Allergien haben in den vergangenen 100 Jahren dramatisch zugenommen. Unser Lebensstil, der Klimawandel und Umweltfaktoren werden häufig als Gründe dafür genannt. Am Schweizerischen Institut für Allergie- und Asthmaforschung (SIAF) ist man einer weiteren Ursache auf der Spur.
Autorin: Andrea Pauli, 04/20
Allergien steigen epidemisch an – und zwar markant seit den 1960er-Jahren. 2016 ging man in Europa schon von einer Allergensensibilisierung bei 55 Prozent der Bevölkerung aus. In der Schweiz haben bereits 50 Prozent der Bevölkerung Antikörper gegen Allergien gebildet. Hypothesen zu den Gründen für diese Entwicklung gibt es mehrere. Einem ganz besonderen Grund ist man am Schweizerischen Institut für Allergie- und Asthmaforschung (SIAF) in Davos auf der Spur.
«Es war klar, dass sich nach 1960 im Leben der Menschen etwas erheblich verändert hatte; die Hauptfrage war, was genau?», sagt Direktor Prof. Cezmi A. Akdis. Sein Team widmet sich seit mehr als 20 Jahren der Erforschung der Epithelbarriere. Das Epithel ist das Grenz- oder Deckgewebe, das die inneren und äusseren Oberflächen des Körpers auskleidet und zu ihrer Umgebung abgrenzt. Wie sich zeigte, begannen sich in den 1960er-Jahren die Waschmittel zu verändern; die Produzenten verwendeten nun Tenside und Enzyme für höhere Waschkraft. Da setzten die Forscher des SIAF an.
«Lasst uns die Wirkung dieser Substanzen auf die Epithelschranke prüfen», sagten sie sich – und veröffentlichten bereits 2016 in einem ersten Aufsatz, wie sich kommerzielle Reinigungs- und Waschmittel auswirken.
Die Erkenntnis war: Diese Produkte ruinieren offenbar die schützende Gewebeschicht. «Die Epithelbarriere ist immens wichtig für unseren Organismus. Ist sie zerstört, können Allergene in tiefere Gewebeschichten dringen, mit dem Immunsystem interagieren und allergieauslösend wirken», erläutert Prof. Akdis. Die Wissenschaftler am SIAF identifizierten Reinigungsmittelrückstände nach dem Spülvorgang als Ursache für eine gestörte Integrität der Epithelbarriere.
«Wir untersuchten alle denkbaren Mechanismen auf zellulärer Ebene, besahen uns 20 000 Gene und deren epigentische Regulation im Hinblick auf Wasch- und Reinigungsmittel», so Prof. Akdis, «das war Frontforschung.» Das Wissen, das man diesbezüglich am SIAF habe, sei folglich sehr profund.
Erforscht wurde beispielsweise, dass Waschmittel mit einer Verdünnung von 1:10 000 die Epithelzellen direkt abtötet. Bei einer Verdünnung 1:50 000 wird die Epithelbarriere geschädigt, ohne die Zellen gänzlich zu töten. Gene, die dafür sorgen, dass die Zellschichten undurchlässig sind, waren zudem weniger präsent. Aufgefallen sind dem Davoser Forscherteam auch die als besonders effizient und vor allem extrem wassersparend angepriesenen Schnellwäscher, die in Gastronomie und Hotellerie genutzt werden. Innert 60 Sekunden wird das Geschirr darin unter hohem Druck vom Schmutz befreit. Die Unternehmen seien sehr stolz darauf, dass diese Geräte gerade mal drei Liter Wasser pro Reinigungsgang brauchen, so Prof. Akdis. Doch was mache die gewerblichen Reinigungsmittel dann so effizient? «Bleichmittel in hoher Dosierung – extrem toxisch.»
