An der Frage, warum ihre Kinder nachts (wieder) einnässen, verzweifeln manche Eltern. Die Ursachen sind vielfältig. Eine umfassende Diagnose ist genauso wichtig wie Gelassenheit im Umgang mit dem Thema.
Autorinnen: Ingrid Zehnder/Silke Lorenz, 11/21
Wenn das Kind ins Bett macht, sind viele Eltern verunsichert. Das müsste nicht sein, denn es gibt bewährte Ansätze, damit umzugehen.
Von Bettnässen spricht man offiziell erst dann, wenn das Kind nach dem fünften Lebensjahr an mindestens zwei Nächten pro Monat ins Bett pieselt. Gut zwei Drittel der Bettnässer wachen jedoch an mehreren Nächten pro Woche in nassen Bettlaken auf. Tagsüber haben die Kinder keine Probleme mit der Blasenkontrolle.
Im Allgemeinen entwickeln Kinder ab zwei Jahren allmählich ein Gefühl für Harndrang und eine volle Blase. Mit dem grösser werdenden Fassungsvermögen der Blase können die meisten im Alter von vier bis fünf Jahren die Blasenentleerung willentlich kontrollieren und sind zunächst tagsüber und dann auch nachts trocken. Doch passen solche Durchschnittswerte nicht auf jedes Kind. Und so machen etwa 20 Prozent der Fünfjährigen, zehn Prozent der Siebenjährigen und fünf Prozent der Zehnjährigen nachts noch ins Bett. Jungs sind nahezu doppelt so häufig betroffen wie Mädchen.
Die Zahlen zeigen, dass im Schlaf einnässende Kinder keine Einzelfälle sind; im Gegenteil, Experten sprechen von einer der häufigsten Störungen (medizinisch: Enuresis nocturna) im Kindesalter. Die Weltgesundheitsorganisation WHO und mit ihr weitere Institutionen bezeichnen Bettnässen gar als zweithäufigste chronische Erkrankung (nach Allergien). Die Erfahrung zeigt jedoch, dass Abweichungen von der Norm manchmal vorschnell als Krankheit eingestuft werden.
«Trockenwerden» ist vor allem das Ergebnis eines biologischen Reifungsprozesses, der bei jedem Kind anders und unterschiedlich schnell abläuft. Im Allgemeinen besteht kein Grund zur Panik – immerhin werden 13 bis 15 Prozent der über Fünfjährigen jedes Jahr von ganz alleine nachts trocken.
Meist liegt die Ursache für das Bettnässen in einer verzögerten Entwicklung des für die Blasenkontrolle zuständigen Nervensystems; das heisst, die komplizierten Kontrollmechanismen, welche die Blasenfunktion und das Aufwachen steuern, sind noch nicht vollständig ausgebildet.
In manchen Fällen wird das Hormon ADH (antidiuretisches Hormon) ungenügend ausgeschüttet. ADH reguliert den Elektrolyt- und Wasserhaushalt. Der Botenstoff der Hirnanhangdrüse wird in einem von der Tageszeit bestimmten Rhythmus in die Blutbahn abgegeben und drosselt in der Nacht die Harnproduktion, so dass normalerweise nur etwa halb so viel Urin produziert wird wie am Tag. Wird nachts nicht genug ADH (früher auch Vasopressin genannt) ausgeschüttet, kann es wegen der grossen Urinmenge unbemerkt zum «Überlaufen» der Blase kommen.
Viele Eltern berichten, dass ihr bettnässendes Kind sehr schwer aufzuwecken sei. Einige Kinder würden – im Gegensatz zum Rest der Familie – nicht einmal aufwachen, wenn die elektronischen Weckalarme losgehen. Die Forschung in diesem Bereich hat widersprüchliche Ergebnisse gezeigt. Kinder machen das Bett während allen Schlafphasen nass, nicht nur in den tiefsten. Eine Studie von 2008 zeigt jedoch, dass bettnässende Kinder schwerer als nicht betroffene Gleichaltrige aufzuwecken sind, was auf eine verzögerte Reifung des Aufwachmechanismus hinweisen könnte. Es gibt auch Hinweise darauf, dass ungenügend vorhandenes ADH es schwerer machen könnte, vom Schlaf in den Wachzustand zu kommen.
