Als Auslöser für Allergien und Autoimmunerkrankungen hört man immer wieder: überschiessendes Immunsystem. Um das verstehen zu können, ist es sinnvoll, einzelne Aspekte der Aktivitäten des Immunsystems zu kennen.
Autorin: Ingrid Zehnder, 03.20
Mithilfe einer riesigen Menge an Zellen, Genen, Proteinen und weiteren Komponenten unterscheidet das System zwischen körpereigen und körperfremd. Es spürt Infektionserreger auf, es reagiert auf Gefahr, es schiebt Immunreaktionen an und bremst sie ab – und tut das alles gleichzeitig. Und obwohl alles darauf ausgelegt ist, ausschliesslich fremde und schädliche Zellen und Gewebe anzugreifen, können Fehler passieren. Dann werden gesunde Körperzellen zerstört.
Immunzellen sind Zellen, die die spezielle Aufgabe haben, den Organismus vor Krankheiten zu schützen. In dem hochkomplexen System stehen viele Zellarten in komplizierten wechselseitigen Beziehungen, tauschen Informationen aus und stimmen ihre Aktivitäten untereinander ab. Verschiedene Arten von Immunzellen bewegen sich zwischen unseren Organen und Geweben, wandern in Lymphknoten hinein und wieder heraus. Immer mit dem Ziel, Krankheiten möglichst abzuwehren.
Die Fähigkeit des Körpers, sich zu wehren, verändert sich ständig. Die Stärke des Immunsystems schwankt unter dem Einfluss von Tageszeit, Stress, psychischer Verfassung und Alter. So ist die Zahl der Immunzellen abends am höchsten. Stress, Schlaflosigkeit und schwierige Seelenzustände wirken sich negativ aus. Bei älteren Menschen werden bestimmte Immunzellen weniger und sind auch nicht mehr so gut in der Lage, Krankheiten zu erkennen.
Jeder Mensch bekommt sie von Natur aus mit: die angeborene (auch: unspezifische) Immunantwort. Sie ist die erste Verteidigung gegen Krankheitserreger. Sie ist imstande, die Art eines Erregers zu erkennen und spezialisierte Immunzellen in Gang zu setzen, welche die charakteristischen Strukturen der verschiedenen Mikroorganismen (Pilze, Bakterien, Viren) aufspüren und zerstören. So verfügt das unspezifische Immunsystem u.a. über zahlreiche Arten natürlicher Killerzellen, die sich – grob gesagt – an alles anheften, was schädlich oder körperfremd ist. Weiterhin über viele Arten von Phagozyten bzw. Makrophagen (Fresszellen), die z.B. in der Lage sind, Bakterien zu umschlingen und unschädlich zu machen und selbst Tumorzellen zu zerstören.
Die Zellen des sogenannten spezifischen Immunsystems erkennen über passgenaue Rezeptoren an ihrer Oberfläche, welche «Feinde» sie angreifen müssen. Heften sich diese Rezeptoren an die Aussenhülle eines Bakteriums oder eines Virus, wird eine Immunreaktion in Gang gesetzt. T-Zellen werden durch den Kontakt mit den Erkennungszeichen aktiviert und können B-Zellen anregen, spezifische Antikörper gegen den Auslöser zu bilden.
B-Zellen sind weisse Blutkörperchen, die gefährliche Erreger oder Moleküle neutralisieren können. Dazu produziert die Zelle auf ihrer Oberfläche einen massgeschneiderten Antikörper. Erkennt eine B-Zelle mit dem richtigen Antikörper etwas Fremdes oder trifft auf einen passenden Erreger, teilt sie sich, und der hilfreiche Antikörper wird in grosser Menge produziert. Bei rund 10 Milliarden B-Zellen mit rund 10 Milliarden unterschiedlich geformten Antikörpern ist das Immunsystem bestens ausgerüstet, nahezu alles Fremde und Schädliche zu erkennen.
Jedes Mal, wenn unser Körper gegen eine Infektion ankämpft, behält er ein paar Immunzellen zurück, welche diese Infektion am besten beherrscht haben. Diese langlebigen Zellen – die Gedächtniszellen des Immunsystems – sorgen dafür, dass der Körper bei der zweiten Begegnung mit dem gleichen Erreger schneller fertig wird. (Aus diesem Grund wirken Impfstoffe.)
