Die zahlenmässige Zunahme von narzisstischen Persönlichkeitsstörungen in unserer Gesellschaft ist wissenschaftlich nachgewiesen. Wir leben in einer Zeit, in der das eigene Ich hoch und die Solidarität mit den Anderen gering geschätzt wird.
Autorin: Judith Dominguez
Im antiken Griechenland soll einmal ein Knabe mit dem hübschen Namen Narkissos gelebt haben. Seine Mutter, die Nymphe Leiriope, wurde gegen ihren Willen vom Flussgott Kephissos geschwängert, als sie in dessen Wasser gebadet hatte. Leiriope zog das Kind alleine auf und sorgte sich sehr um sein Wohlergehen. In der Hoffnung, jedes Unheil von ihrem kleinen Liebling abwenden zu können, liess sie sich vom Orakel seine Zukunft weissagen. Doch mit dem Orakelspruch des Sehers Teiresias konnte die junge Mutter nicht viel anfangen. Der Spruch lautete nämlich, dass Narkissos so lange leben werde, bis er sich selbst kennen gelernt habe.
Narkissos wuchs zu einem wunderschönen, aber unnahbaren Jüngling heran. Er wurde von allen bewundert und verehrt, besonders von den Frauen. Aber wer auch immer sich bemühte, ihn zum Freund zu gewinnen, wurde zurückgewiesen, geschmäht und lächerlich gemacht. Eines Tages, als Narkissos müde von der Jagd an einer klaren Quelle im Wald seinen Durst stillen wollte, erblickte er im Wasser einen jungen Mann mit ebenmässigen Gesichtszügen, und sogleich verliebte er sich in diesen Anblick. Narkissos versuchte, das Spiegelbild zu streicheln und näherte sich dem Wasser immer mehr – bis er hineinfiel und ertrank.
Wegen dieser uralten griechischen Geschichte nennt man diejenigen Menschen, die sich selbst mehr als alle anderen lieben, Narzissten. Diese selbstverliebten Egoisten sind überall anzutreffen, besonders aber in den hohen Führungsetagen. Sie streben gern nach besonders angesehenen Ämtern in Wirtschaft und Politik, denn sie haben ein grosses Bedürfnis, sich selbst darzustellen, sich öffentlich zu zeigen und bewundert zu werden. Narzissten sind erfüllt von einem unstillbaren Wunsch nach Anerkennung und suchen diese bei jeder Gelegenheit zu erhaschen. Selbstverständlich auch auf Kosten anderer. Da werden die genialen Ideen der Kollegen als die eigenen verkauft oder die Leistungen der Mitmenschen abgewertet, damit die eigenen grösser erscheinen.
Ein solches Verhalten bleibt nicht ohne Folgen. Auf lange Sicht mögen die Mitmenschen Narzissten nicht und langweilen sich bei den endlosen Selbstdarstellungen. Irgendwann sind keine Bewunderer mehr da, und der Selbstdarsteller schlittert in die soziale Isolation.
Die eigenen Leistungen, seine körperlichen oder charakterlichen Vorzüge wie ein guter Verkäufer zu Markte zu tragen, ist heute nicht nur ein gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten, sondern wird geradezu gefördert. Deutlich sichtbar beispielsweise in Stellen- ausschreibungen: Da werden Menschen mit ausserordentlichen Fähigkeiten gesucht. Neben der Ausbildung und Branchenkenntnis sind hohe soziale Kompetenzen, selbstsicheres Auftreten, überdurchschnittliche kommunikative Fähigkeiten und vieles mehr ein Muss.
Ebenso sieht es bei der Partnersuche aus. Alle verfügen über gesunde, gut trainierte, schlanke Körper und sind beseelt von Ehrlichkeit und hohen sozialen Werten. Die Gesellschaft fordert Menschen, die enorme Leistungsbereitschaft zeigen und jederzeit motiviert an die Sache gehen. Die Menschen müssen lösungs- orientiert, kompetent und allzeit bereit für jegliche Anforderungen sein. Um erfolgreich zu sein, sind alle Schwächen und Mängel, die wir nun mal alle haben, sorgfältig zu verbergen. Wer vorwärts kommen will, feilt solang am Selbstbild, bis es diesen Anforderungen entspricht.
Eltern verlangen von ihrem Nachwuchs nicht selten von klein auf, dass er nicht nur den gesellschaftlichen Normen entspricht, sondern diese übertrifft. Die eigenen Kinder sind blitzgescheit und wunderschön. Und das muss der ganzen Welt doch gezeigt werden. Schätzungsweise acht von zehn Eltern stellen Babyfotos ins Netz, und nicht selten werden bereits Ultraschallbilder aufgeschaltet.
