vorhandene Alkaloid Kokain in das Alkaloid Ecgonin umgewandelt wurde – und dem fehlte jedes Abhängigkeitspotenzial.
Alkohol ist eine der ältesten psychoaktiven Substanzen der Menschheit, welche das Bewusstsein, die Wahrnehmung und die Motorik beeinflusst. Alkoholische Getränke werden aus kohlenhydrathaltigen Flüssigkeiten durch alkoholische Gärung erzeugt. Nach geltendem Lebensmittelrecht kommen als Rohstoffe für den Alkohol nur landwirtschaftliche Produkte infrage. Alkoholische Getränke dürfen also weder Alkohol synthetischen Ursprungs noch anderen Alkohol nicht landwirtschaftlichen Ursprungs enthalten. Das daraus gewonnene Ethanol hat ein mit Opiaten und Kokain vergleichbares Abhängigkeitspotenzial. Der deutsche Ethnopharmakologe Christian Rätsch erklärte 2013 in einem Interview gegenüber dem «Spiegel»: «Nichts anderes fügt dem Körper so viel Schaden zu wie Alkohol. Er greift nahezu alle Organe an und macht unproduktiv, schläfrig, teilnahmslos.» Ethanol wirkt schon in geringen Mengen toxisch, schädigt die Leber, kann zu Demenz führen und Krebs auslösen. Auch der Präsident der Eidgenössischen Kommission für Suchtfragen, Toni Berthels, erklärte jüngst in einem Beitrag des «Beobachters», dass Alkohol wohl verboten wäre, würde er heute neu erfunden.
Eine Alkoholabhängigkeit entwickelt sich meist schleichend über viele Jahre hinweg, deren Anzeichen sich darin äussern, dass sich das Leben zunehmend um die Droge dreht und schliesslich ohne Alkohol kein Alltagsleben mehr möglich ist. Hinzu kommen Entzugserscheinungen wie Schlafstörungen, Schweissausbrüche, morgendliches Zittern, Brechreiz, depressive Verstimmungen sowie Unruhe und Angst. Wird wieder Alkohol getrunken, verschwinden die Entzugserscheinungen. Die meisten Personen in der Schweiz trinken Alkohol in geringen Mengen, jede fünfte Person aber trinkt zu viel oder zu oft. Jährlich fordert der Alkoholkonsum in der Schweiz etwa 1600 Menschenleben im Alter zwischen 15 und 74 Jahren. Mit ein Grund ist die tiefe Verankerung in der Essens- und Trinkkultur sowie die leichte Verfügbarkeit. Alkoholsucht wird einerseits mit Medikamenten behandelt, welche das Verlangen, zu trinken, reduzieren oder mit solchen, die beim Trinken unangenehme Gefühle hervorrufen. 15 Prozent der Leute, die Alkohol probieren, werden abhängig – von den regelmässigen Trinkern sind gar 27 Prozent süchtig.
Cannabis ist die mit Abstand am häufigsten konsumierte illegale Substanz: Trotz des gesetzlichen Verbots im Jahr 1951 gibt ein Drittel der Schweizer Bevölkerung ab 15 Jahren an, schon Erfahrung mit Cannabis gemacht zu haben. Gras (Blüten) und Haschisch (Harz) werden meist als Joint geraucht; die wichtigsten Wirkstoffe der Hanfpflanze sind Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). Die berauschende Wirkung ist auf das THC zurückzuführen, CBD wirkt dagegen beruhigend, schmerzstillend und krampflösend. Das ist ein Grund, warum Cannabis auch in der Schmerz- und Palliativmedizin eingesetzt wird.
Bei Cannabis ist das Suchtpotenzial zwar deutlich geringer (unter 10 Prozent), der THC-Gehalt kann je nach Hanfsorte jedoch stark schwanken. Daher hängen die Risiken für eine Abhängigkeit auch von vielen anderen Faktoren ab, z.B. vom Alter und dem Gesundheitszustand der Konsumenten, der Häufigkeit und Dosierung etc. Negative Folgen können die Atemwege (Krebsrisiko) betreffen, auch kognitive Beeinträchtigungen sind dokumentiert. Es besteht ebenfalls ein Zusammenhang zwischen dem Cannabisgebrauch und Psychosen sowie Depressionen, vor allem bei häufigem Konsum sowie bei einem frühen Einstieg. Erst kürzlich zeigte eine Studie in «Lancet Psychiatry», dass Personen mit einer ersten Psychose-Episode häufig einen täglichen und hoch dosierten Cannabiskonsum praktizieren. Je höher der THC-Gehalt, desto grösser war auch das Risiko für die Erkrankung. Ausserdem benötigen Personen, die regelmässig Cannabis konsumieren, auch höhere Dosen Narkosemittel: Die Dosis schwankte zwischen knapp 14 bis 20 Prozent, in manchen Fällen gar bis zum Dreifachen.
Es scheint daher naheliegend, dass eine bevorstehende Legalisierung besonders jungen Menschen schaden könnte. Der Bundesrat hat dem Parlament im Februar dieses Jahres den Auftrag erteilt, eine gesetzliche Grundlage für Pilotversuche mit Cannabis zu schaffen mit dem Ziel, wissenschaftliche Erkenntnisse zu sammeln. St. Gallen ist einer dieser Testorte.