Durch Fehler im System können aber auch körpereigene oder körperähnliche Merkmale abgespeichert werden. Dann werden gesunde Zellen zur Zielscheibe übereifriger Immunzellen.
Noch birgt das Immunsystem viele Geheimnisse. Nachgewiesen ist eine enge Beziehung zwischen einer herabgesetzten Immunreaktion und negativem Stress sowie dem Empfinden von Ärger oder Aggression. Untersuchungen haben gezeigt, dass chronischer Stress und eine schwache Immunantwort in direkter Verbindung stehen. Und zwar über das körpereigene Hormon Cortisol, welches den Körper eigentlich in vielen Situationen, auch gefährlichen oder belastenden, handlungsbereit macht. Gleichzeitig wird das Immunsystem gedämpft, was kurzfristig völlig in Ordnung ist.
Anders sieht es bei Dauerstress aus: Cortisol zirkuliert in einer Konzentration im Blut, welche die Wirkung der Abwehrkräfte herabsetzt. Das heisst: Wunden heilen langsamer und Krankheitserreger werden weniger effektiv bekämpft.
Stress kann auch allergische Reaktionen verschlimmern.
Wie findet der Körper eigentlich die richtige Balance zwischen bekämpfen und verteidigen?
Ein Beispiel: In unserem Darm gibt es Billionen von Bakterien und eine unbekannte Zahl an Pilzen und Viren. Das Darmmikrobiom ändert sich im Laufe eines Lebens, unter Umständen sogar nach jeder Mahlzeit. Das Immunsystem muss in diesem Milieu imstande sein, tolerant auf Veränderungen zu reagieren und gleichzeitig keine mögliche Gefahr zu übersehen.
Vor unerwünschten Angriffen auf hilfreiche Bakterien und körpereigene Substanzen schützen (nicht nur im Darm) sogenannte «regulatorische T-Zellen». Diese Immunzellen unterdrücken die Immunantwort, während «normale» T-Zellen dazu da sind, die Abwehrreaktion in Gang zu setzen. Geregelt wird dies durch ein bestimmtes Gen (FOXP3), von dessen Aktivität abhängt, ob eine normale T-Zelle, deren Aufgabe im Ankurbeln einer Reaktion besteht, sich in eine regulatorische T-Zelle umwandelt, die das Gegenteil tut.
Übertriebene Hygienemassnahmen können, so die Ansicht von Allergologen, ein Grund dafür sein, dass das Immunsystem unterbeschäftigt ist, sich langweilt und in Ermangelung von Erregern eigentlich harmlose Stoffe aus Umwelt und Nahrung attackiert.
Im Darm gibt es viele weitere Faktoren, welche die Aktivität des Immunsystems regeln. Die gute Nachricht ist: Eine ballaststoffreiche Ernährung gehört dazu. Denn die Bildung regulatorischer T-Zellen wird angeregt, wenn Bakterien Ballaststoffe abbauen.
Eine doppelte Funktion im Immunsystem haben auch die dentritischen Zellen. Ihre verzweigten Ausläufer stehen wie die Äste eines Baumes (griech. Dendron = Baum) vom Zellkörper ab. Sie können die feinen Fortsätze unablässig ausstrecken und wieder einziehen und sind sehr effizient darin, verschiedene Arten von Eindringlingen zu entdecken. Sie kommen im Blut, in der Haut, in den Lymphknoten und fast allen inneren Organen vor. Es gibt vielfältige Variationen; grundsätzlich aber werden zwei Stadien unterschieden.
Einmal die sogenannten «unreifen» dentritischen Zellen, die vor allem an Orten vorkommen, die wie Haut, Magen und Lunge mit der Aussenwelt in Kontakt stehen. Sie durchstreifen den Körper, spüren fremde und unerwünschte Substanzen auf, die sie «verschlucken» und so zerstören. Nach getaner Arbeit wird eine «unreife» Zelle zu einer «reifen» Zelle. Reife dentritische Zellen haben die einzigartige Fähigkeit, die Immunreaktion anderer Immunzellen, etwa der T-Zellen in Milz und Lymphknoten, wirkungsvoll zu aktivieren. So weit, so gut. Doch: Dendritische Zellen können Immunreaktionen nicht nur anstossen, sondern auch verhindern. So sind sie in der Lage, Angriffe auf gesunde Zellen oder Gewebe abzuwehren.
Der umfassende Gesundheits-Newsletter von A.Vogel erscheint 1 x pro Monat und enthält Informationen, Tipps, Wettbewerbe und vieles mehr – rund um alle Gesundheitsthemen.