Für Eltern sind ihre Kinder heute oft das Ein und Alles, so wie es Narkissos für seine Mutter war. Diese Kinder werden pausenlos umsorgt, verhätschelt, bewundert und verwöhnt. Dieses durch die Eltern vermittelte Fremdbild wird zum Selbstbild, und schon nehmen sich solche Kinder als etwas ganz besonderes wahr: als einen Menschen, der über allen anderen steht. Tatsächlich geht man in der heutigen Forschung davon aus, dass die Überfürsorge durch die Eltern der wichtigste Risikofaktor für eine narzisstische Entwicklungsstörung ist.
Menschen, die glauben, besser als alle anderen zu sein, sind leicht kränkbar. Schon die kleinste Kritik, ja selbst eine winzige Bemerkung, die man mit viel Fantasie als negative Rückmeldung deuten könnte, verletzt den Narzissten schwer. Er ist hypersensibel, solange es um die eigene Person geht, und seine Frustrationstoleranz ist beträchtlich vermindert.
Gleichzeitig stellt er aber überhöhte Anforderungen an sein soziales Umfeld – mindestens, was dessen Verhalten ihm gegenüber betrifft. Zudem kann er die Gefühle, die ihm entgegen gebracht werden, nicht wahrnehmen, weder Zuneigung, Anerkennung noch Liebe. Und Narzissten sind unfähig, sich in andere Menschen einzufühlen. Das hat schwerwiegende Folgen für das Leben der Betroffenen, für den Narzissten selbst und sein unmittelbares soziales Umfeld. Narzissten können nicht lieben und geliebt werden. Die Möglichkeit, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, Gefühle gemeinsam schwingen zu lassen und sich geborgen und zugehörig zu fühlen, bleibt dem Narzissten verschlossen
Während sich gesunde Menschen nach tragfähigen sozialen Beziehungen, nach vertrauensvollen Menschen, Zärtlichkeit und Zuwendung sehnen, lehnt der Narzisst dies alles entschieden ab. Er hat kein Bedürfnis nach Bindung, sondern nach Bewunderung. Er sucht Menschen, die sich ihm unterwerfen; Menschen, die ihn uneingeschränkt toll finden, die ihm nicht widersprechen und jederzeit sein Ego nähren. Narzissten umgeben sich mit Jasagern, Speichelleckern und solchen, die zufrieden damit sind, sich in den Schatten ihres Idols zu stellen. Sie sind ununterbrochen auf der Suche nach Menschen ohne eigene Meinung. Gerade im Zeitalter des Internets ist dies besonders einfach. Äussert sich jemand kritisch, wird er einfach weggeklickt, Adresse gesperrt, und schon stört niemand mehr die unstillbare Sucht nach Bewunderung. Im persönlichen Kontakt, in der Familie oder Ehe funktioniert dies jedoch nicht, und Angehörige leiden schwer unter der Situation.
Narzissten leben in der dauernden Angst, nicht gut genug zu sein, getadelt zu werden, benachteiligt zu sein oder nicht das ihnen zustehende Lob zu erhalten. Das ist anstrengend für alle anderen im Umfeld. Will man keinen Streit, keine aggressive Gegenreaktion auslösen, tut man besser daran, jedes Wort auf die Waagschale zu legen. Jede noch so sachlich vorgetragene und zutreffende Kritik brennt sich unauslöschlich ins Gehirn des Narzissten.
Er wird die noch so kleinste Kränkung nie wieder vergessen und als völlige Entwertung seiner Person verstehen. Ganz gleich was es ist, es trifft ihn immer an der empfindlichsten Stelle und löst grausame Ängste aus. Aus diesem inneren Erleben heraus reagiert er heftig, aggressiv oder bösartig. Und da er kein Einfühlungsvermögen besitzt, kann er das durch ihn verursachte Leid nicht wahrnehmen. Jeder Versuch den Narzissten zu ändern, wird scheitern. Man kann höchstens versuchen, sich selbst zu schützen und sich abzugrenzen.
Oberflächlich betrachtet nehmen wir Narzissten als Egoisten wahr, aber sein Innenleben sieht ganz anders aus. Die extrem hohe Sensibilität für Kränkungen ist nämlich Folge eines verminderten Selbstwertes. Damit ist der Wert gemeint, den wir uns selbst, für uns selbst zugestehen. Die kleinste Kritik bringt den Selbstwert des Narzissten ins Wanken. Negative Rückmeldungen versteht er als Entwertung seines Selbst. Nicht nur eine bestimmte Sache hat er aus Sicht der andern nicht gut genug getan, sondern die ganze Person wird kritisiert und ist offenbar rein gar nichts wert. Narzissten verstehen gutgemeinte Ratschläge als harsche Kritik, und damit können sie nicht umgehen. Sie können vermeintliche Kränkungen weder je vergessen noch verzeihen und tragen diese schmerzenden Wunden jahrelang mit sich herum. Während Narzissten also als überheblich und eitel wahrgenommen werden, sind sie innerlich schwach und zerbrechlich.
