Forscher untersuchen das auch medizinisch interessante Potenzial der Wasserpflanze.
Autorin: Gisela Dürselen, 06/21
Angesichts Klimakrise und Bevölkerungswachstum suchen Wissenschaftler nach Lebensmitteln, welche die Menschheit in Zukunft ernähren können. Eine vielversprechende Kandidatin ist die Wasserlinse: Die Pflanze besitzt viele wertvolle Inhaltsstoffe, vermehrt sich rasant und kann umweltfreundlich kultiviert werden.
Wegen ihres hohen Proteingehalts wurden Forscher bereits vor Jahrzehnten auf die Wasserlinse aufmerksam. Denn einige der essenziellen Aminosäuren als Bausteine von Proteinen sind in Wasserlinsen mehr als in anderen Pflanzen vorhanden – und sie liegen in einer Zusammensetzung vor, die ideal für den menschlichen Organismus ist.
In der Schweiz interessierte sich der 2013 verstorbene ETH-Professor Elias Landolt schon Mitte des 20. Jahrhunderts für die Familie der Wasserlinsengewächse (Lemnaceae). Aufgrund seiner Forschungen galt und gilt er als die Schweizer Koryphäe auf diesem Gebiet; heute ist nach ihm die Landolt-Duckweed-Sammlung in Zürich benannt. Eine gebräuchliche Übersetzung von Duckweed ist Entengrütze – der Name, mit dem Wasserlinsen auch hierzulande im Volksmund bedacht werden. Die Zürcher Sammlung beherbergt Pflanzen aller 37 weltweit bekannten Wasserlinsenarten und hat zum Ziel, einen Beitrag zur weiteren Erforschung dieser Pflanzenfamilie und deren Anwendungen zu leisten.
Auch in Deutschland treiben zwei Experten die Wasserlinsenforschung schon einige Jahrzehnte lang voran: der Pflanzenphysiologe Dr. Klaus Appenroth und der Ernährungswissenschaftler Dr. Gerhard Jahreis. Beide lehrten an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, sind inzwischen pensioniert, betreiben ihre Forschungen jedoch weiter. In einer 2017 in dem Fachblatt Food Chemistry veröffentlichten Studie untersuchten die beiden gemeinsam mit einem interdisziplinären Team sechs verschiedene Arten der Lemnaceenfamilie. Wie die Analyse ergab, variierten zwar die Inhaltsstoffe je nach Wasserlinsenart und den Bedingungen, unter denen sie wuchsen. Der mittlere Proteingehalt war dennoch beachtlich: Er lag bei 30 Prozent der Trockenmasse und war damit vergleichbar mit bekannten Proteinpflanzen wie Lupine, Raps und Erbsen. Alle Pflanzenproben hatten ferner einen geringen Fettanteil, verfügten dafür über jene für den menschlichen Stoffwechsel so wichtigen, mehrfach ungesättigten Omega-3-Fettsäuren wie Stearidon- und alpha-Linolensäure.
In einer Folgestudie untersuchte ein weiteres Forscherteam, dem wiederum Dr. Jahreis angehörte, Wasserlinsen der Gattung Wolffia. Diese besitzt ein besonders günstiges Profil an essenziellen Aminosäuren und steht in mehreren Ländern Südostasiens seit Jahrhunderten auf dem Speiseplan. In den Wolffia-Wasserlinsen wurden Carotinoide und Vitamin E,
ferner sekundäre Pflanzenstoffe wie Phytosterine nachgewiesen, die sich cholesterinspiegelsenkend auswirken. Auch über einen hohen Gehalt an Mineralien wie Kalium und Eisen und Spurenelemente wie Zink und Magnesium verfügten die untersuchten Pflänzchen.
Ob Wasserlinsen der Art Wolffia globosa sich gut als Proteinquelle für Diabetiker eignen, weil sie dafür sorgen, dass nach einer Mahlzeit der Blutzuckerspiegel weniger ansteigt, muss noch weiter untersucht werden. Israelische Wissenschaftler der Ben-Gurion-Universität haben in einer 2019 erschienenen Studie diesbezüglich Hinweise gefunden. Da die Stichprobe der Studie aber zu klein war, um wirklich aussagekräftig zu sein, braucht es noch weitere Belege für diese These. Gesichert ist, dass die essbare Lemna minor, die in gemässigten Breiten wachsende Kleine Wasserlinse, schon im Altertum bekannt war und zum Beispiel zur Behandlung von Entzündungen empfohlen wurde.
Vor allem für Veganer interessant ist eine Entdeckung, der gerade eine weitere Studie gewidmet ist: Nach bisherigen Erkenntnissen können Wasserlinsen eine Symbiose mit Bakterien eingehen, die das Vitamin B12 herstellen, sagt Dr. Jahreis. Es handle sich dabei nicht wie bei anderen Pflanzen um das Pseudovitamin, sondern das echte, das der menschliche Körper als essenziellen Nährstoff benötigt. Dieses Vitamin ist besonders wichtig für Ältere, bei denen die Absorption dieses Vitamins weniger effektiv abläuft. Die Studie hat zum Ziel, die Bakterien zu identifizieren, die für die Wasserlinsen als Symbionten infrage kommen, so Dr. Jahreis. Mit diesem Wissen könnte man Wasserlinsen in Kultur damit «impfen» und hätte eine pflanzliche Quelle für Vitamin B12.
