Rheumakranke Kinder müssen Schmerzen und zahlreiche Therapien ertragen. Sie haben weniger Freizeit, dafür mehr Sorgen und Zukunftsängste als gesunde Gleichaltrige. Doch damit nicht genug. Allzu oft müssen sie sich auch mit dummen Bemerkungen und der Rolle als Aussenseiter herumschlagen.
Autor: Heinz Scholz
Welche Leiden und Opfer rheumakranke Kinder und deren Eltern ertragen müssen, stellten die «Gesundheits-Nachrichten» bei einem Besuch in der Rheuma-Ambulanz in Tübingen fest. In den Gesprächen mit Betroffenen und deren Therapeuten kristallisierte sich vor allem ein Wunsch heraus: Ermöglicht uns einen offeneren Umgang mit der Krankheit! Der Weg dahin führt über bessere Information, denn gesunde Menschen sind sich gar nicht darüber im Klaren, mit welch grossen körperlichen und psychischen Folgen ein rheumakrankes Kind zu kämpfen hat.
Über Ursachen und Entstehung weiss man noch relativ wenig. Oft kommen mehrere Faktoren zusammen. Die Veranlagung kann eine Rolle spielen, Auslöser können aber auch Infektionen sein. Dabei wendet sich das Immunsystem fälschlicherweise gegen eigenes Gewebe statt die Erreger der Infektion zu attackieren. Weitere Auslöser sind Unfälle, Überlastungen, psychische Belastungssituationen. In den meisten Fällen bildet sich eine chronische Entzündung jedoch ohne erkennbare Einflüsse aus.
Unter «Kinder-Rheuma» versteht man schmerzhafte Erkrankungen der Gelenke und Bindegewebe. Am weitesten verbreitet sind akute und chronische Formen der Arthritis (juvenile Arthritis). Die akuten rheumatischen Erkrankungen, übrigens zehnmal häufiger als chronische, werden hauptsächlich durch Infektionen mit dem Rötelvirus oder durch Bakterien ausgelöst. Meist dauern die Gelenkentzündungen nur Tage oder wenige Wochen. Allerdings können sie auch mehrere Monate oder ein bis zwei Jahre andauern und mehrfach aufflackern. Chronische Verläufe, meist ohne erkennbare äussere Ursachen entstanden, bleiben unglücklicherweise oft (zu) lange Zeit unerkannt.
Bei der juvenilen Arthritis können auch Augen, Haut, Muskulatur und innere Organe betroffen sein. Die chronische Arthritis im Kindesalter kann zu Wachstumsschäden führen. Die Palette des Leidens reicht vom beschleunigten Wachstum einzelner Finger und Zehen bis hin zu Gliedmassenverkürzungen und Minderwuchs. Auch eine Verzögerung der Pubertät um ein bis zwei Jahre kann vorkommen. In Deutschland gibt es etwa 50 000 rheumakranke Kinder, von denen 4000 bis 5000 chronisch erkrankt sind. In der Schweiz ist eins von tausend Kindern betroffen.
Die Prognose ist bei Kindern günstiger als bei Erwachsenen. Häufig kann die Krankheit auf Dauer zur Ruhe gebracht werden. Je früher die Therapie beginnt, desto besser sind die Ergebnisse. Die medikamentöse Therapie wird mit einer krankengymnastischen Behandlung kombiniert. Wichtig ist die soziale Betreuung, in die auch die Familie mit einbezogen wird. Bei schweren Erkrankungen allerdings leiden die Betroffenen oft ein Leben lang an den Folgeschäden wie Verlust der Sehkraft oder Berufsunfähigkeit. Manche müssen lange einen Rollstuhl benutzen.
Ralf, 1 Jahr, hat ein geschwollenes Kniegelenk.
Hanna (4) hat häufig hohes Fieber, Ausschlag und Gelenkschmerzen; sie muss auf viele Aktivitäten im Kindergarten verzichten.
Esther, 6 Jahre, ist auf dem rechten Auge erblindet und hat Schmerzen im Sprunggelenk.
Mit seinen 8 Jahren hat Uwe geschwollene Sprunggelenke und kann sich nur mit Hilfe seines Spezialrollers fortbewegen.
Marie, 14 Jahre, hat entzündete Handgelenke und kann in der Schule nur mit Handschienen schreiben.