Gerade diese innere Unsicherheit und Schwäche kompensiert der Narzisst mit einem überhöhten Selbstbild, das er nach aussen zur Schau stellt. Beim Narzissmus ist das Gleichgewicht zwischen Sensibilität und Verletzlichkeit, zwischen Egoismus und Selbstvertrauen oder zwischen Mitfühlen und Rücksichtslosigkeit aus der Balance geraten. Das heisst, das gesunde Ich-Interesse und das Verantwortungsgefühl anderen gegenüber sind krankhaft verändert.
Wie bei allen psychiatrischen Krankheitsbildern können die Symptome ganz unterschiedlich schwer ausgeprägt sein. Etwas egoistisch sind wir alle, und unser Handeln befriedigt immer auch unsere eigenen Bedürfnisse. Ein wenig Selbstliebe ist durchaus gesund und kann die Persönlichkeit stärken. Konkurrenzdenken und ein klein wenig Ellenbogenmentalität fördern wohl unsere Karriere mehr, als dass sie ihr schaden. Das ist alles ganz normal.
Kommt allerdings eine übersteigerte Verletzlichkeit dazu, wird das Leben kompliziert. Werden andere Menschen abgewertet, zeigen sich bösartige Züge, unter denen das soziale Umfeld leidet. Und da Narzissten auch noch ein vermindertes Einfühlungsvermögen haben, sind sie nicht fähig, Mitleid zu empfinden. Steht die fehlende Empathie im Vordergrund, spricht man von psychopathischem Narzissmus. Diese Menschen sind mitunter gefährlich. Jedenfalls erklärt man sich so die Handlungsweise von Amokläufern, Massenmördern, Serienkillern und Diktatoren.
Therapien sind erst dann angezeigt, wenn der Betroffene in seiner Existenz bedroht ist oder er und sein soziales Umfeld unter den Symptomen leiden. Allerdings ist der bösartige Narzissmus alles andere als leicht zu behandeln. Lob und Bewunderung sind die einzigen Mittel, für welche ein Narzisst überhaupt empfänglich ist. Er kann nur jene Menschen wertschätzen und akzeptieren, die ihn loben. Alle andern sind seine Gegner und werden von ihm bekämpft. Doch auch die ihn lobenden Menschen verachtet der Narzisst, denn sie stehen seiner Meinung nach unter ihm und blicken bewundernd zu ihm hoch.
Somit kann niemand, auch ein Therapeut nicht, auf Augenhöhe und als ebenbürtiger Partner mit ihm sprechen. Es gibt zwar Achtsamkeits- und Verhaltenstherapien, die durchaus erfolgreich sein können, sofern der Narzisst sich auf eine Therapie einlassen kann. Das ist leider meistens nicht der Fall, denn der Narzisst ist intelligenter, besser und auch gesünder als alle anderen Menschen – wenigstens in seinem Selbstbild.
Wie bei allen andern Krankheiten und Persönlichkeitsstörungen ist auch beim Narzissmus die Vorbeugung das beste Mittel gegen den Vormarsch dieser Diagnose. Prävention mit medizinischen und therapeutischen Interventionen kommt kaum in
Frage, vielmehr ist eine Änderung der gesellschaftlichen Bedingungen vonnöten. Schon kleine Kinder sollen und müssen Gelegenheit erhalten, Enttäuschungen zu erleben, und fähig werden, diese zu verarbeiten. Im Leben geht nun einmal nicht immer alles so, wie wir uns das wünschen: Damit muss man leben lernen. In der Psychologie spricht man von Frustrationstoleranz. Das heisst, jeder Mensch muss von klein auf lernen, mit Unlust, Frust und narzisstischen Kränkungen umzugehen. Muss erfahren, dass nicht alle Wünsche und Hoffnungen erfüllt werden, und dann
in der Lage sein, alternative Wege zu suchen und zu finden. Jedes neue Mitglied einer Gesellschaft sollte lernen, mit anderen solidarisch zu sein, Mitmenschen wertzuschätzen und Mitleid zu empfinden. Die Eltern und weitere Erziehungspersonen stehen in der Pflicht, Kindern die Entwicklung eines realistischen Selbstbildes zu ermöglichen.
Nur so können wir einen weiteren Vormarsch narzisstischer Persönlichkeitsstörungen verhindern. Vor allem aber lassen wir die Kinder auch Schwächen haben und diese zeigen dürfen