Waschmittelrückstände verbleiben auch bei noch so leistungsstarken Waschmaschinen in der Wäsche: 1 bis 10 ppm (parts per million) der bio- bzw. gen-technisch hergestellten Waschmittelenzyme haften üblicherweise im Gewebe. Bilden sich sogenannte Waschmittelnester, kann das den Wert deutlich erhöhen. Wird das Wäschestück während des anschliessenden Tragens feucht, können die Enzyme ihre Aktivität auch auf der Haut entwickeln. Schmale Bänder aus Membranproteinen, «tight junctions» genannt, also «dichte Verbindungen», verschliessen normalerweise den Zellzwischenraum. Sind sie geöffnet, dringen Allergene, Schadstoffe, Gifte und Mikroben ein. Waschmittelenzyme sind in der Lage, diese tight junctions zu durchbrechen.
Peter F. Aldermann und Dr. Thomas Bohrer sprechen in ihrem Buch «Allergien. Die wahren Ursachen» infolgedessen von «Killer-Enzymen». Bei Beschäftigten in der Waschmittelindustrie sind die Zusammenhänge deutlich: Asthma, chronische Bronchitis und Rhinitis (Entzündung der Nasenschleimhaut) treten gehäuft auf. Nicht umsonst ist Ganzkörperschutzkleidung an diesen Arbeitsplätzen Pflicht. Gleichwohl können feinste Mikrostäube z.B. aus Waschmittelpulver tief in die Schleimhäute eindringen.
Die zweite Allergie-Epidemie zeichnet sich in den 2000er-Jahren ab «und das ist die Nahrungsmittel-Allergie», so Prof. Akdis. Er und sein Team verschafften sich einen Literaturüberblick zur Verwendung von Lebensmittel-Emulgatoren (allesamt zugelassene Stoffe!), die für eine cremige Konsistenz und längere Haltbarkeit sorgen. Letztere ergibt sich durch antibakterielle Zusatzstoffe. Das, so Prof. Akdis, lasse sich gut beim Brot erkennen – schimmelte es früher bereits nach drei Tagen, so könne man es heute viel länger liegen las-sen. Immunologen erhielten durch Maus-Versuche Hinweise darauf, dass Emulgatoren schon in geringer Konzentration massiv in die Darmflora eingreifen. Auch hier kommen dann wieder die tight junctions ins Spiel, die in ihrer Funktion als Teil der Darmbarriere gestört und dann beispielsweise für Allergene durchlässig werden.
Es gibt eine Reihe von Hypothesen, was sonst noch allergieauslösend wirken kann. Hier die gängigsten Erklärungen.
Je wärmer es wird, desto länger und intensiver ist die Pollensaison. Hasel, Birke und Esche z.B. blühen rund zwei bis drei Wochen früher als noch vor 30 Jahren. Höhere Temperaturen begünstigen, dass neue Pflanzen einwandern, deren Pollen ebenfalls Heuschnupfen auslösen können.
Wichtig ist hier der Begriff der «Atopie» (altgriech. atopía für Ortlosigkeit). Diese ist definiert als eine erbliche Neigung, in Form von bestimmten allergischen Reaktionen (insbesondere vom Sofort-Typ/Typ I) auf den Kontakt mit Stoffen aus der Umwelt mit der Bildung von IgE-Antikörpern zu reagieren.
Wohlstand führt zu mehr Hygiene; das Immunsystem ist deshalb möglicherweise unterfordert. Natürliche Keime fehlen; folglich sucht sich die Immunabwehr eigentlich harmlose Substanzen als Gegner und attackiert diese über Gebühr.
Falsche Ernährung (Fertigprodukte) sowie ungesunde Lebensweise (Rauchen, Alkohol) erhöhen das Risiko, eine Allergie zu entwickeln. Exotische Nahrungsmittel und die Dauerverfügbarkeit eigentlich saisonaler Lebensmittel können eine Rolle spielen.
Luftschadstoffe, z.B. Feinstaubpartikel verändern die Eiweisse der Pollenkörner, dadurch werden diese aggressiver und allergener. Das kann die Atemwege zusätzlich reizen. Ozon kann die Schleimhäute ebenfalls reizen und Symptome von Allergie und Asthma verschärfen. Je höher die Ozonbelastung, desto stärker die Belastung für die Lunge. Auch Mikroplastik steht im Verdacht, mit Allergien im Zusammenhang zu stehen.