Anton, 16 Jahre, kann seine Schultern nicht schmerzfrei bewegen und wird seinen Traumberuf Autoschlosser nicht erlernen können.
Wie schon gesagt, bleiben chronische Verläufe von Rheuma bei Kindern oft lange unerkannt. Daher ist es wichtig, die Anzeichen zu kennen: Gelenkschwellung, Überwärmung des Gelenkbereichs, Einschränkung der Beweglichkeit verbunden mit Schmerzen. Bei Kleinkindern können wegen der oft speckigen Arme und Beine leichtere Gelenkschwellungen übersehen werden. Aufmerksame Eltern beobachten bei ihren rheumakranken Kindern eine ungewöhnliche Haltung des betroffenen Gelenks (Schonhaltungen sind schmerzarme Stellungen!). Infolge der Gelenkerkrankung hinken die Kinder, greifen anders, haben Schwierigkeiten beim Essen, Schreiben, An- und Ausziehen. Sie wirken oft ungeschickt, wollen wenig laufen und schlafen unruhig.
Talajeh (heute 16 Jahre) leidet infolge von Rheuma seit ihrem 5. Lebensjahr unter einer Iridozyklitis oder Uveitis, also unter einer Regenbogenhautentzündung. Sie erhielt Cortison und Immunsuppressiva. Bald darauf zeigte sich eine Linsentrübung im Auge. Die Linsen wurden später entfernt und durch künstliche ersetzt. Die Medikamentengabe bewirkte bei Talajeh eine Gewichtszunahme und eine vermehrte Körperbehaarung. Wie brutal uninformierte Kinder sein können, verspürte sie am eigenen Leib.
In der Grundschule wurde sie immer wieder von ihren Mitschülern gehänselt. Auch die Mutter bekam die Vorurteile zu spüren. Eine häufige Frage hiess: «Wie ist es möglich, dass Sie so schlank sind und ihre Tochter so dick ist?» Immer wieder musste sie erklären, dass dies von der Cortisonbehandlung komme.
Mit 12 Jahren bekam Talajeh Beschwerden am rechten Knie – diagnostiziert wurde eine Arthritis. Heute leidet sie nicht mehr unter dieser Krankheit, kann jedoch das Knie nicht lange gebeugt halten. Um die nach wie vor bestehende Uveitis behandeln zu lassen, muss Talajeh alle zwei Wochen die Ambulanz in Tübingen aufsuchen. Da sie seit zwei Jahren keinen rheumatischen Schub mehr hatte, hofft sie, eines Tages auch die Uveitis zu überwinden. Sie möchte gerne ihr Abitur machen, Sprachen studieren und eventuell eine Schauspielschule besuchen.
Nicole (heute 22) leidet seit ihrem 8. Lebensjahr unter juveniler Polyarthritis. Die ersten Anzeichen traten nach einer Mandeloperation und Hirnhautentzündung auf. Diese Ereignisse könnten als Auslöser der rheumatischen Krankheit eine Rolle gespielt haben. Anfangs waren nur wenige Gelenek betroffen, wie das rechte Zeigefinger- und das linke Sprunggelenk. Mit 12 Jahren breitete sich die Krankheit auf fast alle Gelenke, mit Ausnahme der Kiefergelenke, aus. Seit einem Jahr sind auch Entzündungen in den Sehnen vorhanden.
Ein Schub stellt sich meistens dann ein, wenn Nicole ihn nicht brauchen kann, beispielsweise vor Prüfungen oder in der Fussballsaison. Sie hat die Beobachtung gemacht, dass ein Schub oft mit Stress zu tun hat. Die Schübe kommen unregelmässig. Oft hat sie Wochen, Monate oder Jahre Ruhe. In diesen Phasen hat sie keine Schmerzen, spürt die Morgensteifigkeit der Gelenke nicht, hat keine Bewegungseinschränkung und keinen Kraftverlust. Sie fühlt sich dann richtig gut. In dieser Zeit liebt sie es, Fussball zu spielen. Nicole, die einen sehr tapferen Eindruck macht, sagt: «Ich lebe mit meiner Krankheit», und vergleicht sie mit Fieberschüben: «Wenn ich Fieber habe, geht es mir schlecht, habe ich keins, geht es mir gut.» Inzwischen hat die junge Frau mit der Kämpfernatur eine Ausbildung zur Autolackiererin absolviert. Auf die Frage, wie sie sich während eines Schubes fühle, antwortet Nicole freimütig: «In der Schubzeit bin ich oft launisch und habe zu nichts richtig Lust. Ich falle meistens in ein tiefes Loch, aus dem ich mich dann erst Stück für Stück herausarbeiten muss.»