Bettnässen ist ein Tabuthema. Kinder empfinden das Aufwachen in einem nassen Bett als frustrierend, und sie schämen sich. Dazu kommt die Sorge, ausgelacht und gehänselt zu werden. Insbesondere Ausflüge, Ferienlager oder Übernachtungen bei Freunden sind problematisch; aus Unsicherheit verzichten die Betroffenen lieber auf diese Vergnügen, was zu sozialer Ausgrenzung führen kann und wiederum den Leidensdruck erhöht.
Eltern wissen oft nicht, wie sie dem Kind helfen können, und fürchten, ihnen würden Erziehungsfehler bzw. die Verantwortung für seelische Probleme des Kindes in die Schuhe geschoben. Diese Sorge ist unberechtigt. Das Urinieren (Miktion) im Schlaf hat – entgegen früherer Theorien – bei Kindern, die nachts noch nie trocken waren, nichts mit seelischen Problemen zu tun.
Anders verhält es sich bei Kindern, die länger als sechs Monate nachts vollkommen trocken waren und plötzlich wieder ins Bett machen (medizinisch: sekundäre Enuresis nocturna). Bei ihnen können einschneidende Erlebnisse (Verlust eines Familienangehörigen, Geburt eines Geschwisterkindes, Scheidung der Eltern o.ä.) die Ursache sein. Dann ist eine psychologische/psychotherapeutische Beratung notwendig.
Es gibt kein «Bettnässer-Gen», wohl aber eine Veranlagung. Eltern sollten also ihrerseits nachforschen, in welchem Alter sie selbst nachts trocken wurden. Denn Bettnässen bzw. die damit verbundene Reifeverzögerung kann «weitergegeben» werden. Die Veranlagung beträgt 45 Prozent, wenn ein Elternteil betroffen war und 75 Prozent, wenn Mutter und Vater betroffen waren.
Am besten, man wendet sich erst mal an den Hausarzt/Kinderarzt. Entscheidend ist eine sorgfältige Anamnese: Stuhlgewohnheiten, Miktionsverhalten (Entleerung der Harnblase) tagsüber sowie die Trink- und Urinmenge werden geprüft. Eine Urinuntersuchung ist sinnvoll, um eine Harnwegsinfektion auszuschliessen und die ausreichende Konzentrationsfähigkeit der Nieren zu belegen. Im Fall werden weitere Untersuchungen zur Abklärung durchgeführt, z.B. Ultraschall, Uroflow (Harnflussmessung) oder Urodynamik (Untersuchung der ableitenden Harnwege).
Meistens setzen Kinderärzte und Urologen in erster Linie auf Verhaltenstherapie durch Alarmsysteme. In zahlreichen Studien haben sich elektronische Weckapparate als die Methode erwiesen, die am besten hilft. Klingelhosen oder Klingelmatten registrieren die ersten Urintropfen und lösen wie ein Wecker einen Alarm aus, der das Kind aufwecken und zur Toilette schicken soll. Diese Systeme erfordern Motivation und Geduld, lohnen sich aber, wenn das Kind unter dem Bettnässen leidet. Denn es kann durchaus einige Monate dauern, bis sich ein dauerhafter Erfolg einstellt. Zumindest in den ersten Wochen ist der volle Einsatz der Eltern gefragt: Sie müssen sich bei jedem Alarm vergewissern, dass das Kind wirklich wach ist und zur Toilette geht. Sonst setzt der Lerneffekt nicht ein.
Ihre Kinderärztin wird Sie detailliert informieren und über die Kostenerstattung beraten. Die Kosten für die Anschaffung bzw. Miete bestimmter Weckapparate werden in Deutschland und der Schweiz (teilweise) von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen.