Cannabispflanzen
In Deutschland warnte im September 2018 Prof. Rainer Thomasius auf dem Deutschen Suchtkongress vor einem gefährlichen Cannabis-Konsum, vor allem im Kindes- und Jugendalter. Denn die Konsumenten werden immer jünger und steigen bereits mit 12, 13 Jahren in riskante Cannabis-Gebrauchsmuster ein (anders als bei Alkohol oder Medikamentenabhängigkeit). Das zeigt sich laut Prof. Thomasius durch Schäden der Hirnentwicklung, Intelligenzverlust, Psychosen und Schizophrenien sowie besonders durch schwere Verkehrsunfälle am Morgen nach dem letzten Kiffen. Die wenigen Studien zu den Behandlungserfolgen zeigen Quoten zwischen 15 und 35 Prozent, gemessen ein Jahr nach der Abstinenz. Besonders verhaltenstherapeutische Ansätze und motivierende Verfahren sowie Therapieverfahren, welche die gesamte Familie einbeziehen, scheinen wirksam zu sein.
International ist die Studienlage jedoch eher gering, denn für die Jugendlichen ist kein adäquates Betreuungskonzept mit emotionaleren und auch pädagogischeren Ansätzen vorhanden. Wenn sich die Abhängigkeiten früh ausbilden, bleiben die Personen auf einem pubertären Entwicklungsstand, so Thomasius. Auch die Gefahr multiplen Konsums von Drogen ist bei Cannabis erhöht: Über 70 Prozent derer, die mindestens einmal pro Woche Cannabis konsumieren, trinken auch risikoreich Alkohol.
Im Jahr 1995 startete das amerikanische Pharmaunternehmen «Purdue» eine der grössten Marketingkampagnen der US-Geschichte mit dem Ziel, die Suchtgefahr des Schmerzmittels Oxycontin zu verharmlosen und Ärzten Anreize für eine häufigere Verschreibungspraxis zu geben. Und das, obwohl firmeninterne Untersuchungen zeigten, dass mindestens 13 Prozent der Patienten, die das Medikament z.B. gegen Kopfschmerzen einnahmen, abhängig werden. Mittlerweile haben die USA ein ausgewachsenes Schmerzmittelproblem, die sogenannte «Opioid-Krise»: Rund zwei Millionen Amerikaner sind von Medikamenten abhängig, etwa 200’000 sollen seit Ende der 90er-Jahre bereits daran gestorben sein.
Eine zu lasche Verschreibungspraxis kann weite Teile der Bevölkerung abhängig machen
Schmerzmittel wie Oxycontin, Vicodin und Fentanyl zählen wie Heroin zu den exogenen Opioiden, die morphinartige Eigenschaften besitzen und ein hohes Abhängigkeitspotenzial aufweisen. So wirkt Fentanyl beispielsweise 50-mal stärker als Heroin. Das Pharma-Unternehmen wurde mittlerweile in mehreren Fällen für schuldig befunden und muss nach einem Gerichtsentscheid 270 Millionen Dollar Strafe zahlen. In der Schweiz hat sich der Konsum von Schmerzmitteln auf Opioid-Basis zwar innerhalb der letzten 30 Jahre um das 23-fache erhöht, im weltweiten Vergleich liegt die Schweiz damit aber «nur» auf Rang 7. Im Vergleich zum EU-Durchschnitt ist der Konsum leicht erhöht, aber niedriger als in Deutschland und Österreich.
Jürg Niggli, Geschäftsführer Stiftung Suchthilfe St. Gallen
GN: St. Gallen belegt den dritten Platz in der Kokain-Statistik. Ist das nicht frustrierend?
JN: Der Kokain-Konsum allein ist nicht so belastend, weil er relativ diskret stattfindet. Insofern können wir damit leben. Insgesamt bezogen auf alle substanzgebundenen Abhängigkeiten befindet sich St. Gallen im Mittelfeld, es gibt keine besonderen Ausschläge. Aber dank der Stiftung Suchthilfe St. Gallen sowie anderer Angebote sind die Zeiten der offenen Drogenszene mit massivsten Problemen lange vorbei.
GN: Was ist Ihr Ansatz bei der Stiftung Suchthilfe?
JN: Unser grundsätzlicher Ansatz ist: Es ist alles eine Frage des Masses. Wir sind keine Moralapostel und auch keine Schönredner. Wir nehmen die Betroffenen ernst, stellen aber auch Bedingungen. Damit haben wir die Drogenabhängigen zurück vom Rand der Gesellschaft geholt.
GN: Welche Massnahmen sind besonders erfolgreich?
JN: Natürlich zeigt sich der Erfolg im Zusammenspiel aller Angebote. Wir sehen aber, dass besonders die integrativen Massnahmen sehr gut angenommen werden, also beispielsweise mit Familien-, Gesprächs- oder Maltherapie. Ziel ist es, den Betroffenen eine sichere Basis durch zwischenmenschliche Beziehungen, Selbstbestimmung oder soziale Integration zu anzubieten.
GN: Wie wird sich die Drogenpolitik der Schweiz entwickeln?
JN: Die Drogenpolitik wird sich weiter differenzieren: Das bestehende Viersäulenmodell aus Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression wird in Zukunft um die Analyse des spezifischen Verhaltens pro Suchtmittel erweitert werden. Und ich bin sicher, dass Cannabis liberalisiert und auf die gleiche Stufe wie Alkohol gestellt werden wird.
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