Kämpft sie auch mutig gegen jeden Schub an, Gefühle schmerzhafter Hilflosigkeit lassen sich nicht leugnen. «Kennen Sie das Gefühl, dass Sie sich am liebsten alles von der Seele weinen möchten, aber Sie schaffen es nicht, eine einzige Träne zu vergiessen? Es ist ein blödes Gefühl, morgens den Schmerz und die geschwollenen Gelenke zu spüren.»
Obwohl sie bei ihren Eltern und Geschwistern Unterstützung findet, fühlt sie sich in den akuten Phasen der Krankheit innerlich alleine. Doch Nicole hält mit zähem Willen durch und denkt an die schubfreien Zeiten, die ihr ein erträgliches Leben ermöglichen. Nicole glaubt, ein gesunder Mensch könne sich gar nicht vorstellen, wie sich ein Rheumakranker fühlt. Schlimm ist für sie, dass sie sich abends noch wohl fühlt und am nächsten Morgen sehr mies. Aber sie beisst immer wieder die Zähne zusammen, geht trotz Schmerzen zur Arbeit oder nimmt Urlaub, wenn eine Untersuchung ansteht.
Auf Partnerschaftsprobleme angesprochen, gibt Nicole bereitwillig Auskunft. Vor zwei Jahren wurde eine zweijährige Freundschaft beendet, weil ihr Partner kein Verständnis zeigte. «Mein Freund hat alles viel zu lässig gesehen und meinte immer, ihn störe es nicht, und er würde es schon schaffen. Auch ein Schub wäre für ihn kein Problem, selbst wenn ich im Rollstuhl sässe», so Nicole. Aber als sie nach fast zwei Jahren einen starken Schub bekam, war nichts mehr vom Verständnis des Freundes zu spüren. Im Gegenteil, er zog sich zurück, Nicole fühlte sich im Stich gelassen. Denkt sie jetzt zurück, wird ihr bewusst, dass er sich nie über Rheuma informiert, ihr Fragen gestellt oder sie zum Arzt begleitet hatte. Durch dieses Verhalten des Freundes ist Nicole nun dermassen verunsichert, dass sie von Partnerschaften nichts wissen möchte.
Zur Zeit bekommt Nicole täglich 25 Milligramm eines nichtsteroidalen Entzündungshemmers und alle vier Wochen einen Tumornekrosefaktor-Blocker per Infusion. Der Tumornekrosefaktor ist nämlich massgeblich an der Entzündung und Gelenkzerstörung beteiligt. Zweimal in der Woche erhält sie eine passive Bewegungstherapie, Wärmebehandlung und Massage. Nicole erwähnt, sie habe eine Physiotherapeutin, die sich Zeit nimmt. Während eines Aufenthalts von Nicole in der Rheumaklinik Garmisch-Partenkirchen nahm sich die Therapeutin einen ganzen Tag frei, um ihr einziges «Rheuma-Kind» zu besuchen und sich über Behandlungsmethoden und Massagegriffe zu informieren. Das hat Nicole sehr imponiert.
Eine kleine Überraschung für uns hatte Nicole auch noch parat. Sie kennt Alfred Vogels Buch «Die Leber reguliert die Gesundheit» und zur Zeit studiert sie «A. Vogel – Aktiv gegen Rheuma». Sie will sich künftig intensiver mit Ernährung befassen und hofft, die Kraft zu finden, entsprechende Ernährungsratschläge auszuprobieren.
Helga Benkendorff, Mitbegründerin des Fördervereins für an Rheuma erkrankte Kinder e.V. (FÖHRE KIDS), berichtet über ihre Tochter Viola, die schon mit knapp einem Jahr unter Schmerzen litt. Das Kleinkind schrie plötzlich nachts und tagsüber auf. Erst als Viola zweieinhalb Jahre alt war, hegte ein Kinderarzt den Verdacht, dass es sich um Rheuma handeln könnte. Es folgte eine Überweisung nach Tübingen, wo dann nach einigen Untersuchungen die Diagnose «Rheuma» gestellt wurde. Zunächst war das Kniegelenk betroffen, später das Ellenbogengelenk. Schmerzmittel erhielt Viola nur bei starken Beschwerden, die sich besonders bei nasskaltem Wetter bemerkbar machten.