Darüber gehen die Meinungen auseinander. Gemäss internationaler Therapieleitlinien wird u.a. dann eine medikamentöse Behandlung in Betracht gezogen, wenn das Hormon ADH (antidiuretisches Hormon) ungenügend ausgeschüttet wird. Das Hormon kann synthetisch hergestellt werden und wird in einer modifizierten Variante unter den Bezeichnungen Desmopressin, Minirin, Nocutil u.a. in der Medizin gebraucht. Bei Bettnässen wird das Medikament seit 2008 bevorzugt in Form von (Schmelz-)Tabletten verordnet.
Nicht bei allen, doch bei circa 60 Prozent der Bettnässer wirkt das rezeptpflichtige Medikament zuverlässig und schnell; das Kind darf allerdings nach der abendlichen Tabletteneinnahme bis zum nächsten Morgen nichts mehr trinken. Ansonsten könnten Nebenwirkungen auftreten, von Kopfschmerzen und Übelkeit bis zu Krampfanfällen. Die «Hormonersatztherapie» sollte nicht bei Kindern unter sieben Jahren und nicht länger als drei Monate angewendet werden.
Die Tabletten haben noch einen weiteren Nachteil: Werden sie abgesetzt, kommt auch das Bettnässen wieder – es sei denn, die nötigen Reifungsschritte wurden unterdessen vollzogen. Einige Kinderärzte halten auch eine vorübergehende Einnahme für nützlich, etwa im Ferienlager, beim Pfadfinder-Wochenende oder anlässlich von Übernachtungen bei Verwandten und Schulfreunden.
Die Naturheilkunde kann Kinder auf ihrem Weg unterstützen. Birte Wimmer, diplomierte Naturheilpraktikerin und Homöopathin mit Praxis in Unterägeri, bevorzugt vor allem Dilutionen, also flüssigen Darreichungsformen homöopathischer Mittel. „Wichtig ist, dass eine homöopathische Behandlung bei Bettnässen immer ursächlich erfolgen und eine Konstitutionsbehandlung, also ganzheitliche Behandlung, beinhalten muss. Üblicherweise dauert das mehrere Monate und gehört in die Hände eines erfahrenen klassischen Homöopathen“, sagt sie.
Zum Einsatz kommt beispielsweise der Ackerschachtelhalm (Equisetum) bei organischen Ursachen. Als homöopathische Arznei wirkt Equisetum regulierend auf die Harnorgane. Das Mittel Chloralum hydratum kann besonders Kindern helfen, die sehr tief schlafen und nicht merken, dass sie einnässen. Carcinosinum kann eingesetzt werden, wenn Kinder nach einer Impfung einzunässen beginnen. Als begleitendes phytotherapeutisches Mittel hat sich Johanniskrautöl bewährt. Damit reibt man vor dem Zubettgehen den Unterbauch, die Oberschenkel und Leistengegend ein. Das Johanniskrautöl wirkt nervenstärkend und durchblutungsfördernd. Achtung: Das Öl färbt stark ab, am besten einen alten Pyjama anziehen!
Darüber hinaus sind Kürbissamen sind eine gute Möglichkeit, die Harnorgane der Kinder zu stärken. «Das Kind sollte 10 Gramm Kürbiskerne über den Tag verteilt essen», so Homöopathin Birte Wimmer. Ausserdem kann man einen Arzneitee einsetzen: 20 Gramm Johanniskraut, 20 Gramm Goldrutenkraut, 10 Gramm Melissenblätter mischen. Zwei Teelöffel auf eine Tasse heisses Wasser geben, zehn Minuten bedeckt ziehen lassen. Das Kind sollte zwei bis drei Tassen davon täglich trinken, idealerweise nicht mehr nach dem Abendessen. Der Tee wirkt beruhigend und stärkt die Harnorgane.