Nicht nur die direkte Kommunikation zwischen den Immunzellen spielt eine Rolle. Ein Heer an löslichen Eiweissen dient der Verständigung zwischen Zellen, Geweben und Organen und der Koordination des gemeinsamen Kampfes aller Beteiligten gegen Angriffe. Es handelt sich um die Hormone des Systems; bezeichnet werden sie als Zytokine. Die Bedeutung der verschiedenen Zytokine für das Funktionieren des Körpers ist immens. Sie steuern die Reaktionen sowohl des ererbten als auch des erworbenen Immunsystems. Einige dieser Botenstoffe schalten Immunzellen an, andere schalten sie ab, manche steigern die Zellaktivität, manche mindern sie. Einige wirken entzündungshemmend, andere entzündungsfördernd.
Zytokine gelten auch als Förderer des Zellwachstums sowie der Erneuerung bzw. Nachproduktion absterbender Zellen. Zu den Zytokinen zählen zudem die Interferone und Interleukine.
Man kennt bis heute 17 verschiedene Interferone mit ganz spezifischen Aufgaben. Sehr pauschal gesagt, werden sie von verschiedenen Zellen im Körper produziert, um die Ausbreitung einer Infektion im Zaum zu halten oder eine gerade stattfindende Immunantwort zu verstärken.
Interleukine sind Proteine, die zwischen (= inter) verschiedenen Arten von weissen Blutkörperchen (Leukozyten) vermitteln. Etwa 40 Interleukine (IL) sind bisher identifiziert. Sie haben eine Vielzahl an spezifischen, durchaus auch gegensätzlichen Wirkungen. Ein bestimmtes Interleukin (IL-10) kann vor unerwünschten Immunreaktionen schützen, indem es nach einer überstandenen Infektion die Immunantwort abstellt. Es spielt auch eine wichtige Rolle im Darm, denn dort hält es normalerweise Immunzellen in Schach, damit sie nicht auf harmlose Bakterien losgehen.
Ein Zytokin wird als Tumornekrosefaktor (TNF/TNF-a) bezeichnet, weil seine Eigenschaft, Tumorzellen zu zerstören, zuerst beschrieben wurde. Doch der Botenstoff hat äusserst vielseitige Aufgaben; er wirkt auf den Fettstoffwechsel, die Blutgerinnung, die Insulinresistenz. TNF spielt auch bei allen entzündlichen Prozessen eine wichtige Rolle, denn er löst sie aus und verstärkt sie. Um eine (normale) Abwehrreaktion in Gang zu bringen, ruft TNF verschiedene Immunzellen und weitere (entzündungsfördernde) Zytokine herbei und erzeugt Fieber. Eine lokal erhöhte Konzentration des Signalstoffs führt zu den typischen Entzündungssymptomen wie Rötung, Schwellung, Schmerz.
Bei chronischen entzündlichen Darm-, Gelenk- oder Hauterkrankungen kommt TNF-a in grossen Mengen vor. Durch die andauernde Entzündung wird im Laufe der Zeit das gesamte Immunsystem überstimuliert. Es entstehen Autoimmunerkrankungen, die sich, etwa bei rheumatischen Erkrankungen, gegen körpereigene Gewebe wie Knorpel und Knochen richten.
TNF-Antikörper können als Arzneistoffe entwickelt werden. Sie bewirken – leider nicht bei allen Betroffenen – zwar eine Linderung der Beschwerden, aber keine Heilung. Durch die Ausschaltung von TNF wird auch die Produktion anderer entzündungsfördernder Zytokine gedrosselt.
Da TNF zwischen Gehirn und Immunsystem vermittelt und die Schmerzwahrnehmung beeinflusst, können TNF-Hemmer die Schmerzempfindlichkeit und das Gefühl von Abgeschlagenheit und Müdigkeit positiv beeinflussen. Die Blockade des Tumornekrosefaktors hat jedoch einen entscheidenden Nachteil: Der Eingriff ins Immunsystem hemmt dessen Wirksamkeit und schwächt allgemein die Verteidigung gegen Infektionen.
Auch natürlich vorkommende Substanzen wie Curcumin aus Kurkuma, die Boswelliasäuren im Weihrauch und die Catechine in grünem Tee können die Wirkungen von TNF hemmen (Einnahme nur auf ärztlichen Rat).