Barfusswandern ist im Trend. Der Moorweg auf der Wolzenalp im Toggenburg beispielsweise schmeichelt den Füssen und tut auch der Seele gut. Voraussetzung: Sie gehen barfuss. Das Rietbach-Hochmoor bietet eine einzigartige Urlandschaft.
Schusters Rappen landen im Rucksack. Bei der ersten Berührung mit den spitzen Steinchen der Schotterstrasse schlagen die Fusssohlen Alarm. Das Leiden ist zum Glück nur von kurzer Dauer. Wir lassen die Kieselsteine nach etwa hundert Metern rechts liegen und wenden uns einem Untergrund zu, der den Füssen schmeichelt: Moor.
Welch ein Gefühl! Bei jedem Schritt sinken wir einige wenige Zentimeter ein, wie beim Gehen über ein Wasserbett. An besonders feuchten Stellen dringt Wasser zwischen den Zehen hindurch, manchmal spritzt es bis an die Waden oder Hosenbeine, falls man diese nicht vorher weit genug hochgekrempelt hat. Das sollte man tun, will man den Barfuss-Wanderweg im Rietbach-Hochmoor oberhalb von Krummenau unbeschwert geniessen. Dreckige Füsse und verspritzte Waden gehören dazu. Wer seine Füsse nicht aus den Wanderschuhen lässt, dem bleibt das neue Wandergefühl auf der Wolzenalp im Toggenburg vorenthalten.
Die Wanderung im Moor kommt aber nicht nur einer Streicheleinheit für Füsse und Seele gleich – sie ist auch ein Gang durch eine einzigartige Urlandschaft, die sich in den letzten tausend Jahren nur wenig verändert hat, von den Eingriffen durch den Menschen einmal abgesehen.
Wo der Grund wasserundurchlässig war, entstanden flache Seelein und Tümpel. Pflanzen- und Tierreste zersetzten sich im sauerstoffarmen Wasser nur unvollständig, Torfschichten lagerten sich im Wasser ab. Ab einer Höhe von 30 Zentimetern sprechen Experten von einem Moor.
Unser Weg führt durch ein Hochmoor, das nur mit Regenwasser gespeist wird und vor allem in Gebieten mit viel Niederschlag vorkommt. Das Hochmoor von Rietbach gehört in der Schweiz zu jenen 91 Moorlandschaften von nationaler Bedeutung, die unter besonderem Schutz stehen.
Sie bilden natürliche Archive, in denen allerlei Ablagerungen wie Skelette, Holzstämme aus vergangenen Jahrhunderten, Werkzeuge oder feinster Blütenstaub konserviert sind. All diese Funde benützt die Moorarchäologie, um die Klima- und Vegetationsgeschichte sowie die Besiedelung durch den Menschen zu rekonstruieren. In neuerer Zeit werden intakte Hochmoore auch zur Ermittlung des Verlaufs von Umweltbelastungen untersucht.
Das Bewusstsein für den Wert dieser Naturschätze war allerdings nicht immer so gross: Bis vor dem zweiten Weltkrieg wurde hier oben in grossen Mengen Torf gestochen. Die kleine Fotoausstellung im Bergrestaurant auf der Wolzenalp zeigt Einheimische zusammen mit deutschen und französischen Arbeitern beim Torfstechen. Die Eingriffe haben Spuren im Moor hinterlassen, die heute noch sichtbar sind: ausgetrocknete Furchen, Gräben, Löcher.
Manchmal verursacht auch die Landwirtschaft durch unerlaubtes Befahren mit Traktoren Schäden im Moor; seine Gräser dürfen erst nach der Blütezeit ab dem 1. September gemäht werden. Das Moor trocknet aus, wenn ihm die schützende Torfschicht genommen wird. Zerstört man den Torfboden, braucht es einige tausend Jahre, bis er sich wieder regeneriert. Auch bei idealen Bedingungen wächst die Torfschicht höchstens um einen Millimeter pro Jahr.
Regelmässig werden hier oben auf 1115 Metern Barfuss-Wanderungen durchs Hochmoor durchgeführt. Angefangen hatte alles mit einer «Frauenwanderung», die ein Experte des botanischen Gartens St. Gallen begleitete. Mittlerweile streiften schon viele auf zarten Sohlen über den weichen Untergrund.
Die kommende Dreiviertelstunde wird für mich durch zahlreiche Bekanntschaften mit bisher nie gehörten Pflanzennamen geprägt sein – Pflücken ist allerdings verboten. Die erste Begegnung machen wir mit stechenden Tannennadeln, denn unser Pfad führt unter den Ästen einer Gruppe Rottannen vorbei. Die Fussmassage ist aber bald überstanden – der weiche Torf hat uns wieder.
Plötzlich halten wir abrupt: eine Sonnentau-Kolonie! Unscheinbar warten die Pflänzchen im Schatten grosser Blumen und Gräser auf ihre Beute. Den romantischen Namen verdanken sie ihren roten Blüten, an denen helle dünne Fäden hängen. Spätestens jetzt lohnt es sich, eine Lupe in Griffnähe zu haben. Insekten, die sich auf die Blüten wagen, kleben fest und werden innerhalb von Minuten zersetzt.