Einen speziellen Ansatz wählt Rita Messmer. Sie hat «hello nappy» initiiert, auch bekannt als die «Windelfrei»-Methode. Die Schweizer Entwicklungspädagogin, Craniosacral-Therapeutin und Buchautorin beschäftigt sich seit über 35 Jahren mit der frühen Reinlichkeit von Säuglingen. «Vom ersten Lebenstag an scheidet jeder Säugling da aus, wo er abgehalten wird. Der Grund sind unsere biologischen Anlagen. Sie steuern anfänglich alles, was ein Säugling tut, reflexartig. Diese Anlagen müssen in der Folge richtig stimuliert werden, damit sie sich entfalten. Wir kennen das vom Stillen: Bekommt ein Säugling nach der Geburt erst die Flasche, wird er nach kurzer Zeit nicht mehr an der Brust trinken. Dafür ist neurologisch eine sensible Phase in den ersten drei Lebensmonaten verantwortlich. Danach verschwindet dieser Reflex, wie andere Reflexe auch. Jetzt wird die Steuerung immer mehr von der Mutter übernommen.» Die Mutter kenne den Rhythmus ihres Babys und helfe ihm beim Ausscheiden, z.B. nach jedem Schlafen oder während des Stillens. Sie achte auf die Signale ihres Babys zum Ausscheiden: Unruhe, leichtes Weinen, Blickkontakt zur Mutter, so Messmer. Werden Babys getragen, stossen sie sich ab. Dieses Verhalten lässt sich ebenso bei Affenbabys beobachten.
Grundsätzlich ist die Pädagogin nicht gegen Windeln, bevorzugt aber Stoff- statt industrielle Windeln, da sie ein Nässe-Signal zulassen. Ihrer Erfahrung nach landet das grosse Geschäft abgehaltener Babys schon nach kurzer Zeit zuverlässig am „Örtchen“. Da Babys noch häufig urinieren, sind Stoffwindeln für das kleine Geschäft durchaus sinnvoll. Somit entfalle möglicher Stress.
Rita Messmer, selbst dreifache Mutter und Oma einer Enkelin, beruft sich auch auf eine chinesische Studie von 2019 an 19 500 Kindern. China gehört zu den Schwellenländern, in denen die Abhaltepraxis der Babys ab Geburt traditionell verankert ist. Seit dort vor rund 15 Jahren Wegwerfwindeln Einzug hielten, stellten chinesische Ärzte daraufhin plötzliche Ausscheidungsprobleme bei Kindern fest. Laut dieser Studie steige die Wahrscheinlichkeit, zum Bettnässer zu werden mit jedem zunehmenden Monat, wenn ein Baby bis zum Alter von sechs Monaten nicht abgehalten werde.
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Für Fünf- bis Sechsjährige, die mehrmals in der Woche Pipi ins Bett machen, ist es wahrscheinlich die beste Lösung – ehe der elterliche Frust und die Wäscheberge zu stark anwachsen.
Schwieriger wird es bei grösseren Kindern, die Windeln als demütigend empfinden. Hier hat die Industrie Zwischenlösungen geschaffen: Saugfähige Unterhosen für die Nacht, die (fast) wie normale Unterwäsche aussehen. Es gibt sie für Mädchen und Jungen in verschiedenen Grössen und Mustern in den Altersstufen von 4 bis 12 bzw. 15 Jahren. Zum Tragen dieser Hilfsmittel sollte man die Kinder allerdings nicht zwingen.
Eltern sollten zudem ihrem Kind helfen, den richtigen Zeitpunkt zum Trockenwerden nicht zu verpassen. Der Schweizer Kinderarzt und Sachbuchautor Prof. Dr. med. Remo Largo meint, wenn es für das Kind erst einmal normal geworden sei, bewusst in die Windeln zu machen, sei es ausserordentlich mühsam, dieses Verhalten wieder umzutrainieren.
Nicht zu unterschätzen sind falsche Gewohnheiten beim Trinken. Viele (Schul-)Kinder nehmen die meiste Flüssigkeit erst spätnachmittags und abends zu sich. Dann ist die Blase nachts voll, und das Malheur passiert umso leichter.Trinken Kinder tagsüber zu wenig, fehlt ein wichtiger Reiz, die dem Alter entsprechende Aufnahmefähigkeit der Blase anzuregen.
Verbieten sollte man das Trinken nie – aber darauf achten, dass der Durst vor allem tagsüber gestillt wird. Abends sollte auf kohlensäure- und koffeinhaltige Getränke (Cola) verzichtet werden. Süsse Getränke verführen dazu, über den Durst zu trinken. Hat das Kind wirklich Durst, tut es auch ein Glas (stilles) Wasser.