Bis zu ihrem 10. Lebensjahr wurden die Schmerzattacken geringer. Viola wurde von ihrer Mutter zur Schule gebracht und wieder abgeholt. Es gab viele Tage, an denen sich die Kleine besonders am Morgen unwohl fühlte und deshalb nicht zur Schule gehen konnte. Die Mutter machte die Erfahrung, dass Mitschüler und Lehrer wenig über Rheuma wussten. Es gab Hänseleien von Mitschülern, besonders in der Phase, als eine Cortisongabe erfolgte und sie an Gewicht zunahm. Der normale Tagesablauf ist bei einem rheumakranken Kind eingeschränkt und eine Isolation vorprogrammiert, sagt Frau Benkendorff. So musste sie mit ihrer Tochter zweimal wöchentlich zur physiotherapeutischen Behandlung, einmal im Monat zur Blutuntersuchung, dann folgten regelmässige Besuche beim Augenarzt.
Damit noch nicht genug: auch zuhause wurden spezielle krankengymnastische Übungen durchgeführt. Es gab Eifersüchteleien unter den Geschwistern, besonders dann, wenn Viola in einer Schubphase war und umhegt wurde.
Vorherrschend ist die Sorge um das Kind, dann wird die Frage gestellt «Wie kann ich das alles packen?» Auch die Geschwister leiden unter der Krankheit. «Das ist wie ein Schatten im Leben und im Alltag», so Frau Benkendorff. Frau Benkendorff berichtet auch über ihre Erfahrungen mit anderen rheumakranken Kindern. So wollte ein 8-jähriger Junge nicht mehr leben, da sämtliche Therapien und Medikamente keine Besserung brachten. Er erhielt psychotherapeutische Begleitung (Gespräche mit dem Kind, den Eltern) und neue Medikamente, die schliesslich eine allmähliche Besserung einleiteten.
Monika Hug, Krankenschwester in der Rheuma-Ambulanz, hört ab und zu Bemerkungen wie «Rheuma ist nicht so schlimm, damit kann man ja leben» oder «Ihr Kind hat Rheuma? Das kann doch nicht sein. Rheuma bekommen doch nur alte Leute.» Diese Unwissenheit macht den betroffenen Kindern das Leben unnötig schwer. Manche Kinder möchten nicht, dass die Krankheit in ihrer Klasse publik wird, andere gehen sehr offen damit um. Jüngere Kinder sind eher bereit, die Krankheit «zuzugeben». Eine rheumakranke Jugendliche äussert: «Ich will kein Mitleid. Ich will einfach nur normal leben.» So unterschiedlich der Umgang mit der Krankheit ist, eins haben alle Rheumakinder gemeinsam: Sie müssen hart im Nehmen sein und kämpfen, um die innere Unsicherheit und Ängste zu überwinden («Wann kommen die Schmerzen wieder?»).
Obwohl leider keine Seltenheit, ist über das kindliche Rheuma bis heute in der Öffentlichkeit wenig bekannt. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen bekommen in der Gesellschaft, im Freundeskreis, in der Verwandtschaft, in der Schule oder im Beruf kaum Rückenstärkung. Im Gegenteil, oft stösst der Rheumatiker auf Unverständnis. Deshalb sind Initiativen von Elternkreisen rheumakranker Kinder und kinderrheumatische Ambulanzen so enorm wichtig. Diese Einrichtungen unterstützen die Patienten und ihre Familien in jeder Form. Die Institutionen haben sich zum Ziel gesetzt, gemeinsam Bewältigungsstrategien im Umgang mit der Erkrankung zu entwickeln. Leider ist aufgrund von Sparmassnahmen die Versorgung gefährdet, deshalb sind private Spenden notwendig. Der in Tübingen ansässige Förderverein für an Rheuma erkrankte Kinder e.V. sammelt Gelder, um die dringend notwendige Versorgung rheumakranker Kinder, Jugendlichen und deren Familien zu unterstützen.
* Quellen: Förderverein für an Rheuma erkrankte Kinder e.V. (FÖHRE KIDS) und Rheuma-Ambulanz, Tübingen