Zur typischen Moorvegetation gehören zum Beispiel auch das breitblättrige Knabenkraut, eine Orchideenart, das Scheuchzer-Wollgras oder die Blutwurz; es heisst, der Farbstoff ihrer gelben Blüten könne Weisswein in roten Wein verwandeln. Weiter vorne treffen wir auf einen weiteren Insektenvertilger: das «Gemeine Fettblatt». Landet eine Mücke auf einem der klebrigen, hellgrünen Blätter mit feinem Schuppenmuster, gibt es kein Entrinnen mehr.
Die Mehrzahl der Blumen hier ist jedoch friedlicher Natur. Zum Beispiel die gelbe Trollblume, der lila Lungenenzian, das Kuckucks-Knabenkraut oder die rosa Blüten der Moorbeeren, die Heidelbeeren ähneln – vom eher faden Geschmack mal abgesehen. Verschiedene Gräserarten gibt es zu bewundern, zum Beispiel das Seggen-Gras, das zur Gruppe der Urgräser gehört. Dazwischen wächst meistens Moos. Je grüner desto besser: Bei Wassermangel verfärbt sich das Moos bräunlich. Dann ist meist auch das Moor in keinem guten Zustand mehr.
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Wandern ohne Schuhe verleitet dazu, sich vor allem darauf zu konzentrieren, was unter unseren Füssen liegt. Die Angst, plötzlich einzusinken, ist laut unserer Expertin Elisabeth Kobelt jedoch unbegründet. Also dürfen die Blicke ruhig auch in die Höhe schweifen, zum Beispiel Richtung Säntis, auf die Churfirsten, den Stockberg oder den Speer, Europas höchsten Nagelfluhberg (1950 Meter).
Ein kleines Insekt, das mich soeben in den Fuss gezwickt hat, holt meinen Bergblick schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Damit muss man rechnen. Der hautnahe Kontakt mit der Natur steht beim Barfusswandern im wahrsten Sinne des Wortes im Zentrum. Da kann es auch mal zwicken, stechen oder kratzen.
Verschiedene Tierarten leben im Moor, besonders Mäuse, Laubfrösche und Vögel. Seltene und sehenswerte Insekten soll es hier geben, etwa den Hochmoor-Selbling, einen Schmetterling, oder die Hochmoor-Mosaikjungfer, eine Libelle. Leider haben sich die beiden Schönheiten bis jetzt noch nicht blicken lassen. Auch Füchse und Rehe sind vereinzelt im Moor anzutreffen.
Der Speiseplan des Moores mit der nicht so üppigen und nährstoffreichen Vegetation kann allerdings nicht mit jenem einer Magerwiese verglichen werden. Diese findet man meist am Rande des Moores. Zur Hochmoorlandschaft gehört ein natürlicher, fliessender Übergang vom eigentlichen Hochmoor über vereinzelte Baumgruppen und kleine Wäldchen zu den Rieden, den mageren Feuchtwiesen mit vielfältiger Flora. Dieses einheitliche Landschaftsbild zeigt sich besonders schön auf dem Hochplateau Rietbach. Moore finden sich jedoch im ganzen Toggenburg. So kann man auf dem Wanderweg von der Wolzenalp nach Nesslau verschiedene Flachmoore bewundern, die bis zur Oberfläche mit Grund- oder Hangwasser durchnässt sind und über eine artenreichere Vegetation als die Hochmoore verfügen.
Unsere Barfuss-Exkursion neigt sich langsam dem Ende zu. Über eine Kuhweide verlassen wir den Moorweg und gelangen auf eine Schotterstrasse, wo wir in Schusters Rappen wieder besser aufgehoben sind.
Autor: Fabrice Müller
Weitere Barfusswege in der Schweiz
Der Barfussweg führt über das Gontner Hochmoor von Jakobsbad nach Gontenbad. Wiesen und Bäche wechseln mit kurzen steinigen oder asphaltierten Streckenabschnitten. Zu Beginn und am Ende gibt es Kneipp-Stationen, die das Füssewaschen erleichtern. Auf halber Strecke, beim «Toobeschopf-Museum», kann man beim Armbad-Brunnen nach Kneipp die Arme erfrischen. In Gontenbad befindet sich auch das bekannte Naturmoorbad.
Unter dem Label «alpenOase.ch» wurde im Sommer 2010 auf dem Flumserberg zwischen der Kneippanlage Grappawald und der Rastplatzhütte «Heidi & Peter» ein ca. 650 Meter langer Barfusspfad realisiert. Die Gäste gehen über sieben Barfussinseln, die mit verschiedenen natürlichen, einheimischen Materialien gefüllt sind, sammeln neue Sinneseindrücke und tun ihren Füssen etwas Gutes.
Auf der Cardada, bei der Bergstation der Seilbahn, gibt es einen «Reflexzonenparcours», der zum Fühlen unterschiedlicher Bodenbeläge und Materialien mit blossen Füssen einlädt.