Da Wasserlinsen ausserdem alle möglichen Stoffe aus dem Wasser aufnehmen, könnte man dieses gezielt anreichern, zum Beispiel mit Zink. Die andere Seite dieser Medaille jedoch ist, dass die nur wenige Millimeter grossen Pflanzen auch Schadstoffe wie Schwermetalle aus dem Wasser absorbieren, weshalb Dr. Jahreis zufolge bei der Kultur für Lebensmittel die Nährlösung unbedingt sauber und schadstofffrei gehalten werden muss. Wegen der filternden Eigenschaften könnten Wasserlinsen auch zur Abwasserreinigung genutzt werden; weitere denkbare Anwendungen sind der Einsatz von Wasserlinsen als Biodünger und zur Gewinnung von Bioenergie.
Als Futter für Geflügel, Schweine und Fische, aber auch für die menschliche Ernährung, werden Wasserlinsen in Südostasien schon lange genutzt. Allerdings wurden die Pflanzen dort traditionell nicht in Kulturen gezüchtet, sondern aus natürlichen Weihern abgeschöpft und auf lokalen Märkten verkauft. Die Idee, Wasserlinsen im grossen Stil zu züchten, entstand erst in den 1970er-Jahren. Daraufhin gab es weltweit mehrere Versuche zum Anbau, die sich aber nicht durchsetzen konnten. Zu den grossen Herausforderungen gehören neben der bisher noch ungenügenden Forschung zu Schädlingen auch die Organisation der Ernte und der darauffolgenden Verarbeitung: Im Unterschied zu anderen Kulturen werden Wasserlinsen kontinuierlich von der Wasseroberfläche abgeschöpft – das heisst, dass sie auch permanent in kleiner Menge verarbeitet werden müssen, sagt der Biologe Dr. Timo Stadtlander.
Dr. Stadtlander arbeitet derzeit am Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) an einem Projekt, das in Kooperation mit der Züricher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) der Frage nachgeht, wie eine heimische Produktion von Wasserlinsen für die Futterindustrie in der Schweiz technisch möglich und auch konkurrenzfähig zu ausländischen Proteinquellen wie Soja sein kann. Technisch sei die Produktion kein Problem, sagt Dr. Stadtlander. Betriebswirtschaftlich müsse einkalkuliert werden, dass Wasserlinsen hierzulande nur während der Vegetationsperiode wachsen. Darum gebe es zwei Lösungsansätze: die Outdoor- und die Indoor-Kultivierung. Der Nachteil der Indoor-Produktion sei der relativ hohe Energieaufwand für Wärme und Licht. Wirtschaftlich und ökologisch denkbar sei eine Produktion im Gewächshaus, bei der primär die Wärme eine Rolle spielt, das Licht hingegen weniger – und Abwärme als Energiequelle genutzt werden könnte. Die Outdoor-Produktion wird derzeit in einem neu am FiBL beginnenden, mehrjährigen Projekt über mindestens vier Vegetationsperioden getestet.
Als Lebensmittel für den menschlichen Verzehr werden Wasserlinsen in westlichen Ländern gerade erst entdeckt. In den USA verfügt die Firma Parabel schon über eine Lizenz zur Verarbeitung für die menschliche Ernährung. In der Schweiz untersuchten Wissenschaftler im Rahmen des Start-up Lemna Pro, wie Wasserlinsen der Art Wolffia als Lebensmittel in Europa marktfähig werden könnten. Das Projekt wurde mit einem Pioneer Fellowship von der ETH Foundation gefördert; die Idee hatte Cyrill Hess, der schon als Student der Umweltwissenschaften zu einer nachhaltigen Ernährung beitragen wollte. Die Lebensmittelindustrie habe einen hohen Bedarf an Proteinen, sagt Hess. So sei es vorstellbar, ein Protein-Isolat aus Wasserlinsen zu produzieren, das verschiedenen Nahrungsmitteln zugefügt werden könne.
Von der Start-up-Idee ist Cyrill Hess inzwischen zu Non Profit übergegangen: Er ist jetzt wissenschaftlicher Berater der Schweizer «Sustainable Protein Foundation», die sich zum Ziel gesetzt hat, zunächst die Rahmenbedingungen für die Einführung eines neuen Lebensmittels auf Wasserlinsen-Basis in Europa zu schaffen. Denn eine der grossen Hürden ist die Novel-Food-Verordnung der EU: Der Prozess der Zulassung eines neuen Lebensmittels durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) sei langwierig und kostspielig, sagt Hess. Das habe unter anderem die Zulassung des Süssungsmittels Stevia gezeigt. Für Start-ups sei dies eine beachtliche Hürde.
Ein paar Schritte weiter ist das holländische Unternehmen Rubisco Foods. Die Firma hat sich ein technisches Verfahren patentieren lassen, mit dem es Proteinkonzentrate aus Wasserlinsen für die menschliche Ernährung herstellen kann. Man kooperiert mit Landwirten aus der Region, welche die Wasserlinsen im Versuchsanbau in Gewächshäusern produzieren. Der Antrag bei der EFSA ist gestellt; die Zulassung wird für dieses Jahr erwartet.
Nach Dr. Jahreis von der Universität Jena schmecken frische Wasserlinsen ähnlich wie grüner Salat. In Südostasien werden sie traditionell in Suppen, Currygerichten und Omeletts gegessen. Dank ihres neutralen Geschmacks kann sich Dr. Jahreis die verarbeiteten Isolate aber genauso in fruchtigen Smoothies wie herzhaften Protein-Riegeln vorstellen – oder auch frisch, zum Beispiel zum Garnieren von Speisen in der gehobenen Gastronomie.